Ray Bradbury – „Die goldenen Äpfel der Sonne“

Freitag, 15. März 2024

(Diogenes, 242 S., Tb.) 
Seit Ray Bradbury (1920-2012) im Jahr 1938 in der Zeitschrift Imagination! seine erste Geschichte veröffentlichte, folgten viele weitere Kurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften, bis 1947 sein erstes Buch erschien. Mit dem Erfolg der sozialkritischen „Mars-Chroniken“ (1950), mit denen Bradbury die Kolonialisierung des Planeten Mars und die Ängste der Amerikaner in den 1950er Jahren thematisierte, wuchs auch das Interesse an seinen Erzählungen. 
Eine der ersten Sammlungen veröffentlichte Doubleday 1953 mit „The Golden Apples of the Sun“, die 22 zwischen 1945 und 1953 entstandene Science-Fiction-Geschichten enthielt, die 1970 erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Geh‘ nicht zu Fuß durch stille Straßen“ erschienen und 1981 von Diogenes unter Verwendung des Originaltitels neu veröffentlicht worden ist. 
Die Geschichte „Der Fußgänger“ ist im Jahr 2053 angesiedelt und spielt in einer Dreimillionenstadt, die nur noch von einem Polizeiauto patrouilliert wird. Der Wagen fährt durch die verlassenen Straßen und gabelt mit Leonard Mead einen einsamen Mann auf, dessen Lieblingsbeschäftigung das Hinauswandern in die Stille ist. Da Mead über keinen Beruf verfügt, auch nicht über eine Frau, die ihm ein Alibi verschaffen könnte, soll er ins Psychiatrische Forschungszentrum für regressive Tendenzen gebracht werden… 
„Die Aprilhexe“ ist ein siebzehnjähriges Mädchen namens Cecy, die einer wundersamen Familie mit Zauberkräften entstammt und die Fähigkeit besitzt, ihren Körper zu verlassen und ihren Geist auf jedes erdenkliche Abenteuer zu entsenden. Sie schlüpft in den Geist von Ann Leary und lässt sie sich in den Jungen Tom verlieben, doch Tom bemerkt die Veränderung, die Ann durchmacht, und verliert das Interesse an ihr, was Cecy verzweifeln lässt. 
„Die Wildnis“ erzählt von den beiden Schwestern Janice und Leonora, die sich im Jahr 2003 darauf vorbereiten, die sechzig Millionen Meilen von Independence, Missouri, zum Mars zurückzulegen. Während Leonora voller Furcht ist, freut sich Janice darauf, endlich ihren Will wiederzusehen. Mit einem Anruf will sie ihren Liebsten über ihren Plan informieren, doch die Verbindung bricht schnell ab… 
In „Die Früchte am Grund der Schale“ versucht William Acton den Mord an Donald Huxley zu vertuschen, indem er systematisch alle Gegenstände und Flächen in Huxleys Haus zu säubern versucht. Währenddessen rekapituliert er, wie es zu diesem Mord gekommen ist… 
In „Die Flugmaschine“ wird im Jahr 400 Kaiser Yuan von einem Diener darüber informiert, dass er über der Chinesischen Mauer einen fliegenden Menschen gesehen habe. Als er den Mann vom Himmel herunterrufen lässt, will ihn der Kaiser vom Henker töten lassen… 
Die beste Geschichte präsentiert uns Bradbury aber mit „Das Nebelhorn“. An einem Novemberabend erzählt McDunn von dem Nebelhorn, das sie am Meeresufer hören, davon, wie seit drei Jahren einmal im Jahr zu ebendieser Zeit ein Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres auftaucht und das Nebelhorn anschreit. 
„Das Nebelhorn blies. Das Ungeheuer antwortete. Ich begriff das alles, ich kannte das alles – die Million Jahre einsamen Wartens, dass jemand wiederkäme, der nie wiederkam. Die Million Jahre der Abgeschiedenheit am Meeresgrund, der Wahnsinn Zeit dort unten, während die Reptilien-Vögel von den Himmeln verschwanden, die Sümpfe auf den Kontinenten austrockneten, die Faultiere und Säbelzahntiger ihre Zeit erlebten und in Teergruben sanken und die Menschen wie weiße Ameisen über die Hügel liefen. Das Nebelhorn blies.“ (S. 17) 
Mit „Das Nebelhorn“, das noch im Erscheinungsjahr 1953 unter dem Titel „Panik in New York“ verfilmt worden ist, hat Ray Bradbury eine seiner poetischsten Geschichten geschrieben und damit auch seiner Faszination für die ausgestorbenen Dinosaurier zum Ausdruck gebracht, die er immer wieder mal in seinen Geschichten thematisierte. 
Neben der berührenden Vorstellung, wie ein Millionen von Jahren altes Meeresungeheuer mit einem Nebelhorn kommuniziert, ist es vor allem die magische, alle Vorstellungskraft befeuernde Sprache, die Bradbury wie kaum ein Zweiter beherrscht. Die übrigen Geschichten kommen allerdings selten an diese Qualität von „Das Nebelhorn“ heran. Oft sind es nur kurze Gedankenspielereien, fantastisch oder märchenhaft anmutende Episoden, die auch mal ohne richtige Pointe beendet werden, als hätte Bradbury am Ende die Lust verloren, die Geschichte weiterzuspinnen.


Stephan Schäfer – „25 letzte Sommer“

Donnerstag, 14. März 2024

(Ullstein, 176 S., HC) 
Work-Life-Balance und Achtsamkeit sind seit Jahren in unserer Gesellschaft in aller Munde, unzählige Ratgeber und Artikel (nicht nur) in Frauen-Zeitschriften und darauf abgestimmte Unternehmenskulturen machen die modernen Arbeitnehmer darauf aufmerksam, dass es um mehr im Leben geht als um Karriere und möglichst viel Geld zu verdienen. Werke wie Khalil Gibrans „Der Prophet“ und Paulo Coelhos „Der Alchimist“ fanden sich auf einmal auch in sonst eher spärlich bestückten heimischen Bücherregalen. 
Mit seinem gerade mal 176 Seiten kurzen Roman „25 letzte Sommer“ legt der 1974 in Witten geborene Stephan Schäfer ein Debüt vor, das sicher gern als deutschsprachiges Pendant zu diesen Klassikern angesehen werden möchte, zumindest aber dessen Quintessenz widerspiegelt. 
Der namenlose Ich-Erzähler entscheidet sich am Samstagmorgen für morgendliches Jogging auf dem Land, wo er sich oft am Wochenende von den Strapazen des Alltags in der Stadt oder auf Reisen zu erholen versucht. So richtig will ihm das nie gelingen. Immer wieder denkt er an Mails, die noch zu schreiben, Rückrufe, die zu erledigen und andere Dinge seiner endlos erscheinenden To-Do-Liste abzuhaken sind. Ihm ist durchaus bewusst, dass er irgendwann im Leben die falsche Abzweigung genommen, den inneren Kompass, seine Freiheit und Fröhlichkeit verloren hat, stattdessen Arbeit, Anerkennung und Geldverdienen zum Mittelpunkt seines Lebens geworden sind. An diesem Morgen folgt er dem Trampelpfad hinunter zum See, wo er Karl kennenlernt, einen weltoffenen, kommunikativen Kartoffelbauer, der ihn erst zum Baden im See animiert, dann zu sich nach Hause auf eine Tasse Kaffee einlädt. 
Und so lernen sich an dem Wochenende zwei ganz unterschiedliche Männer kennen, schütten sich einander das Herz aus, sprechen über ihre Familien, aufgegebene und teilweise wiederentdeckte Hobbys, über einschneidende Erlebnisse, letztlich über den Sinn des Lebens. Als Karl vor Jahren schon mit der Diagnose einer nicht heilbaren Krankheit konfrontiert wurde, entschied er sich, jeden Augenblick seines Lebens zu genießen, keine Kompromisse mehr einzugehen, wieder zu malen und Rituale wie den „faulen Sonntag“ oder das Nachmittagsschläfchen zu begehen. Das bringt auch den sonst so geschäftigen Ich-Erzähler ins Grübeln. 
„Vor mir lagen noch 25 Sommer, wie Karl es am See so bildhaft auf den Punkt gebracht hatte. Irgendwann ist immer jetzt. Es galt, keine Zeit mehr zu verlieren, die vergangenen beiden Tage sollten mir Zuversicht geben. Mut hilft immer, Angst nie. Das hatte Karl mir gezeigt. Warum sollte mir das nicht auch gelingen?“
Stephan Schäfer versucht es seinem Publikum einfach zu machen. Wer es trotz unzähliger Ratgeber noch nicht geschafft haben sollte, mit mehr Achtsamkeit sein Leben zu gestalten, auf sein Herz zu hören, sich um die Dinge zu kümmern, die einem wirklich wichtig sind, der wird vielleicht durch diese sehr einfach gestrickte Geschichte auf den rechten Pfad gelenkt. 
Offenbar gehören nur wenige Dinge wie Mut, Offenheit und Zuversicht dazu, sich auf andere Menschen und Dinge wirklich einzulassen, um sich vom oft erdrückenden Ballast des Alltags lösen zu können und sich auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren. Der Autor rennt mit seiner lebensbejahenden Geschichte bei vielen Lesern und Leserinnen sicher offene Türen ein, allerdings ist die Story auch so überraschungsarm und ohne jede Originalität, dass nur der gutgemeinte Ansatz und die Schlichtheit der Erzählung überzeugt. Doch wirklich berührt hat mich „25 letzte Sommer“ nicht. 

John Grisham – „Die Entführung“

Dienstag, 12. März 2024

(Heyne, 384 S., HC) 
Mit seinem zweiten, 1991 veröffentlichten Roman „Die Firma“ gelang dem früheren Anwalt John Grisham gleich der große Coup. Er verkaufte die Filmrechte für 600.000 Dollar an Paramount, die mit der Verfilmung durch Sydney Pollack mit Tom Cruise in der Hauptrolle des jungen Anwalts Mitch McDeere nicht nur einen Blockbuster ins Kino brachten, sondern auch die Karrieren von Tom Cruise und John Grisham beflügelten. 
Nach über dreißig Jahren legt Grisham nun mit „Die Entführung“ eine vor allem von seinen treuesten Fans lang erwartete Fortsetzung vor – die allerdings über weite Strecken enttäuscht. 
Vor fünfzehn Jahren konnte Mitch McDeere als einer der besten Absolventen der juristischen Fakultät von Harvard unter den besten Job-Angeboten wählen. Entschieden hat er sich für die relativ kleine Kanzlei Bendini, Lambert & Locke in Memphis, die zwar nicht das sagenhafte Gehalt prominenter Großkanzleien zahlten, aber durch ihre familiäre Atmosphäre und großzügige Sozialleistungen auch Mitchs Frau Abby überzeugen konnten. Doch aus dem Traum wurde damals ein lebensbedrohender Alptraum, als Mitch dahinterkam, dass die Kanzlei einer Mafia-Familie in Chicago gehörte, die bereits vom FBI überwacht wurde. Mitch gelang es damals, nicht nur mit heiler Haut aus der Affäre herauszukommen, sondern auch noch zehn Millionen Dollar mitzunehmen, an denen das FBI offenbar kein Interesse hatte. 
Nachdem die McDeeres einige Zeit in Europa, vor allem in Italien, verbracht haben und Eltern von den beiden Zwillingen Carter und Clark geworden sind, hat Mitch Karriere bei Scully & Pershing gemacht, der größten Anwaltskanzlei der Welt mit Hauptsitz in New York und über dreißig Standorten auf allen Kontinenten. Mitch, der mittlerweile Partner bei S & P ist, soll das türkische Bauunternehmen Lannak vertreten, die für den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi eine eine Milliarde Dollar teure Brücke bauen sollten, doch weigert sich Libyen, die ausstehenden vierhundert Millionen Dollar zu zahlen, die nach Beendigung des Projekts noch offen sind. 
Um dieses Geld einzutreiben, reist Mitch mit Giovanna Sandroni nach Libyen. Giovanna ist die ebenfalls als erfolgreiche Anwältin arbeitende Tochter des schwer an Krebs erkrankten Luca Sandroni, der die römische Niederlassung von S & P leitet. Als sie entführt und von Scully & Pershing ein Lösegeld von 100 Millionen Dollar gefordert wird, entwickelt sich ein Wettlauf gegen die Zeit, um Leben und Tod… 
Mitch McDeere ist also – wie von so vielen Fans sehnsüchtig erhofft – zurück. Die dreißig Jahre, die seit seinem rasanten Aufstieg und Fall bei der gut als Mafia-Geldwäscherei getarnten Kanzlei in Memphis, vergangen sind, hat Grisham geschickterweise durch den Kniff halbiert, indem er die Handlung noch zu Lebzeiten des 2011 getöteten libyschen Staatschefs Gaddafi vor dem realen Hintergrund des wahnwitzigen „Great Gaddafi Bridge“-Projekts ansiedelt. Natürlich werden wir erst einmal ausführlich über den weiteren Werdegang der McDeeres informiert, über Abbys Ambitionen als Herausgeberin von Kochbüchern bei einem kleinen Verlag ebenso wie natürlich über die erstaunlich unproblematische Karriere ihres Mannes bei der weltgrößten Kanzlei. 
Doch wirklich nahe kommen wir den McDeeres nicht. Das liegt nicht nur an der skizzenhaften Rekapitulation der Zeit zwischen Bendini, Lambert & Locke und Scully & Pershing, sondern vor allem an Grishams fast schon klinisch nüchternen Schreibstil, der jede emotionale Verbundenheit zu den Figuren unterbindet. 
Dazu liegt Grishams Fokus ganz auf den handlungsgetriebenen Plot gerichtet. Wie Mitch von New York nach Rom und von dort aus nach Istanbul, wieder zurück nach Rom, nach London und New York fliegt, lässt sich logisch kaum begründen und lässt auch die fein austarierten juristischen Manöver vermissen, die gerade die frühen Grisham-Romane zu Eckpfeilern des Justizthriller-Genres werden ließen. 
In „Die Entführung“ wird nur hektisch versucht, die hundert Millionen Dollar Lösegeld aufzutreiben und die Identität der Entführer aufzudecken, packend ist dieser wenig leidenschaftlich ausgefochtene Kampf nicht. Was Grisham zumindest versucht hat, an Spannung aufzubauen, löst der Autor zum Ende hin recht unspektakulär und allzu vorhersehbar auf. Für diesen Plot hätte man die McDeeres nicht wieder aus der Mottenkiste holen müssen – aber dann hätte das Buch ein entscheidendes Verkaufsargument weniger… 

Ray Bradbury – „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“

Mittwoch, 6. März 2024

(Diogenes, 344 S., Tb.) 
Mit seinen verfilmten Werken „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und vor allem „Fahrenheit 451“ machte sich der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) unsterblich und hinterließ seine Spuren in der Kriminalliteratur ebenso wie im Horror-Genre, am eindringlichsten aber sicher im weiten Raum der Phantastik und Science-Fiction. Neben seinen bekannten Romanen erwiesen sich gerade Bradburys Kurzgeschichten als reicher Fundus an originellen Ideen und überbordender Sprachkunst. 1988 erschien mit „The Toynbee Convector“ eine späte Sammlung, die in der deutschen Ausgabe von Diogenes nach der besten Geschichte des Buches betitelt wurde: Vorhang auf für „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“ und 22 weitere Geschichten. 
In der eröffnenden Titelgeschichte der Originalsammlung, „Der Toynbee-Konvektor“ bittet der Reporter Roger Shumway den einzigen Zeitreisenden Craig Bennett Stiles zum exklusiven Interview und erlebt eine erstaunliche Überraschung. 
In der leicht gruseligen Geschichte „Die Falltür“ entdeckt Clara Peck nach zehn Jahren, die sie in dem alten Haus schon lebt, plötzlich eine Falltür, die zu einem unbekannten Dachboden führt – und zu unheimlichen Geräuschen, die sie erst Mäusen, dann Ratten zuordnet, bis sie selbst nachsehen muss, was sie allmählich in den Wahnsinn zu treiben droht. Im „Orientexpress Nord“ wird die alte Miss Minerva Halliday auf der Fahrt von Wien über Paris nach Calais auf einen bleichen Mann aufmerksam, der an einer furchtbaren Krankheit dahinzusiechen scheint. Als gelernte Krankenschwester erkennt sie sofort, an was der gebrechliche Mann leidet – an Menschen. Nach zweihundert Jahren, die er in einem Dorf bei Wien im Schutz von Bücherregalen vor den Atheisten lebte, sei er nun auf dem Weg nach England, wo die Menschen nicht zweifeln, sondern noch glauben, an Mythen und Grablegenden und Erscheinungen aus dem Reich des Unsichtbaren. Die Krankenschwester beschließt, den Mann auf seiner Reise zu begleiten… 
„Eine Nacht im Leben“ begleitet einen Mann auf seiner Reise nach New York, wo er über ein Stück für den Broadway sprechen soll, das nicht schreiben will, eigentlich aber davon träumt, in einer Frühlingsnacht mit einem Mädchen Hand in Hand irgendwohin spazieren zu gehen und in die Sterne zu sehen. 
„Es gibt keine Worte für so eine Nacht. Wir würden uns nicht einmal anschauen. Wir würden in der Ferne die Lichter der Stadt sehen und wissen, dass andere vor uns auf andere Hügel gestiegen sind, und dass es auf der Welt nichts Besseres gibt. Man könnte auch nichts Besseres machen; alle Häuser und Bräuche und Sicherheiten der Welt sind gar nichts gegen eine solche Nacht. Die Städte, die Menschen bei Nacht in den Zimmern der Häuser dieser Städte, die sind das eine; die Hügel und die freie Luft und die Sterne und das Händehalten, das ist das andere.“ (S. 64) 
In der Titelgeschichte der deutschen Ausgabe stehen die Comedy-Stars Stan Laurel und Oliver Hardy nur als Pate für eine außergewöhnliche Geschichte über einen Mann und eine Frau, die sich plötzlich auf einer Cocktail-Party begegnen und sich durch ihre gemeinsame Vorliebe für die beiden Komiker ebenfalls Laurel und Hardy nennen. 
Und so schafft Bradbury mit jeder weiteren Geschichte neue Welten, in der das Phantastische, das Ungeheuerliche, das Unvorstellbare einzieht und die Protagonisten zu kühnen Unterfangen und furchtlosen Träumen animieren. Nicht immer sind die Pointen überzeugend geglückt, und immer mal wieder gefällt sich Bradbury zu sehr in seiner grenzenlos erscheinenden Fabulierkunst, aber oft genug gelingt es ihm, bei seinem Publikum ein Tor in andere Welten zu öffnen, der Fantasie ihren freien Lauf zu lassen.


James Lee Burke – (Aaron Holland Broussard: 2) „Das verlorene Paradies“

Samstag, 2. März 2024

(Heyne, 320 S., Pb.) 
Mit seinen über zwanzig – teilweise auch verfilmten – Romanen um Detective Dave Robicheaux hat sich der 1936 in Houston, Texas, geborene James Lee Burke als vielleicht bedeutendste Stimme im Genre des Südstaaten-Krimis erhoben. Neben den seit 1987 veröffentlichten Romanen um den Vietnam-Veteranen und Alkoholiker sind es vor allem die Geschichten rund um die Holland-Familie, mit denen Burke sein Publikum in den Bann zu ziehen versteht. Nach den epischen Abenteuern, die Hackberry Holland („Zeit der Ernte“, „Regengötter“, „Glut und Asche“) und Billy Bob Holland („Dunkler Strom“, „Feuerregen“, „Die Glut des Zorns“) in den ihnen gewidmeten Buchreihen erlebten, feierte der Wanderarbeiter und Nachwuchsautor Aaron Holland Broussard hierzulande 2018 in „Dunkler Sommer“ seinen Einstand. Nun folgt mit „Das verlorene Paradies“ endlich die erste Fortsetzung.
Aaron Holland Broussard macht sich im Frühjahr 1962 als Trainhopper auf den Weg nach Denver, schlägt sich bis zur Heilsarmee durch und fährt mit dem Greyhound bis runter nach Trinidad, wo er auf der Farm von Jude Lowry und seiner Frau anheuert, um sich zusammen mit anderen Saisonarbeitern um das Vieh und den Ackerbau zu kümmern. Als er zusammen mit seinen beiden Kollegen Spud Caudill und Cotton Williams einen Pritschenwagen voller Tomaten zum Packhaus nach Trinidad fährt, werden die drei Freunde nach einem Restaurantbesuch von vier Männern zusammengeschlagen. Offenbar passte ihnen ein Aufkleber der Landarbeitergewerkschaft auf Mr. Lowrys Wagen nicht. 
Auf diese Weise lernt Broussard nicht nur den Detective Wade Benbow kennen, der es trotz Lungenkrebs nicht schafft, mit dem Rauchen aufzuhören, sondern auch die junge Kunststudentin und Kellnerin Jo Anne McDuffy. Doch die sich anbahnende Romanze wird von dem Umstand getrübt, dass Jo Annes schmieriger Dozent Henri Davos Anspruch auf die junge Frau erhebt und sich in ihrer Nachbarschaft ein paar unberechenbare, vollgedröhnte Junkies in einem Bus herumtreiben. Doch die meisten Probleme bereiten Broussard Rueben Vickers und vor allem sein Sohn Darrel, der die Prügelei in Trinidad angezettelt hatte. 
Derweil entwickelt Benbow ein besonderes Interesse an Broussard und zeigt ihm die Fotos von sechs Frauen und Mädchen, die in den letzten drei Jahren rund um Trinidad brutal ermordet worden sind, darunter die zwölfjährige Enkelin des Detectives. Während sich Broussard mit den teilweise unheimlich wirkenden Ereignissen rund um die Farm, die religiös verwirrten Junkies und die brutalen Vickers herumschlägt, wird er auch von beunruhigenden Träumen heimgesucht, die ihn zu seinem Einsatz in Korea 1953 und dem Verlust seines besten Freundes Saber Bledsoe zurückbringen. Detective Benbow hegt bereits einen Verdacht, wer für die Morde an den Mädchen und Frauen verantwortlich gewesen ist, doch fehlen ihm die Beweise. Als er Broussard ins Vertrauen zieht und mit ihm auf Mörderjagd geht, machen sie mehrere zutiefst verstörende Entdeckungen… 
„Am liebsten wäre ich zu den Sternen hinaufgestiegen und über die Berge davongesegelt. Ich wollte in die Welt meines Vaters entfliehen: ans Ufer des Bayou Teche, in Abende, die nach Magnolien, Jasmin, Trompetenblumen und Orangenblüten riechen. Einfach nur irgendwohin. Alles war besser als das Hier und Jetzt, denn ich hatte das Gefühl, gerade Zeuge der Zerstörung Edens geworden zu sein.“ 
Kaum einer versteht es, die Landschaft und das Lebensgefühl in den Südstaaten so bildhaft darzustellen wie James Lee Burke. Die Bilder und die Gerüche, die seine Sprache hervorrufen, entwickeln beim Lesen eine eigene Zauberkraft, dringen tief in die Vorstellungswelt des Publikums ein. Natürlich ist es einmal mehr unaussprechliche Gewalt, die die Geschichte von „Das verlorene Paradies“ prägt, auch wenn Liebe und Vertrauen möglich scheint. 
Die ungeklärten Morde an den sechs Mädchen und Frauen sind aber nur der Aufhänger für dieses Kriminaldrama, denn ebenso geht es um die Last unauslöschlicher Erinnerungen und schmerzhafter Verluste, um religiösen Wahn und die destruktive Kraft übermäßigen Drogenkonsums. Die psychischen Defekte und die unkontrollierte Gewalt, die hier zum Ausdruck kommt, ist nichts für schwache Nerven, folgt aber einer hypnotisierenden Dramaturgie, der man sich nicht entziehen kann. Allein die übernatürlichen Elemente, die über Traumbilder hinausgehen und die Handlung zum Finale hin ebenso maßgeblich wie unglaubwürdig beeinflussen, sorgen für ein paar Wermutstropfen in diesem leider viel zu kurzen Roman. 

Don Winslow – (Neal Carey: 5) – „Palm Desert“

Dienstag, 27. Februar 2024

(Suhrkamp, 195 S., Tb.) 
Eigentlich fühlte sich Neal Carey nach seinem letzten verpatzten Einsatz von der „Friends of the Family“, für die ihn sein zwergwüchsiger, einarmiger Ziehvater Joe Graham als Privatermittler für äußerst prominente Kunden ausgebildet und durch die er sein Studium finanziert hatte, aus dem Dienst entlassen. So kann er sich voll auf seinen Studienabschluss an der Columbia Universität konzentrieren und sich den Hochzeitsvorbereitungen widmen, die vor allem seine Freundin Karen umtreiben. 
Ihr gemeinsames Sexleben steht nun auch unter dem Vorzeichen von Karens deutlich artikulierten Kinderwunsch. Neal mag sich mit dem Thema noch nicht so recht anfreunden, was offensichtlich der Tatsache geschuldet ist, dass seine Mutter eine Prostituierte gewesen ist und er seinen Vater nie kennengelernt hat. Als Joe Neal darum bittet, den betagten Komiker Nathan „Natty Silver“ Silverstein aus einer Hotelsuite im sechs Stunden entfernten Las Vegas abzuholen und ihn nach Hause nach Palm Springs zu bringen, sagt Neal auch deshalb zu, um so für eine kurze Zeit den Diskussionen mit seiner ralligen Freundin um den Nachwuchs zu entgehen. 
Natürlich entpuppt sich der der Auftrag dann doch – Überraschung, Überraschung! – als sehr kompliziert. Denn schon an der Hotelbar verliert Neal seine Zielperson, als dieser mit Hope White eine alte Freundin wiedertrifft, mit der der alte geile Bock auf sein Zimmer verschwindet. So verpassen Neal und Natty erst den geplanten Flug um vier Uhr, bevor Neal am nächsten Tag frustriert feststellen muss, dass Natty nicht in den Flieger steigen will und sie den Weg nach Palm Springs mit einem Mietwagen zurücklegen müssen. Doch unterwegs werden Neal und Natty von Nattys ehemaligen Nachbarn Heinz und Sami entführt, was Neal vor Augen führt, dass hinter Nattys absichtlich verzögerter Heimkehr mehr stecken muss als angenommen… 
„Zunächst konzentrierte ich mich auf die Fakten. Heinz war unterwegs hierher, und er hatte eine Pistole. Wahrscheinlich glaubte er, wir seien bereits tot, und er würde nur Sami abholen. Also mussten wir uns verstecken, Sami als Köder vorschicken und dann schneller ziehen als Heinz. Oh Gott, hab ich wirklich gerade gesagt ,schneller ziehen‘? Ihn jedenfalls unschädlich machen, bevor er mitbekam, dass wir gar nicht tot waren. Eigentlich ganz einfach, oder? Was konnte da schon schiefgehen?“ (S. 163) 
Nach vielversprechendem Beginn mit den ersten beiden Romanen der Neal-Carey-Reihe, „London Undercover“ und „China Girl“, die Anfang der 1990er Jahre gleichzeitig den Beginn von Don Winslows Schriftsteller-Karriere markierten, ließ die fünf Bände umfassende Reihe nicht nur an Umfang merklich nach, sondern auch in qualitativer Hinsicht. 
Nach den 300 eher wirr überkonstruierten und krampfhaft auf humorvoll getrimmten Seiten von „A Long Walk Up the Water Slide“ bilden die 200 Seiten von „Palm Desert“ den Abschluss der Reihe um den freiberuflichen Privatermittler, der seinen vermeintlich kinderleichten Aufträgen nie gewachsen ist. 
Don Winslow, der sich in der Folgezeit mit harten Thrillern wie „Zeit des Zorns“, „Tage der Toten“ und „Das Kartell“ als einer der besten Genre-Vertreter etablierte, hat für den Abschluss seiner Neal-Carey-Reihe nicht mal eine vernünftige Story parat. Sie wirkt wie ein müder Abklatsch von Martin Brests „Midnight Run“ mit Robert De Niro und Charles Grodin in den Hauptrollen, nur dass „Palm Desert“ eben überhaupt nicht witzig ist. 
Von ein paar netten Jokes abgesehen gibt nämlich der notgeile Altkomiker Natty Silver immer wieder flache Witze zum Besten, bis durch einen eingeschobenen Briefwechsel zwischen einem Anwalt und einer Versicherungsgesellschaft überhaupt herauskommt, warum Heinz und Sami den früheren Varieté-Künstler in ihre Gewalt bringen wollen. Bis dahin ist das Interesse an der ideenlosen Geschichte aber schon verflogen, und am Ende ist man froh, dass die aus der Ich-Perspektive von Karen und Neal erzählte Story nach 200 Seiten endlich vorbei ist.  

Don Winslow – (Neal Carey: 4) „A Long Walk Up The Water Slide“

Sonntag, 25. Februar 2024

(Suhrkamp, 302 S., Tb.) 
Bevor Don Winslow mit harten Drogenmafia-Thrillern wie „Tage der Toten“, „Das Kartell“ und „Savages – Zeit des Zorns“ zu einem der besten Genre-Autoren weltweit avancierte, präsentierte er Anfang der 1990er Jahre seine ersten Fingerübungen mit einer fünfteiligen, humoristisch gefärbten Thriller-Reihe um Neal Carey, einen Studenten an der Columbia, der davon träumt, eines Tages am College Englisch zu unterrichten, und sich ein Zubrot damit verdient, für seinen Ziehvater und Vorgesetzten Joe Graham hin und wieder Aufträge als Privatdetektiv für die „Friends of the Family“ zu übernehmen. Nach „London Undercover“, „China Girl“ und „Way Down on the High Lonely“ veröffentlichte Suhrkamp 2016 den vierten Band unter dem Originaltitel „A Long Walk Up The Water Slide“
Seit Neals letztem Auftrag für die von Ed Levine geführte „Friends of the Family“, bei dem er einen Mann erschoss, hat sich der 28-Jährige in das Schlafzimmer seiner Freundin Karen Hawley zurückgezogen und vergeblich auf die unangenehmen Fragen von FBI, Highway Patrol und der Polizei gewartet. Er arbeitet an seiner Doktorarbeit zum Thema „Tobias Smollett: Literarischer Außenseiter“ und zieht ernsthaft in Erwägung, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, mit dem ihn der zwergwüchsige, einarmige Joe Graham sporadisch konfrontiert. Als Joe diesmal anruft und Neal einen Auftrag anbietet, bei dem er überraschenderweise niemanden suchen muss, sagt er auch wegen der Aussicht auf eine Terrasse mit Whirlpool zu, die sich Neal und Karen mit dem Honorar in ihrem Zuhause in Austin, Nevada, bauen lassen könnten. 
Doch natürlich entpuppt sich die Aufgabe, einer jungen Frau namens Polly Paget vernünftiges Englisch beizubringen, damit sie ihre Anschuldigung, von dem prominenten Fernsehmoderator und Unternehmer Jack Landis vergewaltigt worden zu sein, glaubwürdig vortragen kann, ohne als prollige Schlampe rüberzukommen, denn sowohl ihr Aussehen als auch ihre Sprache vermitteln mehr als überdeutlich diesen Eindruck. Zwar beteuert Graham, dass die Mafia nicht mit im Spiel sei, aber der Auftrag entpuppt sich doch als ziemlich heikel, denn Jack hat als Gründer, Präsident und Hauptanteilseigner von Family Cable Network, wo er mit seiner Frau Candice die beliebte Sendung „Familienzeit mit Jack und Candy“ moderiert, einiges zu verlieren, investiert er doch gerade in ein Ferienparadies, dessen Apartments sich nicht so schnell verkaufen lassen wie gewünscht. 
Bis zu ihrer Aussage soll Neal Polly nicht nur vernünftiges Englisch beibringen, sondern sie auch gut verstecken, denn natürlich setzen Jack Landis und seine Geschäftspartner alles daran, dass seine Sekretärin und Geliebte Polly nie ihre Aussage zu Protokoll geben kann. Dazu wird nicht nur der Privatermittler Walter Withers engagiert, sondern auch ein Auftragskiller. Als sich die Dinge weitaus turbulenter entwickeln als geplant, macht sich vor allem Joe Graham große Vorwürfe. 
„Die ganze Operation Polly Paget war überstürzt und ohne ausreichende Informationsgrundlage durchgeführt worden. Die Friends of the Family hätten den Fall nicht übernehmen dürfen, ohne vorher die gegnerische Seite restlos zu durchleuchten. Und dass Eddie und Kitteredge ein sicheres Versteck verraten hatten, war erst recht nicht nachvollziehbar. Dabei war es nicht mal unser Versteck gewesen, sondern das von Neal. Endlich hatte der Junge ein Zuhause gefunden, und wir lassen zu, dass es ihm um die Ohren fliegt. Wir sind schludrig geworden, dachte Graham. Der Erfolg hat uns glauben lassen, wir seien besser, als wir sind.“ (S. 225) 
Mit dem vierten Band seiner 1991 gestarteten Neal-Carey-Reihe entwickelt Don Winslow die Lebensgeschichte des jungen Doktoranden, der nebenbei als Privatermittler für die Firma arbeitet, in der auch sein Ziehvater tätig ist, konsequent weiterentwickelt. Die Beziehung zu seiner Freundin Karen steht auf einer soliden Basis, das überraschende Auftrags-Angebot kommt wie gerufen, um den Lebensstil des jungen Paars etwas aufzupeppen. Doch die Beziehung zwischen Neal und Karen gerät schnell in den Hintergrund, als die billig aufgemotzte, herrlich prollig daherkommende Polly in ihr Leben tritt und damit einen höchst komplexen Rattenschwanz hinter sich herzieht, der ordentlich Action und ein paar Tote mit sich bringt. 
Das ist temporeich und witzig - vor allem in den knackigen Dialogen – geschrieben, doch schießt Winslow in der zweiten Hälfte des gerade mal 300-seitigen Romans weit übers Ziel hinaus, als die mittlerweile unüberschaubare Schar an Akteuren an schnell wechselnden Schauplätzen die Orientierung zu verlieren drohen und damit den Lesegenuss arg schmälern. Denn für feinsinnige Charakterisierungen bleibt hier kein Raum. Winslow ist hier so auf Action und pointierten Humor getrimmt, dass die Story darunter leidet. Mit einem ähnlichen Konzept ist die „Slow Horses“-Reihe des Briten Nick Herron weit origineller ausgefallen.  

Donal Ryan – „Seltsame Blüten“

Mittwoch, 21. Februar 2024

(Diogenes, 272 S., HC) 
Dafür, dass sich Hartnäckigkeit durchaus auszahlen kann, ist der Ire Donal Ryan ein vorzügliches Beispiel. Von dem Umstand, dass seine ersten Romane 47-mal abgelehnt wurden, ließ er sich nicht beirren. Nachdem Lilliput Press ab 2012 Ryans ersten beiden Werke veröffentlicht hatte, wurde auch der Diogenes Verlag auf das Talent aufmerksam und legt nach „Die Sache mit dem Dezember“, „Die Gesichter der Wahrheit“, „Die Lieben der Melody Shee“ und „Die Stille des Meeres“ nun mit „Seltsame Blüten“ bereits den fünften Roman eines Autors vor, der für seine früheren Werke gleich mehrmals mit dem Irish Book Award ausgezeichnet worden ist. 
Irland im Jahr 1973. Mit ihren jeweils um die 60 Jahren leben Kit und Paddy Gladney gottesfürchtig, einfach, aber zufrieden in einem kleinen Cottage in Knockagowny, County Tipperary. Paddy fährt morgens mit der Post durch den Ort und arbeitet nachmittags als Knecht auf der Jackmans, während Kit sich neben dem eigenen Haushalt um die Buchführung einiger Kaufleute in der Gegend kümmert. 
Dass ihre einzige Tochter Moll als Zwanzigjährige vor fünf Jahren ohne etwas zu sagen eines Morgens den Bus nach Dublin genommen hat, lastet schwer auf der Seele des Ehepaars, zumal ihre eigenen Versuche, ihre Tochter in Dublin ausfindig zu machen, kläglich scheiterten. Doch fünf Jahre später taucht Moll ebenso plötzlich wieder vor ihrer Tür auf. Überglücklich lassen Kit und Paddy die Heimgekehrte erst einmal in Ruhe, bis sie selbst eine Erklärung zu ihrem Verschwinden und ihrer Rückkehr abzugeben bereit ist. 
Doch bevor Moll auch nur ein Wort dazu abgibt, taucht ein Mann in der Gegend auf, der sich nach Moll erkundigt, und wenig später steht auch er vor der Tür der Gladneys. Doch das sind nicht die beunruhigendsten Neuigkeiten, mit denen Kit und Paddy konfrontiert werden… 
„Kit löst die Finger aus der Gebetshaltung, ballt die Hände zu Fäusten, faltet sie erneut und fährt mit dem Takt ihres Rosenkranzes fort, sie versucht, die Gedanken auszublenden, die ihre Gebete überlagern, doch es gelingt ihr nicht. Es ist einer dieser Abende, an denen sich ungebetene Erinnerungen in dein Vordergrund drängen und ihre Gedanken in Beschlag nehmen.“ (S. 241) 
Mit seinem neuen Roman setzt sich Ryan einmal mehr mit dem Leben und den Schicksalen einfacher Menschen im stark katholisch geprägten Irland auseinander und beschreibt in fast schon verschwenderisch ausgereizter Sprachkunst, wie sich die fünfjährige Abstinenz einer geliebten Tochter und ihre unerwartete Rückkehr auf das Leben eines ganzen Dorfes auswirkt. Dabei geht Ryan nicht chronologisch vor. Tatsächlich unternimmt er in der Erzählung mehr als gewagte Sprünge ebenso in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, um die Geheimnisse rund um Molls Verhalten und weit darüber hinaus zu lüften. 
Vor allem der erste Teil ist dem Autor gut gelungen, wenn er die Lebensumstände und die Menschen in Knockagowny beschreibt. Als Moll, inzwischen 25-jährig, plötzlich zu ihren Eltern zurückkehrt, ändert sich natürlich einiges, doch wirken die nun beschriebenen Ereignisse sehr robust zusammengewürfelt. Ein funktionierender Erzählfluss will sich da nicht einstellen. Stattdessen wird man als Leser immer wieder mit neuen, lange zurückliegenden oder weit voraus geeilten Ereignissen konfrontiert, die erst im Laufe der nächsten Kapitel aufgeschlüsselt werden. 
„Seltsame Blüten“ stellt insofern einen programmatischen Titel dar, als Donal Ryan die Dramaturgie seiner Erzählung(en) kräftig durchrüttelt und sein Publikum dazu zwingt, sich immer neu auf die Ereignisse nach zunächst unbestimmt wirkenden Zeitsprüngen einzustellen. Das kann man machen, führt hier aber neben dem abgehackten Erzählfluss vor allem dazu, dass man bei all den verpassten Ereignissen, die im Nachhinein nur skizzenhaft rekapituliert werden, die emotionale Bindung zu den Figuren verliert. So überzeugt Ryans neuer Roman zwar einmal mehr durch seine sprachliche Virtuosität, doch fesselt der Plot längst nicht so wie in seinen vorangegangenen Werken.  

Emanuel Bergmann – „Tahara“

(Diogenes, 288 S., HC) 
In der Filmszene kennt sich der 1972 in Saarbrücken geborene Emanuel Bergmann aus, verbrachte er nach dem Abitur doch einige Jahre in Los Angeles, um Film und Journalismus studieren, um dann für verschiedene Filmstudios, Produktionsfirmen und Medien sowohl in den USA als auch in Deutschland zu arbeiten. Was liegt da näher, als einen Roman in der Filmwelt anzusiedeln?  
Bergmann entführt seine Leserschaft mit seinem neuen Roman „Tahara“ zum Filmfestival nach Cannes, wo das Leben seines Protagonisten kräftig aus den Fugen gerät. 
Der berühmte Filmkritiker Marcel Klein hat seine besten Zeiten hinter sich. Früher hat man ihn sogar mit George Clooney verglichen. Mittlerweile muss er seine Stirnglatze mit einem Strohhut verdecken. Er ist mit der Abzahlung eines Kredits im Rückstand und trifft völlig übermüdet in Cannes ein, von wo er einmal mehr über das Filmfestival berichten soll. 
In die Pressekonferenz mit John Travolta, der seinen neuen Actionfilm vorstellt, geht er völlig unvorbereitet, doch dafür begegnet er der attraktiven französischen Lehrerin Héloïse, die am Lycée Französisch und Deutsch unterrichtet und wie Marcel das Kino liebt. Bei einem Espresso kommen sich die beiden völlig unterschiedlichen Filmliebhaber näher, doch ihre Begegnungen in den folgenden Tagen sind ebenso von Leidenschaft wie Streit, vor allem aber von Geheimnissen geprägt, die erst nach und nach gelüftet werden und ihre stürmische Liaison in etwas verwandeln, was beide ebenso fasziniert wie verängstigt. 
Als Marcel für eine Titelstory den Hollywoodstar Eva Vargas interviewen soll, die in der Steven-Spielberg-Produktion „A Light in the Dark“ die Hauptrolle verkörpert, kommt es zum Eklat, als Marcel der Schauspielerin erst in den Ausschnitt guckt und sie dann auf die Affäre ihres Verlobten anspricht. Da Marcel aus dem Interview nicht viel herausholen kann, findet er eine eigene Lösung für das Problem, das ihm allerdings nach Abgabe seiner Story um die Ohren fliegt… 
„Nun war er aufgeflogen, und so schrecklich das war, es barg auch eine kleine Gnade. Er konnte neu anfangen, reinen Tisch machen. Er hatte in diesen Tagen mit Héloïse etwas gekostet, von dem er vermutete, dass es manch anderen Menschen für immer vorenthalten blieb. Er begehrte sie auf eine Art, die ihn vollkommen verzehrte, und hätte man ihn gefragt, was er brauche, so hätte er geantwortet: nichts außer ihr, weder Schlaf noch Wasser, ich will nur bei ihr sein, in ihr sein, mit ihr sein.“ (S. 200) 
Mit dem Titel „Tahara“ nimmt Emanuel Bergmann („Der Trick“) Bezug auf die jüdische Tradition, die Toten vor der Beerdigung von Kopf bis Fuß sorgfältig zu waschen, damit der Verstorbene ohne Schmutz und Scham, vielleicht auch ohne Sünde vor seinen Schöpfer treten kann. Bergmanns ein wenig autobiografisch eingefärbter Marcel Klein durchläuft in dem Roman eine ähnliche Entwicklung, wird er doch durch die Entlarvung eines jahrelang gepflegten feinen Lügengespinstes dazu gezwungen, kräftig aufzuräumen in seinem Leben. 
Als Katalysator dient ihm dabei die Affäre mit der streng katholisch erzogenen Französin Héloïse, die aus ihrer Ehe mit dem Apotheker Grégoire auszubrechen versucht, sich ihm aber durch ihr Ehegelübde bis zum Tod mit ihm verbunden fühlt. Über die schwierige Liaison zwischen Marcel und Héloïse hinaus bietet „Tahara“ aber auch faszinierende Einblicke hinter die Kulissen eines Medienspektakels wie dem Filmfestival in Cannes, wo wirklich alles nur darauf ausgerichtet ist, dass eine gute Presse zu den Filmen erscheint, um die Leute in die Kinos zu locken. 
Diese Mechanismen entlarvt der Filmbranchen-Insider Bergmann auf unterhaltsame Weise. Die Kombination aus temperamentvoller Liebesgeschichte und einem etwas desillusionierenden Blick in die Film- und Medienwelt wirkt selbst wie der Plot zu einem Hollywood-Film, erinnert stellenweise aber auch an die amourösen Abenteuer aus der Feder von Philippe Djian. Der temporeiche Plot und das interessante Thema machen „Tahara“ zu einem filmreifen Lesevergnügen.  

Paul Auster – „Bloodbath Nation“

Freitag, 16. Februar 2024

(Rowohlt, 192 S., HC) 
Die Statistiken sind deprimierend: Amerikaner haben nicht nur eine 25 Mal höhere Chance, angeschossen zu werden als Bürger in anderen hochentwickelten Ländern, sondern 82 Prozent aller Todesfälle durch Schusswaffen werden von Amerikanern verübt. 40 000 Amerikaner sterben jährlich durch Schussverletzungen, mit 393 Millionen Schusswaffen im Besitz amerikanischer Staatsbürger besitzt jeder Mann, jede Frau und jedes Kind mehr als eine Waffe. Das sind die Schattenseiten des als unantastbar geltenden Zweiten Verfassungszusatzes vom 15. Dezember 1791, der die Einschränkung des Rechts auf den Besitz und das Tragen von Waffen untersagt und seit jeher Anlass zu nicht enden wollenden juristischen wie politischen Diskussionen über das genaue Ausmaß dieses Verbots gibt. 
In diese Diskussion schaltet sich nun auch der renommierte US-amerikanische Autor Paul Auster ein, der neben seinen prominenten Romanen wie „Die New-York-Trilogie“, „Mond über Manhattan“, „Im Land der letzten Dinge“ und zuletzt „Baumgartner“ auch immer wieder kluge Essays zu unterschiedlichsten Themen verfasst hat (wie zuletzt in dem Band „Mit Fremden sprechen“ zusammengefasst). 
Austers neuer Essay „Bloodbath Nation“ hat seinen Ursprung in der Vita Austers, ist doch sein Großvater 1919 von seiner Großmutter erschossen worden, was jahrelang ein gut gehütetes Geheimnis in der Familie blieb. Auster selbst erwies sich bei Schießübungen im Kindesalter als überaus talentiert, hat aber nie eine Waffe besessen und ist seinem offensichtlichen Talent für den Umgang mit Schusswaffen auch nie mehr nachgegangen. Dabei ist Auster wie so viele seiner Zeitgenossen mit den Western in den 1950er Jahren aufgewachsen, in der Männer mit schwarzen Hüten die Bösen waren und durch die guten Männer mit weißen Hüten – natürlich mit Waffen – zur Räson gebracht werden mussten. 
Auster skizziert, wie schon die Ausrottung der Ureinwohner und die Sklaverei als unaufgearbeitete Sünden in der Geschichte der USA dazu führten, dass das Verständnis von Demokratie dazu führte, dass sich Einzelne eher um sich selbst kümmern, als dass sich die Menschen in einer Gemeinschaft füreinander verantwortlich fühlen. Auster zählt in seinem Essay vor allem etliche Beispiele auf, in denen oft junge und psychisch schwer geschädigte Männer nicht nur davon fantasieren, möglichst viele Menschen (ob Fremde, Freunde oder Familienangehörige) zu töten, sondern dies nach sorgfältiger Planung auch tun. 
Zwar betont der 77-jährige, an Krebs schwer erkrankte Autor, dass Amokläufe nur für einen geringen Prozentsatz der Opferzahlen verantwortlich sind, die auf Schusswaffengebrauch zurückzuführen sind, sie stehen aber nicht ohne Grund im Zentrum des Buchs, werden diese mass shootings doch als eine Art Performancekunst angesehen, die besonders viel Raum in der Medienberichterstattung erhält. Dieser Fokus wird auch durch die schwarzweißen, sehr trist und trostlosen erscheinenden Fotografien von Spencer Ostrander betont, da sie die Tatorte der Verbrechen erst danach zeigen, ohne eine Menschenseele, was die Tragik der oft nach wie vor verwaisten, mittlerweile bereits abgerissenen Supermärkte, Bars oder Synagogen noch verstärkt. 
„Mit generellen Verboten und drakonischen Maßnahmen kann man den zum Kampf Entschlossenen keinen Frieden aufdrängen. Frieden wird es erst geben, wenn beide Seiten ihn wollen, und um es dahin zu bringen, müssten wir uns zunächst einmal aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir sind und wer wir als Volk in Zukunft sein wollen, und dazu müssten wir uns aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir in der Vergangenheit gewesen sind. Sind wir bereit, uns diesem lange hinausgeschobenen nationalen Augenblick der Wahrheit und der Versöhnung zu stellen?“ 
So interessant und erkenntnisreich sich Austers „Bloodbath Nation“ auch liest, macht das schmale Büchlein doch wenig Mut, dass sich in Zukunft etwas Grundlegendes an dem Verhältnis der Amerikaner zu ihren Waffen ändert. Dazu ist der Einfluss der NRA (National Rifle Association) auch zu stark. Und die gar nicht so unwahrscheinliche Möglichkeit, dass der Mann mit der schrecklichen Frisur doch noch einmal zum Präsidenten gewählt werden könnte, lässt wenig Hoffnung keimen, dass sich die Amerikaner noch eines Besseren besinnen werden. 
Auster selbst bietet auch keine Lösung für das Problem des Umgangs mit den Waffen an, so dass man auch in Zukunft nur auf weitere Berichte über irgendwelche Massaker an Schulen, in Clubs oder bei öffentlichen Versammlungen warten kann, ohne dass sich etwas an den Gesetzen zum Tragen und Benutzen von Waffen ändern wird.  

Kent Haruf – „Abendrot“

Montag, 12. Februar 2024

(Diogenes, 416 S., HC) 
Mit seinem 1984 veröffentlichten Debütroman „The Tie That Binds“ (der 2023 bei Diogenes in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das Band, das uns hält“ erschienen ist) entführte der US-amerikanische Schriftsteller Kent Haruf sein Publikum erstmals in den Mikrokosmos der fiktiven Kleinstadt Holt in den Great Plains von Colorado, in der auch die fünf nachfolgenden Romane des 2014 verstorbenen Autors angesiedelt sind. In „Abendrot“, dem vierten Band der Holt-Saga, begegnen wir meist Figuren, die uns bereits aus früheren Bänden bekannt sind, wie die McPheron-Brüder. 
Harold und Raymond McPheron haben nach dem frühen Tod ihrer Eltern ihr Leben lang gemeinsam auf der von ihnen bewirtschafteten Ranch gelebt und waren sich stets selbst genug. Nachdem sie vor zwei Jahren die damals schwangere Victoria Roubideaux bei sich aufgenommen haben, bereiten sie sich nun darauf vor, dass die alleinerziehende junge Frau mit ihrer Tochter Katie wieder ausziehen, ins über hundert Kilometer entfernte Fort Collins, wo Victoria das College besuchen will. 
Als Harold bei einem Zwischenfall mit den Rindern so schwer verletzt wird, dass er stirbt, muss Raymond auf einmal lernen, nicht nur auf sich allein gestellt zu sein, sondern auch erstmals wieder bewusst Kontakt zu anderen Menschen in der Stadt zu suchen. 
Derweil versuchen die von Sozialhilfe abhängigen Betty und Luther, Wallace irgendwie gemeinsam mit ihren Kindern Richie und Joy Rae durchs Leben zu kommen, wobei ihnen die engagierte Sozialarbeiterin Rose Tyler zur Hand geht. Doch als die Familie Bettys zu Gewaltausbrüchen neigenden Onkel Hoyt Raines nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bei sich aufnimmt, gerät das ohnehin fragile Familiengefüge völlig aus dem Gleichgewicht. Betty kann es kaum ertragen, keinen Kontakt mehr zu ihrer Erstgeborenen haben zu dürfen, nun kann sie nicht verhindern, dass Hoyt auch ihre Kinder misshandelt. Und dann ist da der elfjährige DJ, der sich liebevoll um seinen 75-jährigen Großvater Walter kümmert, seit seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Wenn sein Grandpa mit dem Rentenscheck von der Eisenbahngesellschaft in die Eckkneipe geht, erledigt DJ seine Hausaufgaben am Tresen. Mit der gleichaltrigen Nachbarstochter Dena Wells erlebt DJ schließlich die zarten Knospen der ersten Liebe. 
Bei seinen Ausflügen in die Stadt lernt Raymond tatsächlich auch Frauen kennen, doch der Umgang mit ihnen ist ihm überhaupt nicht vertraut. Zudem vermisst er seinen Bruder schmerzlich… 
„… plötzlich wurde ihm bewusst, dass sich das Zimmer, in dem er lag, direkt unter dem leeren Zimmer seines Bruders befand, und so starrte er an die Decke und fragte sich, wie es seinem Bruder im fernen Jenseits wohl ergehen mochte. Dort müsste es irgendwie Rinder geben und wohl auch eine Arbeit für seinen Bruder in der hellen wolkenlosen Luft inmitten von diesen Rindern. Ohne das wäre sein Bruder nie zufrieden. Er betete darum, dass es Rinder gab, seinem Bruder zuliebe.“ (S. 162) 
Mit „Abendrot“ gibt Kent Haruf einmal mehr einen einfühlsamen Einblick in das Leben der Einwohner des Präriekaffs Holt. Er schaut aus sicherer Distanz hinter Türen und Fenster der Häuser und Kneipen, Krankenhauses und des Sozialamts, bringt uns das Leben der McPheron-Brüder, der bedürftigen Wallace-Familie, dem Großvater-Enkel Gespann von Walter und DJ und beschreibt, was sie in ihrem Leben so beschäftigt. 
Der Autor ist dabei absolut neutral, verurteilt weder die Gewalttätigkeit von Hoyt Raines noch die Art, wie Betty und Luther Wallace tatenlos zusehen, wie Hoyt ihre Kinder vertrimmt. „Abendrot“ präsentiert sich vielschichtiges Panoptikum unterschiedlichster Menschen mit jeweils eigenen Ängsten und Sehnsüchten. Da ist für Liebe und Freundschaft genauso viel Platz für Trauer, Wut und Schmerz. Es sind Momentaufnahmen eines guten Jahres, die neugierig darauf machen, wie die Menschen in Holt ihr Schicksal in Zukunft meistern.  

Ray Bradbury – „Das Kind von morgen“

Mittwoch, 7. Februar 2024

(Diogenes, 368 S., Tb.) 
Mit teils auch großartig verfilmten, zu Klassikern avancierten Werken wie „Fahrenheit 451“, „Der illustrierte Mann“, „Die Mars-Chroniken“ und „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ hat sich Ray Bradbury (1920-2012) weit über die Grenzen der Science-Fiction hinaus einen Namen als brillanter, sprachgewaltiger Erzähler gemacht. Auch in der 1969 im Original als „I Sing the Body Electric!“ veröffentlichten und hierzulande zunächst als „Gesänge des Computers“ und „Die vergessene Marsstadt“, zuletzt als „Das Kind von morgen“ erschienene Sammlung von 17 zwischen 1948 und 1969 entstandenen Kurzgeschichten erweist sich Bradbury als Meister fantasievoller Gedankenspiele, die sich letztlich auf die tiefsten Emotionen eines Menschen zurückführen lassen. 
Mit der ersten Geschichte „Das Kilimandscharo-Projekt“ lädt der Ich-Erzähler einen Jäger ein, seine Zeitmaschine zu nutzen und damit nach Afrika ins Jahr 1954 zu reisen. „Die schreckliche Feuersbrunst drüben im Landhaus“ erzählt von vierzehn Männern, die sich mitten in den gesellschaftlichen Unruhen auf den Weg zum Anwesen von Lord Kilgotten machen, um sein Haus niederzubrennen. Allerdings gehen sie dabei viel zu höflich vor, um ihr Vorhaben auch umzusetzen. Sie verhalten sich leise, um nicht die Dame des Hauses zu wecken, ziehen die Schuhe aus, um die wertvollen Teppiche nicht zu verschmutzen, und lassen sich sogar dazu überreden, das Haus erst abzufackeln, wenn der Lord mit seiner Gemahlin zur Premiere eines Stückes nach Dublin abgereist ist. Als auch noch einige wertvolle Kunstwerke zur Sprache kommen, die der Brand zerstören würde, gerät das Vorhaben der Freiheitskämpfer endgültig ins Wanken. Zu den eindrucksvollsten Geschichten zählt die Titelgeschichte der von Diogenes herausgegebenen Ausgabe mit dem Titel „Das Kind von morgen“. Hier müssen sich Peter Horn und seine Frau mit der Tatsache anfreunden, dass ihr von Dr. Walcott entbundenes Kind die Form einer blauen Pyramide hat. Durch eine Distruktur der Dimensionen ist das Kind in eine andere Dimension hineingeboren worden, aber ansonsten ganz normal – nur dass es seine Eltern als weiße Würfel wahrnimmt. Als der Versuch der Wissenschaftler scheitert, das Kind aus seiner Dimension herauszuholen, müssen sich die Eltern entscheiden, ob sie stattdessen in die Dimension ihres Kindes überwechseln. 
„Die Frauen“ handelt von dem Urlaub eines Ehepaars am Strand, das durch im Meer erwachte Wesen auf eine harte Probe gestellt wird. Während es den Mann am letzten Tag des Urlaubs noch einmal ins Wasser zieht, lässt sich seine Frau allerhand Dinge einfallen, ihn davon abzuhalten, weil sie Sorge trägt, dass er ihrer überdrüssig geworden sein könnte und sich zu sehr den vermeintlich weiblichen geheimnisvollen Wesen im Wasser hingezogen fühlt. 
Die wahrscheinlich bekannteste Geschichte des Bandes ist die durch ein Gedicht von Walt Whitman inspirierte Titelgeschichte der amerikanischen Originalausgabe. „Ich singe den Leib, den elektrischen“ handelt von dem Einzug der Großmama von Timothy, Agatha und Tom, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Der Vater der drei Kinder bestellt eine Oma bei der Fantoccini GmbH, die damit wirbt, die erste humanoide mikro-elektrische wiederaufladbare Elektrische Großmutter perfektioniert zu haben. Während die beiden Jungs die neue Großmutter schnell ins Herzu schließen, ist Agatha noch zu sehr vom Verlust ihrer Mutter gepeinigt, um die neue Oma akzeptieren zu können. Doch mit ihrer weisen Art findet die Elektrische Oma schließlich auch einen Zugang zu Agatha. 
„,Und obwohl der Streit noch hunderttausend Jahre weitergehen mag: Was ist Liebe? werden wir vielleicht herausfinden, dass Liebe die Fähigkeit von jemandem ist, uns uns selbst zurückzugeben. Vielleicht ist es Liebe, wenn jemand begreift und sich daran erinnert, uns wieder an uns selbst auszuhändigen, eine Kleinigkeit besser, als wir zu hoffen oder träumen gewagt hätten.‘“ (S. 228f.) 
In „Die verschwundene Marsstadt“ macht sich ein Trupp von ausgesuchten Gästen auf Einladung von I.V. Aaronson auf den Weg zu einer 4-Tage-Reise zum Mars, um das Geheimnis einer verschwundenen Stadt zu lüften… 
Ray Bradbury entführt uns mit seinen Geschichten einmal mehr in vermeintlich fremde Welten, doch egal, in welche Zeiten und an welche Orte er uns entführt, geht es doch immer um zutiefst menschliche Sehnsüchte und Emotionen. Durch seine bildhafte Sprache entzündet der begnadete Autor den Funken der Fantasie bei seinem Publikum, konfrontiert ihn mit betörenden Märchen, die die Melancholie der Trauer und des Erinnerns ebenso lebendig werden lässt wie das Gefühl größter Zärtlichkeit, inniger Liebe und ganz natürlichen Wünschen. 
„Bradburys Stärke liegt darin, dass er über die Dinge schreibt, die uns wirklich wichtig sind – nicht die Dinge, für die wir uns angeblich interessieren: Wissenschaft, Ehe, Sport, Politik, Verbrechen“, wird Damon Knight auf der Rückseite des Buches zitiert. „Er schreibt über die fundamentalen Ängste und Sehnsüchte: die Wut, geboren zu sein; der Wunsch, geliebt zu werden; das Verlangen, sich mitzuteilen; der Hass auf Eltern und Geschwister; die Angst vor Dingen, die nicht wir selber sind…“ 
Besser kann man Bradburys Werk kaum zusammenfassen. 

 

Jonathan Lee – „Joy“

Samstag, 3. Februar 2024

(Diogenes, 384 S., HC) 
Mit seinem letzten, 2021 veröffentlichten Roman „The Great Mistake“ huldigte der in England geborene Schriftsteller Jonathan Lee seiner Wahlheimat New York und beschäftigte sich mit dem streitbaren Stadtplaner Andrew Haswell Green, dem die Stadt u.a. den Central Park und die öffentliche Bibliothek, den Zoo in der Bronx sowie das American Museum of Natural History und das Metropolitan Museum of Art verdankt und der am 13. Januar 1903 im Alter von 83 Jahren vor seiner Haustür erschossen wurde. Im Zuge der kriminalistischen Aufklärung des heimtückischen Mordes kommen einige Protagonisten zu Wort, die die Puzzleteile von Andrew Greens Leben und Wirken zusammenzusetzen helfen. 
Nachdem Diogenes Jonathan Lees vierten Roman 2022 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der große Fehler“ veröffentlicht hatte, legt der renommierte Verlag nun mit Lees 2012 veröffentlichten Debüt „Joy“ nach. Bereits hier dient der gewaltsame Tod eines Menschen als Grundlage für eine facettenreiche Geschichte in einem Metier, in dem sich der Autor, der früher in einer Anwaltskanzlei sowohl in Tokio als auch in London gearbeitet hat, bestens auskennt.
Joy Stephens könnte sich glücklich schätzen. Mit Mitte dreißig steht sie kurz davor, zur ersten Partnerin in der Londoner Anwaltskanzlei Hanger, Slyde & Stein ernannt zu werden. Sie ist mit dem Akademiker Dennis verheiratet, der gerade ein Sabbatical einlegt, in Wahrheit aber wegen der Anschuldigungen sexuellen Missbrauchs auf unbestimmte Zeit von seiner Lehrtätigkeit suspendiert ist, bis der Vorfall aufgeklärt worden ist und die Zeit nutzt, an seinem hoffentlich überaus verkäuflichen Buch über Shakespeare zu arbeiten und es bei einem populärer verlegen zu lassen als wie bisher im Universitätsverlag. 
Und sie unterhält eine Affäre mit Peter, einem ihrer Kollegen und zufälligerweise auch Mann ihrer besten Freundin Christine. Doch ausgerechnet bei ihrer Dankesrede stürzt sie sich vor aller Augen zehn Meter in die Tiefe. Der Schock der Zeugen sitzt tief. Und so bekommen alle, die Joy näher gekannt haben, die Gelegenheit, sich bei einem Psychotherapeuten auszusprechen, Dennis und Peter ebenso wie der hauseigene Fitnesstrainer Samir und die Persönliche Assistentin Barbara. Und dazwischen kommt Joy im Rückblick zu Wort, wenn sie den schicksalhaften Freitag von frühmorgens um 1:10 Uhr bis zum folgenreichen Sprung in die Tiefe Revue passieren lässt. 
„Mitten in diesem ganzen Lügengespinst blieb Dennis verlässlich. Sie liebte den einfühlsamen, sanftmütigen Dennis. Sie trug diesen Hunger nach Risiko in sich, aber gleichzeitig die Sehnsucht nach jemandem, der ihr Sicherheit gab und nett war. Er brachte ihr alles Mögliche, als sie depressiv war: Blumen, Cracker, Dinge außerhalb ihrer selbst. Seine Sätze waren voller Außenwelt.“ (S. 182) 
Mit seinem Debütroman hat sich Jonathan Lee auf vertrautes Terrain begeben und seine Kenntnisse des Alltags in einer modernen Anwaltskanzlei in seine Geschichte über das Leben einer Frau einfließen lassen, die offenbar mehr Geheimnisse mit sich herumtrug als ihre Mitmenschen vermutet haben. Der Autor erweist sich dabei als versierter Sprachkünstler. Wenn er die verschiedenen Protagonisten in kapitellangen Monologen zu Wort kommen lässt, verleiht er ihnen eine jeweils eigene Sprache. So spricht Samir ohne Interpunktionen, der nie aus dem Universitätsleben herausgekommene Dennis verliert sich dagegen in intellektuellen Ausschweifungen, die – bei aller sprachlicher Virtuosität gerade zu Anfang sehr ermüdend wirken. 
Was die Geschichte so lesenswert macht, sind die verschiedenen Perspektiven, die nicht nur aufzeigen, wie ihr Ehemann, ihr Geliebter, ihr Fitnesstrainer und ihre Sekretärin Joy wahrgenommen haben, sondern auch dahingehend aufschlussreich wirken, wie sich nach und nach interessante Details aus Joys Leben aneinanderreihen und den jeweiligen Ich-Erzählern Charakter verleihen. 
Dabei rückt vor allem ein Vorfall in den Vordergrund, bei dem Joy zusammen mit ihrem Neffen ein Tennis-Match besucht hat und ihn in der Warteschlange vor der Toilette verloren hat. Aber Jonathan Lee kramt auch die üblichen Klischees hervor, den Anwalt, der sich von einer seiner Trainees einen blasen lässt, oder die Vorurteile einer alternden Sekretärin gegenüber einem faulen Italiener, den die italienische Dependance abgestellt hat. 
Durch die Form der ununterbrochenen Monologe gewinnen die unterschiedlichen Personen schnell an Profil, doch so richtig warm wird man mit den Figuren nicht. Bei all den unerfüllten Sehnsüchten und Begierden, Lügen und Affären hinterlässt „Joy“ vor allem ein Gefühl der Niedergeschlagenheit, das nicht durch alles Geld der Welt vertrieben werden kann. 
Jonathan Lee ist mit „Joy“ ein zumindest interessantes, sprachlich virtuos inszeniertes Melodram gelungen, das Lust auf weitere Werke des Autors macht. Mit „Who Is Mr Satoshi?“ und „High Dive“ warten zumindest noch zwei weitere Romane auf eine deutsche Übersetzung. 

Alex Capus – „Das kleine Haus am Sonnenhang“

Montag, 29. Januar 2024

(Hanser, 160 S., HC) 
Der in Frankreich geborene, in der Schweiz lebende und mit beiden Staatsangehörigkeiten versehene Alex Capus hat sich seit seinem literarischen Debüt mit dem Sammelband „Diese verfluchte Schwerkraft“ (1994) immer wieder mit dem Wechselspiel von Geschichte, Biografie und Erfindung, Dokumentation und Erzählung auseinandergesetzt. So überrascht es nicht, dass sein neues Werk, die gerade mal 160 Seiten umfassende Erzählung „Das kleine Haus am Sonnenhang“, sich als Teil der eigenen Biografie präsentiert, darüber hinaus aber auch elementaren Fragen des künstlerischen Schaffens nachgeht. 
Alex war kein Student mehr, aber noch kein Schriftsteller, als er in den neunziger Jahren sehr günstig ein kleines Haus an einem terrassierten Sonnenhang im Piemont kauft und dann mit seiner damaligen Freundin den ganzen Sommer dort verbringt. In dem nahe gelegenen Dorf gibt es keine Kneipe mehr, keinen Bäcker, keinen Postboten, auch im Pfarrhaus wohnt niemand mehr. 
Also macht sich Alex alle paar Tage auf den Weg zum Postamt, um eventuell eingetroffene Briefe und Zeitungen abzuholen, begegnet oft denselben Menschen auf einer granitenen Sitzbank, an der Bushaltestelle oder der Autowerkstatt. Nachdem er seine Anstellung als politischer Journalist bei der Schweizerischen Depeschenagentur gekündigt hatte, will sich Alex ganz auf das Schreiben seines ersten Romans fokussieren. Während seine Freundin zum Herbst wieder ihr Studium der Rechtswissenschaften fortsetzt, lebt Alex allein in dem kleinen Haus und ernährt sich vorwiegend von Spaghetti al aglio, olio e peperoncino, telefoniert jeden zweiten oder dritten Abend mit seiner Freundin. 
Wenn er mal unter Leute kommen möchte, schnappt sich der junge Mann das rostige Fahrrad, lässt das Dorf hinter sich und fährt weiter bis zur nächsten Stadt, wo an der obligatorischen Piazza Garibaldi einen adretten Tankwart Dienst verrichtete, und lässt sich in seiner Stammkneipe Da Pierluigi nieder, wo er ebenfalls immer dieselben Menschen antrifft. 
„Ich bin der Meinung, dass man als Mensch nicht mehrere Bars braucht. Ich brauche nur eine, und da gehe ich dann hin. Es ist eine Mentalitätsfrage, nehme ich an. Nichts, worauf ich besonders stolz wäre. Ich will mich in meiner Bar zu Hause fühlen, deshalb muss dort immer alles gleich bleiben. Ich wünsche keine Veränderungen und keine Überraschungen.“ 
Doch meist ist sich Alex selbst genug, ganz mit dem Schreiben des Romans beschäftigt. Um den Winter besser durchzustehen, gönnt er sich einen Kachelofen mit Schamottsteinen, doch der Winter hat auch seine Tücken. So bekommt Alex mit einem Siebenschläfer unter dem Dach einen unliebsamen Gast, und dann ist auch der Kachelofen eines Tages weg… 
Alex Capus‘ kleine Erzählung ist vor allem eine Erinnerung an unbeschwerte Zeiten in einer ländlichen Gegend im Piemont, wo sich in den neunziger Jahren zwar schon das 21. Jahrhundert in Anfängen bemerkbar macht, aber Briefe noch mit der Hand geschrieben, Bücher in die Schreibmaschine getippt werden. Soziale Kontakte finden noch ganz direkt statt, und wenn man Tag für Tag in einer kleinen Dorfgemeinschaft lebt, kennt man seine Pappenheimer. 
„Das kleine Haus am Sonnenhang“ ist jenseits des biografischen Charakters vor allem eine Liebeserklärung an das italienische dolce vita, das Capus so einfühlsam und humorvoll beschreibt, als sei man mittendrin in der völlig verrauchten Bar – oder möchte es wenigstens sein. Es ist ein besonderes Lebensgefühl, das den Ich-Erzähler in dieser Zeit durchdringt, und daran lässt er seine Leserschaft mit großer imaginärer Kraft teilhaben. 
Es macht einfach Spaß, den Autor darüber sinnieren zu lassen, warum man nicht ständig neue Pizzen ausprobieren und neue Strände aufsuchen muss, wenn die einmal getroffene Wahl sich doch bewährt hat. Genauso interessant sind aber auch Capus‘ Ausführungen zu den Voraussetzungen, um als Autor gute Bücher schreiben zu können. 
So stellt „Das kleine Haus am Sonnenhang“ gleichermaßen eine Liebeserklärung an ein Leben in Gelassenheit und an die Schätze literarischer Kostbarkeiten dar.  

Robert R. McCammon – „Die schwarze Pyramide“

Samstag, 27. Januar 2024

(Knaur, 508 S., Tb.) 
Nachdem Robert R. McCammon mit „Baal“, „Höllenritt“, „Tauchstation“, „Blutdurstig“, „Wandernde Seelen“, „Das Haus Usher“ und „Nach dem Ende der Welt“ etliche Topoi des Horror-Genres verarbeitet hatte, legte er 1988 mit „Stinger“ einen Roman vor, der sich als interessante Variante des Besuchs von Außerirdischen auf der Erde entpuppte. 1989 erschien die deutsche Übersetzung als „Die schwarze Pyramide“ wie alle McCammon-Romane im Knaur-Verlag. 
Das irgendwo in der texanischen Wüste liegende Kaff Inferno wird von zwei rivalisierenden Gangs dominiert. Auf der einen Seite treiben die Renegades ihr Unwesen. Zu ihnen zählt auch der achtzehnjährige Cody Lockett, dessen nichtsnutziger Vater Curt sich ganz dem Alkohol verschrieben hat. In Bordertown, dem südlich der Snake-River-Brücke gelegenen mexikanischen Viertel der dahinsiechenden Stadt, regieren die Culebra de Cascabel, die Rattlers. 
Cody wird ebenso Zeuge der seltsamen Ereignisse am Morgen wie die Tierärztin Jessie Hammond, ihr siebenunddreißigjähriger Mann Tom, der als Sozialkundelehrer an der Preston High School arbeitet, und ihre gemeinsame Tochter Stevie. Als Jessie mit Stevie zu einer Hacienda fährt, beobachtet sie Hintergrund einer Kupfermine, wie ein zylinderförmiges, rotglühendes, von Flammen umgebendes Objekt auf sie zugeflogen kommt. Nachdem das hintere Teil des Objekts explodiert ist, wird auch Jessies Wagen von den in alle Richtungen fliegenden Trümmern getroffen. 
Danach ist nicht nur Inferno nicht mehr wiederzuerkennen. Stevie, die eine merkwürdig aussehende, in der Konsistenz undefinierbare Kugel an sich nimmt, wird von einem außerirdischen Wesen in Besitz genommen, das sich Daufin nennt und in kürzester Zeit durch Lexika die amerikanische Sprache aneignet und Infernos Bewohner darauf aufmerksam macht, dass ein mächtiger Feind aus dem All, der sogenannte „Stinger“, auf der Suche nach ihr sei. 
Die Kreatur ist mit einem Raumschiff in der Form einer schwarzen Pyramide in Inferno gelandet und hat ein Energienetz um die Stadt gelegt, das niemanden aus der Stadt heraus- und in sie hineinlässt. Mit der Hilfe des bereits vor Ort befindlichen Militärs und einiger tapferer Einwohner versucht Daufin, Stinger das Handwerk zu legen. Dabei ziehen erstmals die verfeindeten Gangs an einem Strang, und Rick von den Rattlers versucht, seine Schwester Miranda, in die sich Cody verguckt hat, aus den Fängen des Ungeheuers zu retten. 
„Er sah zwar Feuer auf der Brücke, hatte aber keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen; stattdessen kletterte er über den Zaun, rutschte eine rote Böschung hinunter und blieb in dem schlammigen Wasserrinnsal liegen. Hinter sich konnte er die Häuser splitternd und krachend auseinanderfliegen hören. Noch ein, zwei Minuten, dann hatte das Wesen es geschafft; es würde durchbrechen und über den Fluss kommen.“ (S. 424) 
Zwei außerirdische Wesen, die in einem dem Untergang geweihten Kaff mit dem treffenden Namen Inferno einen ungleichen Kampf um Leben und Tod abfackeln, dient McCammon in seinem Horror-Roman als Ausgangspunkt für einen actionreichen Plot, der seinen Fokus vor allem auf die Beschreibung detaillierter Brutalität bei Stingers Suche nach dem außerirdischen Ausreißer legt. Zwar stellt der Autor zu Beginn eine Menge interessanter Charaktere vor, doch mehr als eine kurze Vita der Hammonds, der Witwe der Preston-Kupfermine, des in kriminelle Machenschaften verwickelten Unternehmers Mack Cade, der auch Sheriff Vance auf seiner Gehaltsliste stehen hat, und der Vater-Sohn-Beziehung von Curt und Cody, bietet er nicht an. Selbst die Rivalität zwischen Rick und Cody sowie ihre gemeinsame Sorge um Ricks Schwester Miranda wird nur oberflächlich abgehandelt. Dieses Vorgehen verhindert, dass McCammons Publikum wirklich tief in die Geschichte eintauchen kann und nur wenig Empathie für das Schicksal der Stadt und ihrer Einwohner aufbringt. 
„Die schwarze Pyramide“ verschenkt so leider einen Großteil seines Potenzials und gefällt vor allem durch McCammons sprachliche Gewandtheit. 

 

Robert R. McCammon – „Wandernde Seelen“

Samstag, 20. Januar 2024

(Knaur, 446 S., Tb.) 
Mit seinen ersten Romanen „Baal“, „Höllenritt“, „Tauchstation“ und „Blutdurstig“ avancierte der US-Amerikaner Robert R. McCammon vor allem Anfang der 1980er Jahre zu einem der interessantesten Horror-Autoren der Neuzeit. Auch wenn er stets in zweiter Reihe hinter Autoren wie Stephen King, Peter Straub, Dan Simmons, Clive Barker und Dean Koontz stand, präsentierte McCammon bis in die 1990er Jahre hinein atmosphärisch dichte Gruselgeschichten, die vor allem sprachlich weit über dem Durchschnitt des Genres lagen. Mit „Wandernde Seelen“, 1983 unter dem Originaltitel „Mystery Walk“ veröffentlicht, eroberte McCammon 1988 auch das deutsche Horror-Publikum. 
Billy Creekmore lebt in den 1960er Jahren in der kleinen Ortschaft Hawthorne, Alabama, und verfügt wie seine Mutter Ramona, die zu einem Viertel eine Choctaw-Indianerin ist, über die außergewöhnliche Gabe, mit den Toten zu reden und ihnen gerade nach einem gewaltsamen Tod Frieden zu verleihen. Davon will sein Vater, ein fundamentalistischer Baptist, nichts wissen. 
Als Dave Booker seine Frau Julie Ann und seinen Sohn Will tötet und das Haus abbrennt, wird Billy wie magisch von den Ruinen des Hauses angezogen und findet die Leiche seines Schulfreundes unter dem Kohlehaufen im Keller. Zu dieser Zeit macht sich der prominente Zelt-Prediger Jimmy Jed „J.J.“ Falconer mit seinem Sohn Wayne auf den Weg nach Hawthorne, um auch dort – wie zuvor in anderen Teilen des Südens – allerlei Menschen von ihren Schmerzen, Missbildungen und Krankheiten zu heilen und so Teilnehmer des Falconer-Kreuzzugs zu gewinnen. Die Familie Creekmore nimmt an dem Erweckungsgottesdienst teil und wird Zeuge, wie Wayne einige Kranke heilt, doch sowohl Billy als auch seine Mutter nehmen die schwarzen Wolken in der Aura der Todgeweihten wahr. Als Ramona sich erhebt und gegen die ihrer Meinung nach verwerflichen Praktiken protestiert, werden die Creekmores aus dem Zelt verwiesen. Romana sucht mit Billy ihre Mutter Rebekah auf, die Billy in das Geheimnis seines spirituellen Erbes eingeweiht wird. 
Sieben Jahre später besucht Billy die Oberschule in Fayette County, der Heimat der Falconers. Billy wird vom Besitzer des örtlichen Sägewerks gebeten, den Geist eines Mannes zu vertreiben, der bei einem Unfall mit einer Säge auf schreckliche Weise ums Leben gekommen ist, worauf die Arbeiter von den unheimlichen Geräuschen im Werk so abgeschreckt worden sind, dass sie nicht mehr zur Arbeit kommen. Zwar hat Billy mit seiner Methode Erfolg, doch von den örtlichen Christen erntet Billy nur Hohn und Spott. In einer Zeit, in der vor allem im Süden die Rassentrennung noch gelebte Realität ist, werden Ramona und Billy schließlich aus dem Dorf gejagt, während John als strenggläubiger und rechtschaffender Christ bleiben darf. Billy heuert bei der Gespenstershow von Dr. Mirakel an und verliebt sich in die Tänzerin Santha. 
Von dort aus zieht es ihn nach Chicago, wo Dr. Hillburn in ihrem Institut feststellen will, wie es wirklich um Billys paranormale Fähigkeiten bestellt ist. Während die Falconers einen Plan schmieden, Billy und Ramona aus dem Verkehr zu ziehen, wird Billy in den Ruinen eines niedergebrannten Wohnhauses mit mehreren unruhigen Geistern konfrontiert… 
„Überall um sich herum konnte er sie ahnen. Sie waren im Rauch, in der Asche, in den verbrannten Gebeinen und entstellten Gestalten. Sie waren in der Luft und in den Wänden. Es gab an diesem Ort zu viel Seelenqual; tonnenschwer lag sie in der dichten Luft, und das Entsetzen darin knisterte wie Strom. Doch Billy wusste, dass es zum Fliehen nun zu spät war. Er würde tun müssen, was er konnte.“ (S. 375f.)
Robert R. McCammon hat mit „Wandernde Seelen“ vor allem einen einfühlsamen Coming-of-Age-Roman über zwei Brüder geschrieben, die nach ihrer Trennung in spirituell unterschiedlich geprägten Familien aufgewachsen sind und sich im frühen Erwachsenenalter mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten und den Erwartungen auseinandersetzen müssen, die von den Bedürftigen im südlichen Teil der Staaten an sie gestellt werden.  
McCammon gelingt es dabei sehr überzeugend, die unterschiedlichen Geisteshaltungen zu beschreiben, die den Lebenswelten der Creekmores auf der einen und der Falconers auf der anderen Seite zugrunde liegen. Der Kampf zwischen Adler und Schlange treibt schließlich die Handlung voran und macht vor allem deutlich, dass die wahren oder eingebildeten Fähigkeiten der beiden Brüder nur zwei Seiten derselben Medaille sind. Dabei berücksichtigt der Autor sowohl die giftige Atmosphäre der Rassendiskriminierung als auch die spirituelle Tradition der amerikanischen Ureinwohner, das Streben nach Macht ebenso wie den Wunsch, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. 
Zwar beugt sich McCammon im Finale etwas zu sehr den Konventionen des Genres, doch zählt „Wandernde Seelen“ definitiv zu den besseren Frühwerken des Autors.