Stephen King – „Zwischen Nacht und Dunkel“

Montag, 22. November 2010

(Heyne, 527 S., HC)
In den vergangenen Jahren hat der „King des Horrors“ immer wieder mal zu den literarischen Formen zurückgefunden, die seinen Ruhm mitbegründet haben. Viele seiner Storys aus den Kurzgeschichten- und -romansammlungen wie „Nachtschicht“, „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ oder „Nightmares & Dreamscapes“ sind verfilmt worden und zeugen so von der erzählerischen Qualität des preisgekrönten Bestseller-Autors. „Im Kabinett des Todes“ und „Sunset“ waren die letzten Bücher, die kürzere Werke von Stephen King vereinten, mit „Zwischen Nacht und Dunkel“ legt er nun vier Kurzromane vor.
„1922“ schildert das Geständnis des einfachen Maisfarmers Wilf Leland James, seine Frau Arlette mit Hilfe seines vierzehnjährigen Sohnes Henry umgebracht zu haben. Sie wollte unbedingt die 40 Hektar Land, das ihr von ihrem Vater vermacht worden war, an die Farrington Company verkaufen, am besten zusammen mit den 30 Hektar, die die James-Familie selbst bewirtschaftete, damit sie allesamt ein neues Leben in Omaha beginnen könnten. Doch bevor sie den Handel mit dem Anwalt der Schweinezuchtfabrik abschließen kann, schneidet ihr Wilf die Kehle durch und schmeißt die Leiche in den Brunnen, und die alternde Kuh Elpis gleich obendrauf. Natürlich stellen sowohl Sheriff Jones als auch der Anwalt der Farrington Company Nachforschungen an, doch können sie Wilfs Geschichte, dass Arlette wahrscheinlich nach Omaha getürmt sei, nicht widerlegen. Doch scheint es, dass nicht nur Ratten aus dem zugeschütteten Brunnen an die Oberfläche zurückkehren, sondern etwas viel Schlimmeres …
„Es erwarten uns stets schlimmere Dinge. Man glaubt, das Allerschlimmste gesehen zu haben: diese eine Sache, die alle Albträume, die man je gehabt hat, zu einem grotesken Horror vereinigt, der tatsächlich existiert, und der einzige Trost ist, dass es nichts Schlimmeres geben kann. Auch wenn es etwas gäbe, würde man bei seinem Anblick überschnappen und nichts mehr davon wahrnehmen. Aber es gibt Schlimmeres, und trotzdem schnappt man nicht über und macht irgendwie weiter. Man begreift vielleicht, dass es für einen auf dieser Welt nie wieder Freude geben wird, dass durch die eigene Tat alles, was man zu gewinnen hoffte, unerreichbar geworden ist, und wünscht sich vielleicht, man wäre selbst tot – aber man macht weiter. Man erkennt, dass man in einer selbst geschaffenen Hölle ist, aber man macht trotzdem weiter. Weil einem nichts anderes übrigbleibt.“ (S. 68)
Schlimmes widerfährt in „Big Driver“ auch der Schriftstellerin Tess, die mit ihrer populären Reihe über die Hobbydetektivinnen des Strickclub Willow Grove monatlich eine Lesung veranstaltet, deren Erlös sie in ihren Pensionsfonds einzahlt. Die einzigen Bedingungen, die sie an diese Engagements knüpft, sind ein Mindesthonorar von 1200 Dollar und eine Entfernung, die nicht mehr als eine Übernachtung auf Hin- und Rückfahrt verursacht. Die Einladung von Books & Brown Baggers passte perfekt in dieses Schema. Chicopee war nicht mal sechzig Meilen von Stoke Village entfernt, und das Honorar lag dreihundert Dollar über dem Mindestsatz. Alles geht auch reibungslos über die Bühne, doch als Tess den Vorschlag der Veranstalterin Ramona Norville annimmt, auf dem Rückweg eine Abkürzung zu nehmen, fällt sie nach einer Autopanne einem Riesen in die Hände, der mehr mit Tess vorhat, als ihr nur den Reifen zu wechseln …
Der durch seinen Krebs zum Tode verurteilte Familienvater Dave Streeter erhält eine „Faire Verlängerung“ seines Lebens, als er an der verlassenen Fahrbahn am Derry County Airport einen teuflischen Deal mit George Elvid eingeht: Für mindestens fünfzehn weitere Lebensjahre muss er nicht nur fünfzehn Jahre lang 15% seines Einkommens an Elvid abgeben, sondern das Unglück, das ihm genommen wird, auf jemanden abwälzen, den er aus tiefstem Herzen hasst. Streeter muss eine Weile überlegen, doch dann fällt ihm sein alter Schulkumpel Tom Goddhugh ein, der damals Daves Freundin Norma Witten ausgespannt hat und nun erfolgreicher Unternehmer ist. Tatsächlich wendet sich das Blatt umgehend zu Streeters Gunsten. Während sein Arzt ungläubig den Rückgang der Krebszellen diagnostiziert und Daves Karriere in Schwung kommt, geht es mit Tom, seiner Familie und seinem Wohlstand rasant bergab …
Die unscheinbare Darcellen Madsen führt seit 27 Jahren „Eine gute Ehe“ mit dem ebenso farblosen Steuerberater Bob Anderson. Gemeinsam machten sie 1986 einen Versandhandel für amerikanische Sammlermünzen auf und zogen mit Petra und Donnie zwei bezaubernde Kinder groß. Doch in der Nacht, als die TV-Fernbedienung ihren Geist aufgibt und Darcy in der Garage nach Batterien sucht, stößt sie nicht nur auf Bondage-Sex-Magazine, sondern auch auf Plastikkarten von Marjorie Duvall, deren Leiche in einer Schlucht jenseits der Stadtgrenze von North Conway aufgefunden wurde. Diese Entdeckung stellt das Bild über ihren Ehemann natürlich völlig auf den Kopf. Doch bevor sie überlegen kann, was sie mit diesem schrecklichen Wissen anfangen soll, hat Bob von ihrer Entdeckung schon erfahren …
Stephen King erweist sich in diesen vier Kurzromanen mal wieder als Meister seines Fachs. Mit faszinierender Präzision taucht er in die psychischen Abgründe der menschlichen Seele ein und fördert Erschreckendes zutage. Daraus sind packende, kurzweilige Geschichten entstanden, die wunderbare Drehbuchvorlagen darstellen!
„In ‚Zwischen Nacht und Dunkel‘ habe ich mein Bestes versucht, um festzuhalten, was Menschen tun und wie sie sich unter bestimmten Umständen verhalten könnten. Die Leute in diesen Storys sind nicht ohne Hoffnung, aber sie müssen erkennen, dass selbst unsere kühnsten Hoffnungen (und unsere innigsten Wünsche für unsere Mitmenschen und die Gesellschaft, in der wir leben) manchmal vergeblich sein können. Sogar oft. Aber ich glaube, dass sie auch zeigen, dass Adel sich in erster Linie nicht im Erfolg, sondern in dem Versuch manifestiert, das Rechte zu tun …“, schreibt King im Nachwort (S. 525). 
Dieses Bemühen ist ihm wieder eindrucksvoll gelungen!


 

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