Jed Rubenfeld – „Todesinstinkt“

Samstag, 23. Juli 2011

(Heyne, 624 S., HC)
Kurz nachdem Punkt zwölf Uhr die Glocken der Trinity Church läuteten, erschüttert am 16. September 1920 eine Explosion die Wall Street. Erst eine Stunde vorher hatten sich Jimmy Littlemore, ein 35-jähriger Detective der New Yorker Polizei, und der gleichaltrige Stratham Younger, der 1917 seine Arzt-Praxis in Boston und sie wissenschaftliche Forschung in Harvard aufgegeben hatte, um sich für einen Kriegseinsatz in Frankreich zu melden, nach langer Zeit wiedergesehen. Younger stellte seinem Freund die aus Frankreich mitgebrachte Freundin Colette Rousseau vor, die dem Detective einen zerknitterten Zettel mit mysteriöser Botschaft und einen darin eingewickelten Zahn übergab.
Nach dem Chaos, das die Explosion in New York hinterlassen hat, fällt Littlemore eine tags zuvor in Toronto abgestempelte und an George F. Ketledge in New York adressierte Postkarte in die Hände, in der dieser gewarnt wird, am 15. September vor drei Uhr die Wall Street zu verlassen. Hinter dem Anschlag werden sogenannte Terroristen vermutet, die als Sammelbegriff Anarchisten, Sozialisten, Nationalisten, Fanatiker, Extremisten und Kommunisten umfassen. Wenig später wird Colette von einem Trio ausländischer Männer entführt, gelangt aber wohlbehalten zu Younger zurück. Ob es eine Verbindung zwischen all diesen Vorkommnissen gibt, wollen Littlemore und Younger herausfinden, allerdings will ihnen das FBI die Ermittlungen abnehmen, das sich allerdings auch schwer mit der Aufklärung des kapitalen Verbrechens tut.
„Überall, wo sich Menschen versammelten, war das Unbehagen mit Händen zu greifen. Die Welle von Verhaftungen und Deportationen war ungebrochen, aber der terroristische Anschlag blieb ungeklärt. Mächtige Menschen – Reiche, Gouverneure, Senatoren – verlangten die erneute Mobilmachung. Zeitungen forderten Krieg. Die Wolke aus Rauch und flammendem Staub, die am 16. September die Sonne an der Wall Street verhüllt hatte, hatte sich noch nicht gelegt. Im Gegenteil, ihr Schleier hatte sich über die ganze Nation gelegt.“ (S. 325 f.)
Littlemore wird von seiner Polizeiarbeit entbunden und tritt in die Dienste des Schatzamts ein, um den Verbleib des gestohlenen Goldes im Wert von vier Millionen Dollar aufzuklären. Dabei stellt er bald fest, dass die beteiligten Männer in den Schaltzentralen der Macht es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen …
Ähnlich wie bei seinem außergewöhnlichen Debütroman „Morddeutung“ hat sich der amerikanische Professor und Schriftsteller Jed Rubenfeld für sein Zweitwerk einen der spektakulärsten Terrorakte in den USA als Grundlage für die interessante Spekulation über die Auflösung des nie aufgeklärten Anschlags gewählt. Seine beiden Protagonisten lässt er dabei in etliche heikle Situationen stolpern und den stummen Sohn von Youngers Freundin Colette in Wien von Sigmund Freud therapieren, der eine der Hauptrollen in „Morddeutung“ spielte. Parallelen zum Auftreten der USA nach dem berüchtigten 11. September sind dabei unverkennbar, aber über die Aufklärung des Attentats hinaus setzt sich Rubenfeld auch noch mit Marie Curie und der Wirkung von Radium sowie der Theorie des titelgebenden Todestriebs auseinander, die Freud 1920 in seinem Aufsatz „Jenseits des Lustprinzips“ darlegte. Freunde historischer Krimis mit wahrem Hintergrund dürften bei diesem elegant geschriebenen Thriller ihre Freude haben, auch wenn die Handlung etwas stringenter hätte vorangetrieben werden können. Doch Rubenfeld hat mit Littlemore und Younger zwei starke Figuren geschaffen, die wie das Literatur–Pendant zur Holmes & Watson-Inkarnation in Guy Ritchies „Sherlock Holmes“ wirken.
Lesen Sie im Buch „Todesinstinkt“

Jussi Adler-Olsen - (Carl Mørck 3) „Erlösung“

Montag, 11. Juli 2011

(dtv, 591 S., Pb.)
Das Sonderdezernat Q des Polizeipräsidiums in Kopenhagen widmet sich unter der Leitung von Carl Mørck alten ungelösten Fällen. Mørck , seinem muslimischen Assistenten Assad und der eigenwilligen Rose fällt eine Flaschenpost aus dem Jahre 1996 in die Hände, die zunächst an der Küste von Schottland aufgefunden wird, aber viele Jahre unbeachtet im Küstenstädtchen Wick auf der Polizeiwache herumstand.
Nach ersten Analysen durch die schottischen Kollegen versucht die Mannschaft des Sonderdezernats das mit Blut beschriebene, kaum noch leserliche Schriftstück zu entziffern und fügt durch Hilfe von Kollegen die Textfragmente wie ein Puzzle zusammen. Während die Ermittler auf den Namen Poul Holt stoßen, der den Hilferuf unterschrieben hat, gehen Carl Mørck & Co aber auch einer Reihe von Brandstiftungen nach, bei denen offenbar schon vorher verbrannte Leichen aufgefunden werden, deren Einkerbungen am kleinen Finger darauf schließen lassen, dass die Opfer einer religiösen Sekte angehören. In diese Richtung führt auch die Suche nach Poul Holt. Und schon wird Carl Mørck klar, warum sich der Kidnapper ausgerechnet Kinder aus einer der vielen Sekten auswählt, die in der dänischen Gesellschaft integriert sind.
„‘Der Entführer sucht sich eine kinderreiche Familie aus“, fuhr Carl fort, während er nach Gesichtern Ausschau hielt, an die zu wenden es sich lohnte. ‚Eine Familie, die – als Zeugen Jehovas – in vielerlei Hinsicht isoliert in der sie umgebenden Gesellschaft lebt. Eine Familie, die relativ starr in ihren Gewohnheiten verankert ist und ein außerordentlich restriktives Leben führt. Eine Familie, die zuletzt auch noch vermögend ist, nicht wirklich steinreich, aber reich genug. Aus dieser Familie wählt der Mörder zwei Kinder aus, die innerhalb der Kinderschar irgendwie einen besonderen Status haben. Er entführt sie beide, und nachdem das Lösegeld bezahlt ist, ermordet er das eine und lässt das andere frei. Jetzt weiß die Familie, wozu er imstande ist. Der Mörder droht dann, er sei bis in alle Zukunft bereit, ohne Vorwarnung ein weiteres Geschwisterkind umzubringen, sollte er den Verdacht hegen, die Familie habe sich mit der Polizei oder der Gemeinde in Verbindung gesetzt oder versuche auf eigene Faust, ihn zu finden.“ (S. 266)
Carl Mørck und sein Team haben alle Hände voll zu tun, die Identität des gewieften Kidnappers und Killers zu ermitteln. Er bewegt sich nicht nur unter verschiedenen Namen, sondern auch mit raffinierten Verkleidungen durch seine „Fanggebiete“ und schreckt vor keinen Mitteln zurück, seine Spuren hinter sich zu verwischen.
Nachdem der vorangegangene zweite Fall „Schändung“ nicht ganz die Erwartung erfüllen konnte, die der furiose Erstling „Erbarmen“ geschürt hat, nimmt Adler Olsen mit „Erlösung“ von Beginn an so richtig Fahrt auf. Die Reihe von ausgetüftelt organisierten Kindesentführungen und –morden in den Reihen dänischer Glaubensgemeinschaften, die es vorziehen, unter sich zu bleiben, geht dem Leser schnell nahe. Der Autor beschreibt sowohl das perfide Handeln des Kidnappers/Killers als auch die Leiden seiner Mitmenschen, die nur ahnen, dass hinter seiner bürgerlichen Maske etwas Böses lauert. Den Wettlauf gegen die Zeit, die das Sonderdezernat Q beim Auffinden der vermissten Kinder zu absolvieren hat, ist actionreich und extrem spannend geschrieben. So muss ein moderner Thriller sein! Einzig die interessanten Persönlichkeiten des Sonderdezernats könnten noch besser ausgeleuchtet werden. Hier sorgt der erfrischende Humor im Umgang zwischen den Kollegen für wohltuende Ablenkung von dem harten Fall, aber Privates wird wieder nur häppchenweise abgerissen. Das macht zumindest neugierig auf die Folgebände.
Lesen Sie im Buch "Erlösung"