Clive Barker - „Abarat – In der Tiefe der Nacht“

Sonntag, 29. Januar 2012

(Heyne, 624 S. HC Leinen im Schuber)
In den 80er Jahren ist Clive Barker mit den „Büchern des Blutes“ als Erneuerer der Horror-Literatur weltberühmt geworden, indem er die Grenzen des Genres bis zum Extremen ausweitete und so zum Mitbegründer der harten Splatterpunk-Spielart erkoren wurde. Seither hat sich der in Liverpool geborene, in Beverly Hills lebende Roman- und Drehbuchautor, Regisseur, Produzent und Maler in den Bereich der dunklen Fantasy verlegt und Meisterwerke wie „Imajica“, „Gyre“ oder „Jenseits des Bösen“ abgeliefert. Was für seinen Kollegen Stephen King die siebenteilige Saga um den „Dunklen Turm“ gewesen ist, stellt für Clive Barker das mittlerweile auf fünf Bände angelegte Epos „Abarat“ dar, nämlich ein apokalyptisches Magnum Opus, das von berauschender Magie durchwebt ist.
Im Mittelpunkt der epischen Geschichte steht Candy Quackenbush, die als 15-Jährige in ihrer unspektakulären Heimatstadt Chickentown einmal über die Stadtgrenzen hinaus gewandert ist und von einer goldenen Wolke angezogen über das Meer Izabella nach Abarat gelangt ist, einem Archipel von 25 Inseln, die jeweils eine Stunde des Tages sowie ein außerhalb der Zeit repräsentieren. Als sie erfährt, dass sie allein den Schlüssel in der Hand hält, Abarat davor zu bewahren, von Lord Carrion in Dunkelheit versinken zu lassen, beginnt für sie eine abenteuerliche, lebensgefährliche Reise, die sie und ihre Gefährten – wie die Gesh-Ratte Malingo und die acht John-Brüder – von Insel zu Insel führen. Zu Beginn von “In der Tiefe der Nacht” muss sich Candy zunächst in Yebba Dim Day vor der Ratskammer verantworten. Sie wird angeklagt, ohne Einladung mit der festen Absicht nach Abarat gekommen zu sein, um Ärger zu stiften und Mater Motley zu ärgern. Zwar geht das Verhör glimpflich aus, doch Candy sieht sich veranlasst, die Hafenstadt auf dem Weg in die Straße der Dämmerung umgehend zu verlassen, denn Mater Motley hat bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt, Candy aufzuspüren und das Abarat nach ihren Vorstellungen neu entstehen zu lassen.
„Eine Dunkelheit zog auf. Eine riesige und unerbittliche Dunkelheit, die jeden Stern, der in den Stunden der Nacht leuchtete, auslöschen würde, genau wie sie jeden Mond zur selben Stunde verfinstern würde und zur selben Zeit alle Sonnen, die in den Himmeln des Tages strahlen, verdunkeln würde. Hätten die Propheten ihre Eitelkeit und Selbstsucht überwunden, als die ersten Vorzeichen der Dunkelheit in ihre Schädel gekrochen waren, und ihre Ängste miteinander geteilt, anstatt sich an ihnen festzuhalten wie an tödlichen Besitztümern, dann hätten sie vielleicht die tragischen Konsequenzen abwenden können, die ihr Neid und ihre Habgier nach sich zogen. Die Tragödie war nicht nur der Verlust dieser prophetischen Seelen, die dem Wahn und der Selbstzerstörung zum Opfer fielen. Die Tragödie war, dass das Abarat in einen Albtraum stürzte, der es auf ewig verändern würde und aus dem es kein Erwachen gab.“ (S. 176 f.) 
Candy stellt allerdings fest, dass sie selbst mit Magie umgehen kann. Doch selbst ihre unvorhergesehenen Kräfte scheinen gegen die grausamen Vorhaben von Mater Motley nichts ausrichten zu können. Erst als Candy zu verstehen beginnt, dass die drei Carrion-Generationen ein dunkles Geheimnis verbindet, gelingt Candy das rettende Ablenkungsmanöver …
Auch wenn der dritte „Abarat“-Band mit stolzen 78 € zu Buche schlägt, ist der Preis mehr als gerechtfertigt. Schließlich gelangen gerade mal 1650 nummerierte Exemplare dieses epochalen Fantasy-Schmuckstücks in den Handel, wobei die über 600 Hochglanzseiten mit mehr als 100 Illustrationen des Autors verziert sind, die dieser in zwölf Jahren in Öl auf Leinwand kreiert hat (für den gesamten „Abarat“-Zyklus).
Clive Barker will seinen Lesern so mehrere Ebenen des Zugangs zu seiner fantastischen Geschichte gewähren, der nicht immer leicht zu folgen ist, die aber vor überbordender Imagination und Sprachgewalt nur so strotzt. Ähnlich wie Walter Moers mit seinen Zamonien-Schmökern entfacht Clive Barker mit den „Abarat“-Büchern eine ganz eigene Welt voller skurriler Figuren, sonderbarer Magie und schillernden wie düsteren Welten zwischen dem Hernach und Einstweilen, dass es ein intellektueller Spaß sondergleichen ist, sich in diese fremden Welten entführen zu lassen.
Lesen Sie im Buch: Clive Barker – „Abarat – In der Tiefe der Nacht“

David Nicholls – „Ewig Zweiter“

Sonntag, 15. Januar 2012

(Kein & Aber, 384 S., HC)
Stephen C. McQueen wartet seit Beginn seiner jetzt elfjährigen Schauspielkarriere auf den großen Durchbruch. Bislang hat es für den Namensvetter des großen amerikanischen Darstellers Steve McQueen („Bullitt“) nur für die Darstellung von sechs Leichen gereicht und eine Hauptrolle als Sammy das Eichhörnchen. Und nun spielt der 32-Jährige die Zweitbesetzung der Hauptrolle in einem Stück über Lord Byron am Hyperion Theatre in London.
Wochenlang wartet er darauf, dass sein Freund Josh Harper, der jüngst von den Leserinnen einer Frauenzeitschrift zum zwölftsexiesten Mann der Welt gekürt wurde, seine Rolle nicht antreten kann, damit Stephen dem Publikum endlich zeigen kann, was in ihm steckt. Seine Ex-Frau Alison nimmt Stephens Ambitionen ebenso wenig ernst wie seine aufgeweckte siebenjährige Tochter Sophie, doch Stephen glaubt nach wie vor unerschütterlich an seine Chance.
„Was Ruhm anging, wollte er gar nicht prominent sein, oder zumindest nicht so weltberühmt wie Josh Harper. Er musste sein Bild nicht auf Kühlschrankmagneten oder Happy Meals entdecken. Auch hatte er nicht das Verlangen, seine alten Kippen bei eBay versteigert zu sehen, oder das dringende Bedürfnis, in Restaurants den besten Tisch zu ergattern, oder den geheimen Wunsch, im Urlaub auf der Privatinsel eines Freundes per Teleobjektiv schmerbäuchig in Badehosen abgelichtet zu werden. Ruhm interessierte Stephen nur als unvermeidlicher, wenn auch nicht unangenehmer Nebeneffekt guter Arbeit. Alles, was er wollte, war Vollbeschäftigungsruhm. Anerkennungsruhm. Was es umso frustrierender machte, in einem Schauspieljob festzustecken, der praktisch keine Schauspielerei erforderte.“ (S. 33) 
Als Josh ihn zu einer privaten Party einlädt, hofft seine Zweitbesetzung darauf, wichtige Kontakte zu Agenten, Produzenten und Regisseuren knüpfen zu können, dabei wollte Josh ihn nur als zusätzlichen Kellner engagieren. Wenigstens lernt Stephen auf der Party Joshs außergewöhnliche Frau Nora kennen und verliebt sich sofort in sie. Stephen gerät zwischen alle Fronten, als er zufällig Zeuge wird, wie Josh in der Garderobe seine Kollegin vögelt, und Josh ihn natürlich bittet, Nora nichts von seinen sexuellen Eskapaden zu erzählen. Doch genau das würde Stephen am liebsten tun, weil er mit dieser Enthüllung Nora in seine Arme treiben könnte. Stattdessen wird sein Leben noch komplizierter, als es ohnehin schon gewesen ist …
Bereits mit seinem Romandebüt „Keine weiteren Fragen“ hat sich der britische Autor David Nicholls eines Antihelden angenommen, den er auf sympathische Weise durch ein verkorkstes Leben taumeln ließ. Dass das Konzept auch im Nachfolgewerk vollkommen aufgeht, ist Nicholls sehr lebendiger Sprache, der authentischen Zeichnung seiner Figuren und eines überzeugenden Plots zu verdanken, der mit viel augenzwinkerndem Humor vorangetrieben wird, ohne seinen Protagonisten der Lächerlichkeit preiszugeben.