John Grisham – “Verteidigung”

Freitag, 21. September 2012

(Heyne, 464 S., HC)
Fünf Jahre in der Tretmühle von Chicagos renommierter Kanzlei Rogan Rothberg sind für David Zinc mehr als genug. Fünf Jahre, in denen Zinc sechs Tage die Woche von frühmorgens bis spätabends schuftete, aber immerhin gutes Geld nach Hause brachte. Doch eines Tages steigt er nicht aus dem Fahrstuhl im Trust Tower aus, um sich zu seinen sechshundert Kollegen zu gesellen, sondern fährt wieder nach unten und fühlt eine enorme Erleichterung, als er den Entschluss fasst, nie wieder zurückzukehren. Stattdessen kehrt er in eine Bar ein und lässt sich den ganzen Tag volllaufen. Anschließend torkelt er in die nächstbeste Kanzlei und bittet um einen Job. Bei der zufällig ausgesuchten „Boutiquekanzlei“ handelt es sich um Finley & Figg, die überwiegend Personenschäden bearbeitet, die sie an der nahen Kreuzung aufgabelten, wenn es mal wieder ordentlich krachte.
Der 62-jährige Seniorpartner Oscar Finley leidet vor allem daran, noch immer mit seiner ersten Frau verheiratet zu sein, die ihm das Leben zur Hölle macht, sein 45-jähriger Juniorpartner Wally Figg ist vor allem für die billige Kanzleiwerbung zuständig und markiert den knallharten Prozessanwalt. Als sich Zinc bei einem dieser Unfälle positiv hervortut, nehmen Finley & Figg den jungen Mann bei sich auf und bekommen bald an einen Fall, der endlich das große Geld bringen könnte. Durch einen ihrer Mandanten erhalten sie den Hinweis, dass das cholesterinsenkende Medikament Krayoxx Menschenleben kostet. Eifrig suchen Finley & Figg nach weiteren Todesfällen und hängen sich an die große Kanzlei Zell & Potter, die auf Sammelklagen spezialisiert ist. Das Ziel ist ein Vergleich, der nicht nur die Klägerparteien entschädigt, sondern auch für die beteiligten Anwälte ein hübsches Sümmchen abwirft. Tatsächlich scheint der immer wieder in den Schlagzeilen stehende Pharmakonzern Varrick Labs ungewöhnlich schnell auf einen Vergleich eingehen zu wollen.
„Warum war David beunruhigt? Schließlich würde es ja keine Verhandlung geben, richtig? Alle Anwälte auf seiner Seite des Gerichtssaals glaubten, hofften und beteten, dass Varrick Labs für Krayoxx einen Vergleich schließen würde, lange bevor es mit den Verhandlungen losging. Und wenn man Barkley von der Gegenseite glauben konnte, rechneten auch die Anwälte der Beklagten mit einem Vergleich. War das Ganze ein abgekartetes Spiel? Funktionierte so das Sammelklagengeschäft? Jemand stellt fest, dass ein Medikament gesundheitsschädlich ist, die Anwälte der Kläger sammeln so viele Mandate wie möglich, Klagen werden eingereicht, die Verteidiger des Beklagten reagieren mit endlosem Nachschub an teuren Rechtsbeiständen, beide Seiten kämpfen mit harten Bandagen und so lange, bis der Hersteller des Medikaments es leid ist, andauernd fette Schecks auszustellen. Daraufhin wird ein Vergleich ausgehandelt, die Anwälte der Kläger stecken ein gigantisches Honorar in die Tasche, und ihre Mandanten bekommen viel weniger, als sie erwartet haben. Wenn der Staub sich gelegt hat, sind die Anwälte auf beiden Seiten ein gutes Stück reicher, und das Pharmaunternehmen bereinigt seine Bilanz und entwickelt ein neues Medikament. War das Ganze nichts anderes als unterhaltsames Theater?“ (S. 228) 
David Zincs Unruhe ist nicht unbegründet, wie sich bald herausstellt, denn es fehlen dringend benötigte Beweise, die Krayoxx mit den Todesfällen in Verbindung bringt. Vor Gericht entwickelt sich das Verfahren schnell zu einem Rohrkrepierer, das die Zukunft der Kanzlei gefährdet …
John Grisham hat sich in den meisten seiner Justiz-Thriller auf Fälle spezialisiert, in denen junge Anwälte den Kampf gegen übermächtige Konzerne aufnehmen. In dieser Tradition steht auch „Verteidigung“. Während sich der Verhandlungsverlauf in absolut vorhersehbaren Bahnen bewegt und wenig Spannung aufbauen lässt, sind es vor allem die charismatischen Protagonisten, die dem Thriller Leben einhauchen und das Lesevergnügen begründen. „Verteidigung“ zählt sicher nicht zu den Highlights unter den über zwanzig Romanen, die Grisham bereits auf seinem Konto verbuchen kann, dazu wirkt die Geschichte doch sehr wie am Reißbrett konstruiert. Aber die lebendigen Portraits der ganz unterschiedlichen Anwaltsfiguren machen das Buch letztlich doch lesenwert.
Leseprobe John Grisham – „Verteidigung“

Ryan David Jahn – “Ein Akt der Gewalt”

Dienstag, 11. September 2012

(Heyne, 287 S., Tb.)
Nach einer wieder mal langen Nacht macht sich die knapp dreißigjährige Barfrau Katrina Marino morgens um vier Uhr auf den Heimweg. Nachdem sie noch einen platten Reifen an ihrem Auto wechseln musste, freut sie sich nur noch auf ein warmes Bad. Sie hat schon den Wohnungsschlüssel im Schloss stecken, als sie von hinten an den Haaren gepackt wird und einen Messerstich an ihrer Schulter spürt. Der Täter sticht noch einmal zu und lässt sein Opfer blutend zurück. Einige von Kats Nachbarn beobachten den Vorfall oder sehen sie später am Hauseingang sitzen, fühlen sich aber nicht zuständig, ihr zu helfen oder die Polizei zu rufen.
Da ist Patrick, der seine todkranke Mutter pflegt und nicht weiß, wie er ihr beibringen soll, dass er zur Musterung aufgefordert worden ist und vielleicht nach Vietnam muss. Da ist die betrogene Ehefrau Diane Myers, die ihrem Mann Larry entlocken will, mit wem er sie betrügt. Da ist Larrys einsamer Bowling-Kumpel Thomas, der seinem armseligen Leben ein Ende setzen will. In einem anderen Apartment haben sich Peter Adams und sein Arbeitskollege Ron jeweils mit den Frauen des anderen vergnügt. Während all diese und einige weitere Menschen ihre eigenen kleinen wie großen Probleme zu bewältigen versuchen, nehmen sie irgendwann von der jungen Frau Notiz, die auf der anderen Straßenseite hilflos am Hauseingang sitzt, doch nichts unternehmen.
„Sie sieht sich um. Die meisten Gesichter, die vorher zu ihr heruntergeblickt haben, sind verschwunden. In den meisten Wohnzimmern ist das Licht gelöscht worden. Aber einige sind noch erleuchtet, und in anderen kann man, obwohl das Licht mehr brennt, Menschen sehen, die am Fenster stehen und sie beobachten. Vielleicht haben sie das Licht ausgemacht, um so einen besseren Blick zu haben, vielleicht auch nicht. Jedenfalls sind da immer noch einige Gesichter mit weißen Augen, die zu ihr herunterblicken. ‚Helft … mir‘, sagt sie. ‚Bitte.‘ Es hatte ein Ruf werden sollen, aber es ist kaum ein Flüstern geworden. Eine schwache Brise. Ein Rascheln von Laub. Für mehr als das hat sie fast keine Kraft – aber sie versucht es. ‚Jemand‘, sagt sie mit brechender Stimme, ‚hilf mir! Bitte!‘ Sie hört die Verzweiflung in der eigenen Stimme. Die Menschen, die in ihren Wohnzimmern stehen und ihr zusehen, rühren sich nicht.“ (S. 123) 
Während Kat schwer verletzt versucht, in ihre Wohnung zu gelangen, um telefonisch Hilfe zu besorgen, bewegen sich ihre Nachbarn in ihrem eigenen Mikrokosmos. Sie haben zwar Notiz von der notleidenden Frau genommen, gehen aber davon aus, dass andere bereits Hilfe gerufen haben, und versuchen, ihre eigenen Probleme in den Griff zu bekommen.
Der amerikanische Autor Ryan David Jahn hat sich für sein Romandebüt „Ein Akt der Gewalt“ von dem Mord an Kitty Genovese inspirieren lassen, der 1964 in den Medien für Aufsehen sorgte und in der Kriminalgeschichte mit dem „Bystander-Effekt“ belegt worden ist. Jahn beschreibt das erschütternde Geschehen allerdings ohne erhobenen Zeigefinger. Die kämpferische Art, mit der das Opfer an seinem Leben festzuhalten versucht, einerseits und der nüchterne Stil, mit dem beschrieben wird, wie Kats Nachbarn die frühen Morgenstunden verbringen, hebt nur umso intensiver hervor, wie fassungslos man als (lesender) Beobachter das Geschehen verfolgt. Doch das Buch bietet noch weitere Themen, so werden Probleme der Sterbehilfe, des Rassismus und verschiedene Arten der Liebe angerissen, dass der Stoff durchaus für mehr als nur 270 Seiten gereicht hätte. Doch in der Kürze liegt bekanntlich die Würze, und „Ein Akt der Gewalt“ schafft es von Beginn an, den Leser mit der Schilderung der dramatischen Ereignisse zu fesseln und bis zum bitteren Finale nicht mehr loszulassen. Als Bonus präsentiert das Buch noch eine Leseprobe aus Jahns neuem Werk „Der Cop“.
Leseprobe Ryan David Jahn – „Ein Akt der Gewalt“

David Ballantyne – “Sydney Bridge Upside Down”

Mittwoch, 5. September 2012

(Hoffmann und Campe, 335 S., HC)
Der dreizehnjährige Harry lebt mit seinem Vater und seinem jüngeren Bruder Cal in dem neuseeländischen Kaff Calliope Bay und wartet darauf, dass seine Mutter, die über den Sommer in die Stadt gezogen ist, zurückkommt. In der Zwischenzeit erwartet er mit Spannung die Ankunft seiner älteren Cousine Caroline. Mit ihr, Cal und dem Nachbarsjungen Dibs erkundet Harry die steile Küste und die Ruine der alten Fleischfabrik.
Besondere Freude bereitet ihm aber das morgendliche, nackte Toben durch das Haus, und Harry beginnt, Caroline vor jeder potentiellen Gefahr zu beschützen, besonders vor dem aufdringlichen Mr. Wiggins. Auch die gelegentlichen Küsse mit spitzen Lippen gefallen dem Jungen. Doch nach und nach scheint Caroline das Interesse an Harry zu verlieren und sich mit älteren Jungs anzufreunden. In dieser Hinsicht nimmt der Ausflug zur Kirmes eine besondere Bedeutung ein.
„In den letzten Tagen, seit einer Woche etwa, hatte ich mir um Caroline einige Sorgen gemacht. Sie war unglücklich, das war nicht zu übersehen, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sagen würde, dass sie Calliope Bay satthatte und nach Hause wollte. Ich hatte lange darüber nachgedacht und war mir inzwischen ziemlich sicher, dass dieses traurige Schweigen unmittelbar nach der Kirmes angefangen hatte. Was ist nur auf der Kirmes passiert, fragte ich mich, dass sie so traurig ist? Der Ausflug hätte sie fröhlich machen sollen! Sie war ganz anders als vorher. Noch bevor ich morgens mit meinem Training anfing, spürte ich, dass sie auf unser altes Spiel keine Lust mehr hatte, mit dem Fangen war es endgültig vorbei. Ich wusste auch nicht mehr so recht, wie ich mich bei dem Spiel verhalten sollte, ich trauerte ihm deshalb nicht nach, aber wenn Caroline gewollt hätte, hätte ich natürlich weiter mitgemacht. Doch seit der Kirmes hatte sie kein Wort mehr darüber verloren, und sie hatte mich auch kein einziges Mal geküsst.“ (S. 235f.) 
Weit beunruhigender sind allerdings die Unglücksfälle, die in dem kleinen Küstenort für Aufsehen sorgen …
David Ballantyne (1924-1986) zählt zu den bekanntesten Schriftstellern Neuseelands und hat mit seinem fünften Roman „Sydney Bridge Upside Down“ (was der Name eines Pferdes ist, das in dem Roman zwar keine tragende Rolle spielt, aber immer mal wieder auftaucht) eine einfühlsam geschriebene Geschichte über einen Jungen vorgelegt, der die Schwelle zum Erwachsenwerden betritt. Vor allem die Gedanken, Sorgen, Glücksmomente und Unsicherheiten im Zusammenhang mit Harrys hübscher Cousine zählen zu den Stärken des Romans, der nicht nur ein Portrait über einen pubertierenden Jungen darstellt, sondern ebenso ein Familiendrama und Gesellschaftsstudie mit tragischem Ausgang.
Leseprobe David Ballantyne - “Sydney Bridge Upside Down”