Carlos Ruiz Zafón – „Der Gefangene des Himmels“

Sonntag, 23. Dezember 2012

(S. Fischer, 403 S., HC)
Beginnend mit dem zum Welt-Bestseller avancierten „Der Schatten des Windes“ hat der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón eine eigene Welt erschaffen, mit der er seine Leser in ein Barcelona entführt, das voller Geheimnisse steckt, die nicht nur im kuriosen Fundus des Friedhofs der vergessenen Bücher schlummern, sondern auch in den historischen Straßen und zwielichtigen Gestalten der außergewöhnlichen Stadt. Mit „Der Gefangene des Himmels“ setzt Zafón seinen erfolgreichen Zyklus um den Buchhändler Daniel Sempere und seine Abenteuer auf gewohnt unterhaltsam-spannende Weise fort.
Das Weihnachtsgeschäft der Buchhandlung Sempere & Söhne läuft 1957 eher schleppend an. Da verkauft Daniel einem eher mürrischen Kunden das teuerste Buch im Laden, eine edle Ausgabe des „Grafen von Monte Christo“. Der geheimnisvolle Mann schreibt eine Widmung ins Buch und beauftragt Daniel, es seinem guten Freund Fermín Romero de Torres zu übergeben. Irritiert von den Worten, die der spendable Kunde hinterlassen hat, verfolgt ihn Daniel bis zu einer billigen Pension, in der sich der Mann unter Fermíns Namen eingetragen hat. Als Daniel seinem alten Freund das Buch übergibt und ihn zur Rede stellt, erfährt er, wie Fermín zu seinem Namen kam, als er 1939 im Gefängnis auf Montjuic erleben musste, wie Hunger, Folter und Korruption hinter den Mauern regierten, wobei dem damaligen Gefängnisdirektor Mauricio Valls eine besondere Bedeutung zukam. Hier kreuzten sich auch die Wege von Fermín und David Martín, Autor von „Das Spiel des Engels“, bis Fermín die spektakuläre Flucht gelang und er im Armenviertel von Barcelona von Armando zu neuem Leben erweckt wurde.
„Seine Tage verstrichen zwischen Schlafen und einer hartnäckigen Müdigkeit. Immer wenn er die Augen schloss und sich der Erschöpfung überließ, reiste er an denselben Ort. In seinem sich Nacht für Nacht wiederholenden Traum erkletterte er die Wände eines unendlichen, mit Leichen angefüllten Grabens. Wenn er oben war und zurückschaute, sah er, dass sich diese Flut geisterhafter Leichen durcheinanderwühlte wie ein Strudel von Aalen. Die Toten schlugen die Augen auf und kletterten hinter ihm die Wände hinauf. Sie folgten ihm durch den Berg und überschwemmten die Straßen Barcelonas, wo sie ihr ehemaliges Zuhause suchten, bei den geliebten Menschen anklopften. Einige machten sich auf die Suche nach ihren Mördern und klapperten rachedurstig die ganze Stadt ab, aber die meisten wollten nur in ihre Wohnung, in ihre Betten zurück, wollten die zurückgelassenen Kinder, Frauen, Geliebten in die Arme nehmen. Es machte ihnen jedoch niemand auf, niemand nahm ihre Hand in die seinen, und niemand wollte ihre Lippen küssen, und der Todkranke erwachte in der Dunkelheit schweißgebadet ob dem ohrenbetäubenden Weinen der Toten in seiner Seele.“ (S. 216)
Doch die Lebensgeschichte von Fermín bildet nur einen Teil von „Der Gefangene des Himmels“. Darüber hinaus gilt es Fermíns Hochzeit mit der schwangeren Bernarda vorzubereiten und Daniels Rivalen Pablo auszuschalten, der seine Ankunft in Barcelona mit einem Brief an Daniels Frau Bea ankündigt und keine Zweifel daran lässt, seine ehemalige Verlobte noch immer zu lieben.
Zafón läuft in seinem neuen Roman zu vertrauter Hochform auf. Von Beginn an packend und rasant erzählt, wird mit „Der Gefangene des Himmels“ ein weiteres Puzzlestück in dem mystisch angehauchten Kosmos eines literarischen Barcelonas enthüllt, dessen Atmosphäre der Autor so meisterhaft zu beschreiben versteht. Virtuos webt der mittlerweile in Los Angeles lebende Autor schaurige Fantastik, labyrinthische Bücherwelten, dramatische Liebesgeschichten, packenden Krimi und das mystische Flair Barcelonas zu einem elegant geschriebenen Meisterwerk, das neugierig macht auf die nächste Episode aus dem Friedhof der vergessenen Bücher …
Leseprobe Carlos Ruiz Zafón – „Der Gefangene des Himmels“

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck 4) „Verachtung“

Samstag, 15. Dezember 2012

(dtv, 542 S., HC)
Nachdem skandinavische Krimi-Autoren wie Henning Mankell und Hakan Nesser jahrelang dafür gesorgt haben, weltweit erfolgreich auf sich aufmerksam zu machen, schien mit der „Millennium“-Trilogie des viel zu früh verstorbenen Stieg Larsson der Höhepunkt der skandinavischen Thriller-Literatur erklommen worden zu sein. Auf der Suche nach ebenbürtigen Autoren ist die Bücherwelt zwar noch nicht wirklich fündig geworden, doch mit dem dänischen Schriftsteller Jussi Adler-Olsen bevölkert seither ein höchst talentierter Mann mit seinen Geschichten um das Sonderdezernat Q die Bestsellerlisten und erfreut sich zunehmender Beliebtheit auch beim deutschen Publikum.
Nach „Erbarmen“, „Schändung“ und „Erlösung“ präsentiert Adler-Olsen mit „Verachtung“ bereits den vierten Roman aus der Reihe um den kauzigen Ermittler Carl Mørck und seinem sehr speziellen Team beim Sonderdezernat Q, das sich im Kopenhagener Polizeipräsidium um alte, nicht abgeschlossene Fälle kümmert. Diesmal landet die Akte von Rita Nielsen auf dem Tisch des Dezernats, die in den Siebzigern und Achtzigern in Kolding einen Escort- und Begleitservice leitete und im November 1987 spurlos verschwand. Als sich Mørck, Assad und Rose an die Ermittlungen machen, stoßen sie zunächst auf weitere vermisste Personen aus dieser Zeit und offensichtliche Verbindungen zwischen ihnen. Da ist auf der einen Seite der rassistische Gynäkologe Curt Wad, der mit seiner Partei „Klare Grenzen“ gerade versucht, ins Parlament zu gelangen, auf der anderen Seite Nete Rosen, die eine schlimme Zeit in einem Frauengefängnis auf Sprogø verbracht hat. Vor allem die Machenschaften der „Klare Grenzen“-Köpfe bereiten den Ermittlern mehr als nur Bauchschmerzen.
„Carl warf Assad einen prüfenden Blick zu. Dieser Fall ging Assad mehr an die Nieren als andere Fälle, Gleiches galt für Rose. Ganz klar, beide waren Menschen mit Narben auf der Seele, aber trotzdem erstaunte es Carl, dass sich Assad dermaßen engagierte, dass ihn die Sache offenbar so erschütterte. ‚Wenn man Frauen auf eine Insel deportieren kann und damit durchkommt‘, fuhr Assad unbeirrt fort, ‚und wenn man massenhaft gesunde Embryos töten und Frauen sterilisieren kann, wenn man das einfach so kann, dann kommt man mit allem durch. Das denke ich, Carl. Und wenn man daraufhin auch noch im Folketing sitzt, wird es richtig kritisch.‘“ 
Das trifft allerdings auch auf die Ermittler zu. Denn je näher Mørck & Co. sich den Machenschaften der rechten Partei nähern, desto heftiger reagieren sie darauf, ihre dunklen Geheimnisse zu bewahren. Dabei schrecken sie vor keinen Mitteln zurück.
Adler-Olsen hat mit „Verachtung“ ein höchst brisantes Thema, das auf einem tatsächlichen Missstand in der dänischen Geschichte beruht, in eine höchst packende Thrillerhandlung gepackt. Daneben bleibt auch immer ein wenig Zeit, in die persönlichen Befindlichkeiten der drei sympathischen, doch ganz unterschiedlichen Protagonisten einzutauchen, doch könnte davon in Zukunft ruhig mehr zu lesen sein. Denn wie sich Mørck seiner angebeteten Mona nähert, ist schon amüsant geschildert, lässt aber viel Raum zur Entwicklung. Und auch Assads mysteriöser Hintergrund wird nur unzureichend erhellt. Doch die rasante und intelligent verquickte Geschichte packt den Leser mit einer Wucht, dass dieses kleine Manko schnell entschuldigt wird. Schließlich bleibt die Hoffnung auf noch viele weitere Bände aus dieser Reihe …
Leseprobe Jussi Adler Olsen - "Verachtung"

Walter Moers – „Der Pinguin“

(Knaus, 104 S., Klappenbroschur)
Ist Walter Moers zum Anfang seiner Karriere vor allem als Comic-Künstler wahrgenommen worden und hat der Welt so herrliche Bände wie „Huhu!“, „Schweinewelt“ oder „Kleines Arschloch“ beschert, so ist er in den letzten Jahren vor allem als großgeistiger Schöpfer so fantasiereicher Romane aus dem zauberhaften Zamonien-Kosmos zu schriftstellerischer Reife gelangt.
Zum Glück hat ihn die Begeisterung für die Comic-Kunst nie ganz verlassen, und so darf sich die Fangemeinde auf die Reihe „Moers Classics“ freuen, in der der Knaus-Verlag einige von Moers‘ Lieblingscomics nicht nur einfach wiederveröffentlicht, sondern auf eine Weise, wie sie dem Autor ursprünglich vorschwebte. Eröffnet wird die Reihe mit dem – und davor wird auf dem Cover bereits ausdrücklich gewarnt – brutalen wie sex- und drogenhaltigen Titel „Der Pinguin“, der 1997 erstmals als „Wenn der Pinguin zweimal klopft…“ das Licht der Welt erblickte, damals allerdings noch in Schwarzweiß.
„Farbe wurde schon beim erstmaligen Erscheinen des Comics diskutiert“, verrät Moers im Klappentext. „Wir entschieden uns damals für Schwarzweiß, weil so viel Blut darin vorkommt – was in Schwarzweiß nicht so brutal wirkt. So vorsichtig waren wir. Heute ist es das, was mich an dem Comic stört: In Farbe wäre er viel drastischer und konsequenter gewesen. Und komischer. Blut ist komisch.“ 
Dafür liefert „Der Pinguin“ den im wahrsten Sinne des Wortes einschlägigen Beweis. Moers erzählt die recht simple Geschichte eines Pärchens, das es sich im heimischen Iglu vor einem Feuerchen im Ehebett gemütlich gemacht hat. Doch bevor das Liebesspiel beginnen kann, betritt ungebeten ein Pinguin das traute Heim und erquickt sich am wärmenden Feuer. Das perplexe Paar beobachtet nun, wie der Pinguin Liedchen trällert, sich einen Joint bastelt und im Drogenrausch schließlich das Feuer auskotzt. Was dann folgt, soll hier nicht weiter beschrieben werden, bietet aber den typisch krassen, ganz und gar politisch inkorrekten Moers-Humor, der über Leichen geht. Und tatsächlich: So wie bei „Der Pinguin“ das Blut spritzt, ist es einfach unbeschreiblich komisch! Für Februar 2013 ist bereits der nächste Band angekündigt: „Jesus total“.
Leseprobe: Walter Moers – “Der Pinguin”

Anja Dollinger, Walter Moers – „Zamonien“

Mittwoch, 5. Dezember 2012

(Knaus, 312 S., HC)
Als Walter Moers Mitte der 80er Jahre mit politisch gar nicht so korrekten Comics wie „Die Klerikalen“, „Schweinewelt“ schließlich mit „Das kleine Arschloch“ auf sich aufmerksam machte, war nicht im entferntesten abzusehen, dass er sich zu einem Meister der Fabulierkunst in der Tradition deutscher Fantastik à la E.T.A. Hoffmann entwickeln würde, der sich quer durch die Jahrhunderte aus dem großen Fundus klassischer Literatur, Märchen, Mythen und esoterischer Traditionen bedient.
Mit seinem ersten Roman „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ fiel 1999 der Startschuss zu einer ganzen Reihe von fantastischen Romanen, die in Zamonien angesiedelt sind, Heimstätte legendärer Dichter, Zauberkünstler und kurioser Fabelwesen. Mittlerweile 2011 ist mit „Das Labyrinth der träumenden Bücher“ der sechste Zamonien-Band erschienen und das Panoptikum geheimnisvoller Orte, labyrinthischer Gänge, skurriler Figuren und mysteriöser Phänomene auf ein Maß angestiegen, dass es durchaus sinnvoll erschien, die fremdartige, doch so faszinierende Welt Zamoniens lexikalisch zu vermessen.
Dieser Herkules-Aufgabe haben sich der Autor, der sich im Zusammenhang mit den Zamonien-Romanen nur als Übersetzer und Illustrator von Zamoniens größten Schriftsteller Hildegunst von Mythenmetz sieht, vor aqllem aber die Kunsthistorikerin Anja Dollinger angenommen, indem sie mit „Zamonien – Entdeckungsreise durch einen phantastischen Kontinent“ ein Nachschlagewerk der besonders schönen Art entworfen haben.
Moers-Fans werden vielleicht enttäuscht sein, dass der Autor nur das Vorwort selbst beigesteuert hat, doch Dollinger hat – erfolgreich - viel Mühe darauf verwendet, den Stil des Zamonien-Schöpfers zu bewahren und durchaus einige Informationen zusammengestellt, die nicht den Romanen zu entnehmen sind. Ausführliche Artikel widmen sich der Megacity Atlantis ebenso wie Blaubär, der Universitätsstadt Buchhaim, den Buchlingen oder den Bücherjägern, als auch dem Schattenkönig, dem Puppetismus und dem großen Helden Rumo von Zamonien.
Wie es die treuen Zamonien-Leser gewohnt sind, ist das Lexikon, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit hegt und die Hoffnung auf ergänzende Bände dieser Art macht, wie ein echter Zamonien-Roman gestaltet – mit Illustrationen, wie sie bislang nur auf einer Ausstellung zu Zamonien zu sehen gewesen sind, und schön eingerahmten Zitaten und Übersichten.
Ein ausführliches Register rundet das informative Werk an, das auf angenehme Weise die Wartezeit bis zu „Das Schloss der träumenden Bücher“ verkürzt.
 Leseprobe Walter Moers & Anja Dollinger – “Zamonien”