Ray Bradbury – „Löwenzahnwein“

Sonntag, 29. September 2013

(Diogenes, 280 S., Tb.)
Mit einem Fingerschnippen an einem Junimorgen begrüßt der zwölfjährige Douglas Spaulding in Green Town, Illinois, den Sommer 1928. Es ist ein Sommer, in dem Doug wie jedes Jahr mit seinem Statistiken erstellenden Bruder Tom und seinem Großvater säckeweise Löwenzahn pflückt, um ihn zu Wein zu verarbeiten, in Ketchupflaschen abgefüllt und feinsäuberlich nummeriert. Es ist ein Sommer, der nach neuen Tennisschuhen schreit und in dem Leo Auffmann eine Glück-Maschine baut, die ihre Anwender mit unerfüllbaren Träumen konfrontiert und weinend zurücklässt. Es ist aber vor allem auch ein Sommer, der Doug mit seiner eigenen Sterblichkeit vertraut macht.
Der alten Mrs. Bentley nehmen die Mädchen Jane und Alice nicht ab, dass auch sie mal jung und hübsch gewesen ist. Die Jungs unternehmen mit dem alten Colonel Freeman eine Reise in die Vergangenheit, wenn er lebendig von den Schlachten des letzten Jahrhunderts erzählt. Es ist es das Ende der Straßenbahn, die von Bussen abgelöst wird, es ist das Lebensende von einigen Mädchen, die von dem „Einsamen“ in der alten Schlucht ermordet werden. Und der junge Billy Forester sitzt Nachmittag für Nachmittag mit der alten Miss Helen Loomis zusammen, um sich von ihren Erzählungen an die entferntesten Orte entführen zu lassen. All diese Episoden spielen sich in einem wahrhaft denkwürdigen Sommer ab, den der kleine Douglas auf ungewohnt bewusste Weise erlebt.
„Oh, dieser Luxus, in der Farnnacht zu liegen, in der Grasnacht und der Nacht der murmelnden, schlummrigen Stimmen, die das Dunkel zusammenwoben. Die Großen hatten vergessen, dass er da war, so reglos, so still lag Douglas da und hörte von den Plänen, die sie für seine und für ihre eigene Zukunft schmiedeten. Und die Stimmen sangen, trieben dahin, in monderhellten Wolken aus Zigarettenrauch, währen die Motten wie verspätete, wieder lebendig gewordene Apfelblüten die fernen Straßenlaternen antippten, und die Stimmen trieben voran, voran in die kommenden Jahre …“ (S. 40) 
Ray Bradbury erweist sich in dem Roman „Löwenzahnwein“, der schon in Teilen zwischen 1946 und 1957 in verschiedenen Publikationen erschienen ist, einmal mehr als betörender Zauberer, der aus Worten zeitlose Märchen zu formen versteht. Im Grunde genommen ist „Löwenzahnwein“ die Geschichte eines Zwölfjährigen, der durch verschiedene Erlebnisse mit dem Tod konfrontiert wird und dadurch sein eigenes Leben bewusster zu leben versucht. Die Reise zu dieser Erkenntnis schildert Bradbury mit episodenhaften Geschichten, die jede für sich einen eigenartigen Zauber versprühen, wie es nur Bradbury vermag, und so entführt er den Leser in seine eigene Kindheit, weckt Erinnerungen und entzündet bestenfalls einen Lebensfunken, der unter der Last des Alltags manchmal zu ersticken droht.

Lemony Snicket – „Meine rätselhaften Lehrjahre (1): Der Fluch der falschen Frage“

Samstag, 14. September 2013

(Goldmann, 219 S., HC)
Unter dem Pseudonym Lemony Snicket hat der amerikanische Autor Daniel Handler in der 13-bändigen Roman-Serie „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ das bedauernswerte Schicksal der Baudelaire-Waisen beschrieben und dabei einen erstaunlich großen Fundus an originellen wie humorvollen Einfällen kreiert.
Sechs Jahre nach dem betrüblichen Finale der gefeierten Jugendbuch-Reihe gibt es mit „Meine rätselhaften Lehrjahre“ endlich ein neues Lebenszeichen von Lemony Snicket. Die Fans dürfen sich freuen: Mit dieser autorisierten Autobiographie gewährt uns der Autor einen ebenso unterhaltsamen Einblick in seine aufregenden Jugendjahre.
Der 13-jährige Lemony Snicket sitzt mit seinen Eltern in einem Café, als ihm eine Dame eine Botschaft zusteckt: „Ich warte in dem grünen Roadster. Du hast fünf Minuten!“ Und kaum, dass er sich versieht, findet sich der junge Lemony als Praktikant bei seiner Mentorin S. Theodora Markson an, einer Detektivin, die auf einer Liste von 52 Namen ihrer Zunft auf dem letzten Platz residiert. Sie werden von Mrs Murphy Sallis damit beauftragt, eine astronomisch kostbare Statue einer Bordunbestie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzuführen.
Ihrer Auftraggeberin nach soll sich die Statue im Besitz der Mallahans befinden. Tatsächlich findet Lemony die staubbedeckte wie unscheinbare Statue im Leuchtturm der besagten Familie, doch als er sich mit der angehenden Journalisten Moxie unterhält, ist die Besitzfrage nicht so einfach zu klären. Was folgt, ist eine abenteuerliche Odyssee durch die einst so malerische, nun eher verwahrloste und vereinsamte Küstenstadt Schwarz-aus-dem-Meer.
Da Lemony Snicket aber eher seinen eigenen Instinkten folgt als den Anweisungen seiner Mentorin, geraten die beiden immer wieder aneinander.
„Standpauken halten muss etwas Herrliches sein, sonst wäre es Kindern auch manchmal erlaubt. Schließlich setzt es nichts voraus, was Kinder nicht auch können. Im Prinzip braucht man für eine Standpauke nur drei Dinge. Man braucht ein wenig Zeit, um sich anständige Vorwürfe auszudenken. Man braucht ein bisschen Geduld, um die Anschuldigungen in eine gute Reihenfolge zu bringen, damit die Standpauke die Person, die sie abkriegt, auch richtig trifft. Und man braucht Chuzpe, ein Wort, das hier die Kaltschnäuzigkeit bezeichnet, die dazu gehört, sich vor jemandem aufzubauen und ihn abzukanzeln, besonders wenn dieser Jemand erschöpft und kaputt ist und nichts als seine Ruhe möchte.“ (S. 129) 
Schließlich lernt Lemony Snicket noch Ellington Feint kennen, die dem Jungen das Versprechen abnimmt, ihr bei der Suche nach ihrem plötzlich verschwundenen Vater zu helfen. Offensichtlich hat ein Mann namens Brandhorst dabei seine Finger im Spiel …
„Der Fluch der falschen Frage“ enthält alle Ingredienzien, die der geneigte Leser bereits aus den wundervollen „Reihe betrüblicher Ereignisse“ kennt: sympathische und skurrile Charaktere, undurchsichtige Handlungsstränge, Lügen und Geheimnisse, alles in einer klaren Sprache mit viel einzigartigem Humor geschildert, dass es eine Freude ist, Lemony Snicket bei seinen Ermittlungen zu begleiten. Was es mit der Organisation, deren Namen nicht genannt werden darf und für die die Mentoren arbeiten, auf sich hat, bietet hoffentlich Stoff für viele weitere Abenteuer!
Leseprobe Lemony Snicket - Meine rätselhaften Lehrjahre (1): „Der Fluch der falschen Frage“

Richard Laymon - "Die Gang"

Freitag, 13. September 2013

(Heyne, 624 S., Tb.)
Tanya, Cowboy und ihr Team von „Trolljägern“ suchen am Strand und auf der Promenade von Boleta Bay Wermutbrüder und Penner auf, jagen ihnen Angst ein und hinterlassen stets eine Karte mit den Worten „Lieber Troll, viele Grüße vom Großen Groben Griesgram Billy“. Doch obwohl jeder im Ort weiß, dass es sich um eine Clique von Jugendlichen handelt, die die Obdachlosen misshandeln, schreitet niemand dagegen ein, was die Lokal-Journalistin Gloria Weston zu einem kritischen Artikel in der Evening Post veranlasst. Ihr Freund, der Cop Dave Carson, findet den Artikel weniger witzig, und seine hübsche Partnerin Joan noch weniger. Tag für Tag patrouillieren sie an der Promenade und am Vergnügungspark Funland, um für die Sicherheit zu sorgen. Doch auch sie können nicht verhindern, dass ein Penner von den Trolljägern an einer Achterbahn festgezurrt wird und nur knapp mit dem Leben davonkommt.
Darüber hinaus haben Joan und Dave mit privaten Problemen zu kämpfen, Dave mit seiner streitsüchtigen, engagierten Journalistin-Freundin und Joan mit ihrem intellektuellen, aber feigen Verehrer Harold. Und dann kommt mit der hübschen Robin auch noch eine Rucksack-Wanderin ins Funland, um dort für eine Woche auf der Promenade Banjo zu spielen. Keine gute Idee, wie Dave findet. Zum Glück wird sie von Nate, dessen Familie Funland gehört, unter ihre Fittiche genommen, doch damit setzt er seine Beziehung zu Tanya, der Anführerin der Trolljäger, aufs Spiel. Dem neu zugezogenen Jeremy ist das nur recht. Er träumt Tag und Nacht von der schönen Tanya, gefährdet aber so seine Freundschaft zu Shiner, die mehr für Jeremy empfindet.
„Er wusste, dass es falsch wäre, jetzt die Wahrheit zu sagen, dass er nichts Besonderes gegen die Trolle hatte, dass er nur Mitglied der Gruppe sein wollte und in Tanyas Nähe. Es war ihm egal, was sie hier heute Nacht anstellten, solange er bei ihnen sein konnte. Aber das konnte er nicht zugeben, also dachte er an seinen ersten Nachmittag auf der Promenade, als der Penner plötzlich vor ihm gestanden und ihn angebettelt hatte. Er erinnerte sich an den verrückten Blick des Mannes, an die braunen Zähne und an den säuerlichen Gestank. Er erinnerte sich an seine Verwirrung und seinen Ekel. Aber vor allem erinnerte sich an seine Angst – die Angst, die bewirkt hatte, dass er sich klein und hilflos und jämmerlich vorkam.“ (S. 224) 
Nachdem bereits ein Troll im Meer entsorgt worden ist und die Trolle auch Jagd auf die zivilisierten Mitbürger machen, verhärten sich die Fronten zunehmend. Vor allem will Gloria als Pennerin verkleidet mehr über die gejagten Trolle erfahren. Doch dann verschwindet sie spurlos … Schließlich ist mit Jaspers Funhouse auch noch eine ehemalige Touristenattraktion im Spiel, die mittlerweile geschlossen ist, aber trotzdem weiterhin Neugierige anzieht. Und hier begegnen die Besucher bald dem ultimativen Grauen!
Bereits 1989 unter dem Titel „Funland“ im Original erschienen und 1992 von Goldmann unter dem Titel „Jahrmarkt des Grauens“ in Deutschland veröffentlicht, greift Richard Laymon in der von Heyne leicht überarbeiteten Neufassung „Die Gang“ das für Horrorfilme so beliebte Thema von Geisterbahnen und Vergnügungsparks auf und bietet die für ihn typische dichte und schön gruselige Atmosphäre. Dabei versteht es Laymon prächtig, Sehnsüchte und Ängste junger Menschen auf der Schwelle zum Erwachsensein zu reflektieren und vor allem die erotische Komponente zu betonen. Auf der anderen Seite hier exemplarisch an Obdachlosen demonstriert, wie unsichere Menschen in einer Gruppenkonstellation ihre scheinbare Macht brutal missbrauchen.
Wie bei den Heyne-Hardcore-Titeln von Richard Laymon üblich, wird der Roman durch ein ausführliches Werkverzeichnis der bislang im Verlag erschienen Laymon-Titel ergänzt.
Für den März 2014 ist bereits der nächste Titel des 2001 verstorbenen Autors angekündigt: „Die Klinge“.  
Leseprobe Richard Laymon - "Die Gang"

John Grisam – „Das Komplott“

(Heyne, 447 S., HC)
Der 43-jährige schwarze Anwalt Malcolm Bannister war einst Partner in einer kleinen Kanzlei in Winchester, Virginia, glücklich verheiratet und hätte sich wohl nie träumen lassen, dass er selbst einmal wegen Geldwäsche zu zehn Jahren Haft verurteilt wird. Die Hälfte seiner Strafe hat er mittlerweile abgesessen und sich die Zeit in dem „Camp“ Frostburg, wo nur minimale Sicherheitsvorkehrungen herrschen, als Bibliothekar und juristischer Berater für die Gefängnisinsassen vertrieben.
Doch nach fünf Jahren, in denen er seine Zulassung als Anwalt, seine Frau und die Beziehung zu seinem Sohn verloren hat, erhält Bannister die Nachricht von der Ermordung des Bundesrichters Raymond Fawcett und seiner Sekretärin in dessen Blockhütte in Roanoke.
Während das FBI völlig im Dunkeln tappt, wer für diese Tat verantwortlich sein könnte, und eine Belohnung von hunderttausend Dollar nicht dazu beitragen kann, hilfreiche Hinweise zur Auflösung des Verbrechens zu generieren, tritt Bannister mit einem Deal an das FBI heran: Er nennt dem FBI den Namen des Täters und wird nach dessen Verhaftung sofort freigelassen, bekommt die Belohnung ausbezahlt und wird mit einer neuen Identität ausgestattet.
Laut Bannister handelt es sich bei dem Mörder um Quinn Rucker, einen Drogendealer, mit dem sich Bannister in Frostburg angefreundet hat und der vor einiger Zeit fliehen konnte. Tatsächlich findet das FBI Rucker bei dessen Cousin in Norfolk und bekommt sogar ein Geständnis, so dass die Anklage wie geplant in Roanoke eingereicht werden kann. Auf einmal wird Bannister vom FBI wie der einer ihren behandelt, doch nach dem Start in ein ganz neues Leben hat der ehemalige Anwalt Pläne, die dem Staat gar nicht gefallen werden.
„Diese Leute haben vergessen, dass ich selbst einmal Gegenstand eines Strafverfahrens auf Bundesebene war, dass FBI-Beamte jeden Aspekt meines Lebens auf den Kopf stellten, während die Bundesanwaltschaft damit drohte, nicht nur mich, sondern auch meine beiden unbescholtenen Partner hinter Gitter zu bringen. Die denken tatsächlich, wir wären Freunde, ein verschworenes Team, das im Gleichschritt auf ein gerechtes Urteil zumarschiert. Wenn ich könnte, würde ich ihnen Knüppel zwischen die Beine werfen und dafür sorgen, dass sie mit der Anklage nicht durchkommen.“ (S. 233)
John Grisham ist nicht nur ein Meister des Justiz-Thrillers, dessen packende Geschichten von renommierten Filmemachern wie Francis Ford Coppola („Der Regenmacher“), Sydney Pollack („Die Firma“) und Joel Schumacher („Der Klient“) erfolgreich fürs Kino adaptiert worden sind. Aber mit seinen Thrillern hat Grisham auch stets den Finger in die Wunden des amerikanischen Justizsystems gelegt, vor allem in Sachen Todesstrafe. Doch auch in seinem neuen Werk „Das Komplott“ seziert Grisham genüsslich den Status quo der amerikanischen Gesellschaft.
Indem er seinen Ich-Erzähler erstmals aus der schwarzen Bevölkerung rekrutiert, geht er hart mit dem nach wie vor vorherrschenden Rassismus ins Gericht und lässt diesen Rache an einem Staatssystem nehmen, das er für heuchlerisch, ungerecht und kriminell hält. So wird in einer Subhandlung ein Filmprojekt über die DEA inszeniert, das dokumentieren soll, dass die Beamten ihre Verdächtigen lieber gleich erschießen als vor Gericht zu stellen. Und der Protagonist verzieht sich für den heikleren Teil seiner Rachemission nach Antigua, weil er dort als Schwarzer nicht so auffällig wirkt.
„Das Komplott“ präsentiert eine für Grisham ungewöhnlich ambivalente Hauptfigur und einen im zweiten Teil etwas arg konstruierte komplexe Handlung, deren glatter Verlauf teilweise schon unglaubwürdig ist, doch dafür bietet der Thriller erneut Spannung bis zur letzten Seite, wobei der Leser komplizenhaft mit dem Helden mitschmunzeln darf.
Leseprobe John Grisham – “Das Komplott”