Nick Cutter – „Das Camp“

Sonntag, 28. September 2014

(Heyne, 464 S., Tb.)
Falstaff Island ist eine kleine unbewohnte Insel fünfzehn Kilometer vor der Nordspitze des kanadischen Festlands, die nur als Quartier für gelegentliche Exkursionen dient – wie für die Pfadfindertruppe von Gruppenleiter Tim Riggs. Kaum wurde der 42-Jährige mit den Jungs Kent, Shelley, Newton, Max und Ephraim von einem Boot mit Proviant für drei Tage auf der Insel abgesetzt, bekommt die Truppe Besuch von einem Schiffbrüchigen, wie es aussieht, einem völlig ausgemergelten Mann, der von einem unsäglichen Hunger gequält wird.
Doch die unerschöpfliche Nahrungszufuhr richtet wenig aus. Stattdessen zerfällt der Körper des Mannes immer mehr, und dem als Arzt praktizierenden Gruppenleiter wird schnell bewusst, dass der Mann unter einer tödlichen Infektion leidet.
 „Der Fremde sah nicht mehr ganz wie ein Mensch aus, sondern eher wie etwas, das ein zurückgebliebenes Kind mit einem Buntstift malen würde. Sein Körper bestand nur noch aus Strichen. Seine Arme waren Kritzeleien. Seine Finger kalligrafische Spinnen. Die Haut legte sich furchtbar straff um seinen Brustkorb und spannte sich um jede Rippe, sodass man die einzelnen Muskelfasern sehen konnte. Sein Brustbein war nur noch ein Knoten und sein Becken ein schauerliches, biegsames Gabelbein. Seine Gesichtshaut hatte die Patina von altem Kupfer und klebte so fest an seinem Schädel, dass Max die klaffenden Knochenringe seiner Augenhöhle sehen konnte. Seine Ohren standen wie die Henkel eines Krugs ab und waren so dünn, dass sie sich wie verkohltes Papier nach innen kräuselten.“ (S. 115) 
Riggs schickt die Jungs auf einen Orientierungsmarsch, um sich allein mit dem Kranken zu beschäftigen, wird aber schließlich selbst von dem befallen, das sich unter der Haut und in den Eingeweiden des Gestrandeten schlängelnd bewegt. Nun scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis auch Riggs Schützlinge in Kontakt mit der tödlichen Gefahr kommen …
Mit „The Camp“ hat der kanadische Schriftsteller Craig Davidson (der u.a. für die Romanvorlage des Films „Rost und Knochen“ verantwortlich zeichnete) unter dem Pseudonym Nick Cutter einen hoffentlich nicht einmaligen Ausflug ins Horror-Genre unternommen. Dass Cutter „The Camp“ mit einem Zitat aus William Goldings Klassiker „Herr der Fliegen“ einleitet, ist mehr als nur naheliegend, schließlich wirkt das Setting zunächst allzu vertraut: Fünf Jungen auf der Schwelle zum Erwachsensein werden auf einer einsamen Insel mit einer tödlichen Gefahr konfrontiert, die auch das Verhalten untereinander beeinflusst.
Cutter hat – wie er in seiner Danksagung zugibt – den Aufbau der Story aus Stephen Kings „Carrie“ übernommen, und auch wenn er eine komplett andere Story erzählt, weist „Das Camp“ wesentliche Charakteristika des King of Horror auf, beispielsweise eine eindrucksvolle, glaubwürdige Figurenzeichnung, eine farbenprächtige Sprache und einen packenden Spannungsaufbau, der immer nur durch Auszüge aus Beweismittellisten, Zeitungsartikeln, Gutachten, wissenschaftlichen Vorträgen und eidesstattlichen Aussagen unterbrochen werden, die auf den schrecklichen Ausgang der Story hinweisen.
Natürlich kommt hier auch der berühmte wahnsinnige Wissenschaftler ins Spiel, aber dem Autor gelingt es, dieses vertraute Mittel nicht allzu abgeschmackt zu verwenden, sondern sinnvoll in die Thematik von dem Sinn und Unsinn von wissenschaftlichem Ehrgeiz einzufügen.
„The Camp“ ist ein Horror-Thriller, der sprichwörtlich unter die Haut geht. Dabei überlassen Cutters detaillierte Schilderungen allerdings kaum etwas der Phantasie des Lesers. Aber indem er den Fokus der Geschichte ganz auf das Geschehen auf Falstaff Island reduziert, entwickelt die Story einen unheimlich fesselnden Sog, der keine Gefangenen macht.
Leseprobe Nick Cutter - "Das Camp"

Olen Steinhauer – „Die Spinne“

Sonntag, 21. September 2014

(Heyne, 494 S., Pb.)
Seit der Xin Zhu die sogenannte „Tourismus“-Abteilung der CIA für den Mord an seiner Tochter verantwortlich gemacht hat, löschte er diese in einer spektakulären Racheaktion mit den akkurat ausgeführten Morden an dreiunddreißig Agenten nahezu komplett aus. Zu den wenigen Überlebenden der Abteilung zählten neben dem Leiter Alan Drummond und der Agentin Leticia Jones auch Milo Weaver, der das Massaker an seiner Dienststelle zum Anlass nahm, seinen Job an den Nagel zu hängen.
Doch sein Freund Alan hat es bis heute nicht verwunden, dass er die Morde an seinen Agenten nicht verhindern konnte, und bittet Milo um Unterstützung bei der Vernichtung des Chinesen, der eine Abteilung des chinesischen Geheimdienstes leitet. Weaver lässt sich zunächst nicht ködern, doch dann verschwindet Drummond spurlos aus einem Londoner Hotel. Offensichtlich verfolgt er einen anderen Plan als Senator Nathan Irwin und die NCS-Beamtin Dorothy Collingwood, mit denen er zuvor eine Operation gegen Xin Zhu besprochen hatte.
Als Weavers Frau und Tochter gekidnappt werden, muss er sich wider Willen auch an der Suche nach Drummond beteiligen.
„Er wusste – oder vermutete -, dass sich Alans Plan um Rache drehte, während die Gruppe um Collingwood einen anderen Zweck verfolgte der vielleicht in den Abgründen der Außenpolitik verborgen lag. Was Alan auch vorhatte, es war auf jeden Fall so problematisch, dass Collingwood eine weltweite Suchaktion nach ihm angeleiert hatte. An diesem Punkt kam es auch darauf an, sich von seinen Vorurteilen zu verabschieden. Egal, wie durchgeknallt Alan war, Milo tendierte natürlich zu seiner Seite, denn auf der anderen Seite stand Irwin. Milo versuchte zwar, einen Bogen um Begriffe wie gut und böse zu machen, aber ihm war klar, dass er die beiden Lager automatisch in diese Schubladen einsortierte.“ (S. 276) 
Es dauert mehr als 100 Seiten, bis Milo Weaver, der Protagonist aus Steinhauers ersten beiden Thrillern „Der Tourist“ und „Last Exit“, die Bühne betritt. Bis dahin werden vor allem die Bemühungen des chinesischen Geheimdienstes beschrieben, die Gründe des zu spät bemerkten Aufenthalts von Leticia Jones in Shanghai aufzuklären. Doch sobald Milo Weaver in die Operation eingebunden wird, kommt Tempo und Spannung in den Plot, wie man es sonst nur aus dem Umfeld von James Bond und Jason Bourne kennt.
Steinhauer gelingt es dabei allerdings, die Story nicht unnötig komplex aufzubauschen, sondern diese sehr persönlich zu färben. Erst im letzten Viertel schlägt er vielleicht ein paar Haken zu viel und verliert seinen Helden etwas aus dem Blick. Interessant sind die vertrackten Pläne sowohl des amerikanischen als auch des chinesischen Geheimdienstes aber allemal.
Leseprobe Olen Steinhauer - "Die Spinne"

John Niven – „Coma“

Dienstag, 2. September 2014

(Heyne, 397 S., Pb.)
Unterschiedlicher können zwei Brüder kaum sein wie Gary und Lee Irvine. Sie sind beide nie aus dem beschaulichen Ardgirvan an der schottischen Westküste herausgekommen, doch da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Gary schlug sich in der Verwaltung von Hendersons Gabelstaplerwerk durch und unterminierte konsequent die höher gesteckten Erwartungen seiner Frau Pauline, die sich damals nur auf Gary einließ, weil er der einzige in der Stadt mit einem Job und Auto gewesen war.

Garys große Leidenschaft gilt aber dem Golfsport, die er von seinem vor Jahren verstorbenen Vater geerbt hat, der im Gegensatz zu seinem Sohn aber ein guter Spieler war. Wenn sich Gary auf das Grün wagt, endet sein Auftritt meist in peinlichen Fiaskos. Seinem Bruder Lee ergeht es ganz ähnlich. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und ist sich nicht zu schade, das Darth-Vader-Sparschein seines Sohnes zu plündern, um sich das nächste Pint in der Kneipe leisten zu können. Als er einen Drogendeal vermasselt, sieht es um seine Zukunft noch schwärzer aus. Das Leben der beiden Brüder ändert sich schlagartig, als Gary von einem fehlerhaften Golfball direkt an der rechten Schläfe so schwer getroffen wird, dass er ins Koma fällt, nachdem er gerade den besten Schlag seines Lebens absolviert hat. Als Gary aus dem Koma erwacht, leidet er unter einer außergewöhnlichen Art des Tourette-Syndroms.
„Robertson hatte Cathy und Pauline erklärt, dass all das unfreiwillig geschah, dass es sich dabei um eine spastische Reaktion handelte, die sich unwesentlich von einem Schluckauf unterschied, und dass Gary häufig gar nicht wahrnahm, was er da tat. Dennoch fiel ihnen auf, dass er den Kraftausdrücken manchmal eine hastige Entschuldigung oder einen durchaus bewussten Fluch aus Frustration über seinen Zustand folgen ließ. Ein solcher Satz hörte sich dann folgendermaßen an: ‚Hi, Mum, ich war bloß – O MANN! Du geile Sau, ficken – `tschuldigung! – blöde Kuh, lutsch meinen – SCHEISSE! – lutsch meinen Schwanz. SCHEISSE! SORRY! Grrr!‘“ (S. 154). 
Während Gary und seine Liebsten mit der neuen Situation zurechtzukommen versuchen, plant Garys Frau Pauline, mit dem reichen Teppich-Händler Findlay Masterson ein neues Leben anzufangen. Doch dazu muss erst einmal Findlays Frau aus dem Weg geräumt werden, da eine Scheidung nicht in Frage kommt. Derweil startet Gary allerdings auf dem Golfplatz voll durch und qualifiziert sich aus dem Nichts für die Open in St. Andrews, wo er sogar auf sein Idol Calvin Linklater trifft. Durch Garys unverhoffter Teilnahme und seiner Chance auf ein komfortables Preisgeld verändert sich gleich für etliche Freunde, Bekannte und Verwandte die jeweilige Lebenssituation.
Man muss wirklich kein Golf-Freak sein, um John Nivens „Coma“ lieben zu können. Zwar bedient sich der schottische Kultautor natürlich auch des dazugehörigen Fachjargons, doch lebt der Roman vor allem durch die außergewöhnliche Metamorphose, die Gary Irvine im Verlauf der Geschichte durchmacht. Allein die Sequenz, in der Niven beschreibt, wie Gary mit dem Aufkommen des Tourette-Syndroms auch unter ständigen Erektionen leidet, ist einfach herrlich.
Dazu wird „Coma“ von einer ganzen Reihe herrlich schräger Figuren bevölkert, die die Handlung in jeder Hinsicht bereichern. So wird aus „Coma“ nicht nur eine herrliche Golfer-Satire, sondern auch eine irrwitzige Gangster-Posse und Gesellschafts-Komödie, die durch Nivens grandiosen Wortwitz und wunderbare Dialoge besticht.
Leseprobe John Niven - "Coma"