Don Winslow – (Neal Carey: 2) „China Girl“

Samstag, 30. Januar 2016

(Suhrkamp, 441 S., Tb.)
Nach seinem letzten Job, den ihn seine große Liebe Diane und ein Jahr seiner Ausbildung kostete, lebt der 24-jährige Neal Carey seit sieben Monaten zurückgezogen in einem Cottage, das verlassen in den Yorkshire Moors liegt, wo er sich ganz dem Studium von Tobias Smollettes Werk widmet.
Doch nun wendet sich sein Vater Joe Graham mit einem neuen Auftrag der „Friends of the Family“ an ihn, jener geheimen Abteilung des kleinen Finanzinstituts in Providence, Rhode Island, das seinen wohlhabenden Kunden nicht nur absolute Diskretion gegenüber Presse, Öffentlichkeit und Finanzamt zusicherte, sondern auch Abhilfe bei Problemen, die sich nicht immer mit Geld lösen lassen. Diesmal soll er den Biochemiker Dr. Robert Pendleton aufspüren, der im Auftrag von AgriTech über das Wachstum von Pflanzen forscht und nach einer Konferenz an der Stanford University nicht an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt ist.
Neal soll den Wissenschaftler in San Francisco, wo er sich mit einer chinesischen Liebesdienerin im Holiday Inn einquartiert hat, aufsuchen und ins Flugzeug setzen. Was sich nach einem leichten Auftrag von drei, vier Tagen Dauer anhört, entwickelt sich zu einem abenteuerlichen Trip, der Neal bis nach Hongkong und China führt. Denn als er Pendleton mit der schönen Künstlerin Li Lan endlich im Künstlerviertel Mill Valley aufgespürt hat, fliegen ihm auch schon die Kugeln um die Ohren. Offensichtlich handelt es sich bei Li Lan um eine chinesische Agentin, an der auch die CIA interessiert ist …
„Ich bin ein Abtrünniger meiner eigenen Firma, die mich vielleicht, vielleicht auch nicht, ebenso wie die CIA, tot sehen möchte. Ich wurde von besagter Frau in die Falle gelockt, möglicherweise in der Absicht, mich töten zu lassen. Irgendwie bin ich sie verliebt und muss sie warnen, dass sie sich in Gefahr befindet. Ich muss sie finden, um ein paar Antworten zu bekommen, erst danach kann ich mit meinem alten Leben weitermachen.“ (S. 138) 
Bevor der amerikanische Bestseller-Autor Don Winslow 1997 mit seinem Roman „Die Auferstehung des Bobby Z.“ bekannt geworden ist, schrieb er an einer fünf Bände umfassenden, zwischen 1991 und 1996 erschienenen Reihe um den jungen Privatermittler Neal Carey, deren Neuauflage in neuer Übersetzung der Suhrkamp Verlag in diesem Jahr abschließt.
Der zweite Band aus dem Jahr 1992, der 1997 unter dem Titel „Das Licht in Buddhas Spiegel“ erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht wurde und nun als „China Girl“ erneut der wachsenden Winslow-Fangemeinde zugänglich gemacht wird, entwickelt sich von einer fesselnden Detektivgeschichte zu einem actionreichen Agenten-Thriller, der vor allem in der zweiten Hälfte, als Li Lan Gelegenheit bekommt, ihre Familiengeschichte zu erzählen, an atmosphärischer Dichte gewinnt und vor allem tiefe Einblicke in die chinesische Geschichte gewährt.
Der historische Diskurs ist zwar mit einigen Längen verbunden, die das Tempo aus der Geschichte nehmen und auch den Lesefluss hemmen, unterstreicht aber, dass Winslow schon früh damit begonnen hat, für seine Romane so exzessiv zu recherchieren, wie das mittlerweile bei seinen gefeierten Drogen-Epen „Tage der Toten“ oder „Das Kartell“ der Fall ist.
„China Girl“ kann nicht ganz an „London Underground“, den ersten Neal-Carey-Fall, anknüpfen und lässt seinen cleveren Helden auch keine wirkliche Entwicklung durchmachen, störender wirkt dagegen der deutliche Spannungsabbau in der zweiten Hälfte.
Leseprobe Don Winslow - "China Girl"

Boris Vian – „Der Schaum der Tage“

Donnerstag, 21. Januar 2016

(Karl Rauch, 213 S., HC)
Der finanziell unabhängige Colin genießt sein Leben des exzentrischen Müßiggangs in vollen Zügen. Ihm gefällt es, seinen ebenfalls zweiundzwanzigjährigen und mit den gleichen literarischen Vorlieben ausgestatteten, aber finanziell längst nicht so gut gestellten Freund Chick, mit besonderen Gaumenfreuden zu verwöhnen, die der neue Koch Nicolas für sie zubereitet. Chick hat gerade Nicolas‘ Nichte Alise bei einem Vortrag von Jean-Sol Partre kennengelernt und sich gleich in sie verliebt.
Ähnlich ergeht es Colin, als er auf der Party, die die 18-jährige Isis zum Geburtstag ihres Hundes veranstaltet, Chloé kennenlernt. Doch nach dem rauschenden Hochzeitsfest folgt schnell die Ernüchterung: Der Druck, den Chloé in ihrer Brust verspürt, rührt von einer Seerose her, die sich dort eingenistet hat. Durch eine Operation kann diese zwar entfernt werden, doch als auch der andere Lungenflügel angegriffen wird, hat Chloé nicht mehr lange zu leben.
Nachdem Colin einen Großteil seines Vermögens Chick geschenkt hat, damit dieser Alise heiraten kann, muss Colin nun selbst einen Job annehmen, um Chloé ein anständiges Begräbnis zu ermöglichen. Derweil versetzt Chick in seiner Leidenschaft für alles, was mit seinem großen Idol Jean-Sol Partre zu tun hat, sein mickriges Vermögen und setzt damit seine Beziehung mit Alise aufs Spiel.
„Colins Dublonen waren für ihre Hochzeit bestimmt, doch Alise legten keinen besonderen Wert darauf. Es genügte ihr, auf ihn zu warten, es genügte ihr, bei ihm zu sein, aber man kann von einer Frau nicht verlangen, dass sie bei einem Mann bleibt, nur weil sie ihn liebt. Er liebte sie auch. Aber er durfte nicht zulassen, dass sie seine Zeit in Anspruch nahm, weil sie sich nicht mehr für Partre interessierte.“ (S. 174f.) 
2013 verfilmte Michel Gondry („The Green Hornet“, „Vergiss mein nicht“) mit „Der Schaum der Tage“ das bekannteste Werk des 1920 nahe Paris geborenen, 1959 in Paris verstorbenen Autors, Jazz-Musikers und Schauspielers Boris Vian, doch wurde der bezaubernde Liebesroman, der 1947 veröffentlicht wurde, erst nach Vians Tod bekannt, als 1963 eine Neuauflage erschien.
Auf gerade mal 200 Seiten erzählt Vian eine bezaubernde Liebesgeschichte, die zwar einen tragischen Verlauf nimmt, doch der Autor versteht es, mit leichter Sprache, skurrilen Wortspielereien und surrealen Ideen wie sprechenden Mäusen, Ananaszahnpasta verspeisenden Aalen, einem Cocktails mixenden Piano und anderen Begegnungen mit dem Wunderbaren eine traumhafte Atmosphäre zu kreieren. Alltagsschrecken und –probleme wie der nahende Tod, finanzielle Nöte und die Notwendigkeit, für seinen Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, halten Vian nicht davon ab, das Geschenk des Lebens und den Zauber der Liebe zu feiern.

Terry Gilliam – „Gilliamesque“

Dienstag, 19. Januar 2016

(Heyne, 300 S., HC)
Als Mitbegründer von Monty Python‘s Flying Circus und Regisseur von Meisterwerken wie „Brazil“, „König der Fischer“, „12 Monkeys“ und „Fear and Loathing in Las Vegas“ ist Terry Gilliam eine echte Ausnahmeerscheinung jenseits der glamourösen Hollywood-Filmwelt. Nun legt er mit „Gilliamesque“ eine Autobiografie vor, die so kunterbunt und unterhaltsam ausgefallen ist wie sein außergewöhnliches Leben und Wirken als Künstler.
Zwar betont Gilliam im Vorwort, dass er nie Tagebuch geführt habe und seine Erinnerungen deshalb sehr selektiv seien, aber die Lebensgeschichte, die er in diesem Buch entfaltet, steckt voller Details, Begegnungen mit illustren Personen und vor allem gesellschaftspolitischen und künstlerischen Referenzen, die deutlich machen, warum Terry Gilliam der Künstler geworden ist, der seit jeher abseits der Konventionen erfolgreich agiert hat.
Schon in der Kindheit, die er auf dem Land am Medicine Lake bei Minneapolis verbrachte, entwickelte Gilliam einen gesunden Respekt vor der Brutalität der Natur und fühlte sich von den Furcht einflößenden Wäldern und dem Sumpf inspiriert. Dazu gesellten sich Alexander Kordas und Michael Powells Film „Der Dieb von Bagdad“, die Geschichten der Bibel, Schneewittchen, Robin Hood und Cowboys und Indianer. Gilliam lernte mit Preston Blairs Leitfaden „Animation – Learn How to Draw Animated Cartoons“ das Zeichnen und bezeichnet die „Mad“-Comics als wichtigsten kulturellen Einfluss seiner Teenagerjahre.
Mit ein paar Freunden begann Gilliam, mit „Fang“ in die Fußstapfen von „Mad“ und „Help!“ zu treten, kam schließlich selbst bei „Help!“ unter und machte die Bekanntschaft von Robert Crumb und Richard Lester, der die Beatles-Filme „A Hard Day’s Night“ und „Help!“ inszeniert hat. Besonders interessant lesen sich Gilliams Erinnerungen an seine Bekanntschaft mit Terry Jones, Michael Palin und Eric Idle, als diese an einer subversiven Kindersendung namens „Do Not Adjust Your Set“ arbeiteten. Als Cartoonist begann Gilliam für Monty Python’s Flying Circus die Tricksequenzen zu kreieren. Ihr erster Kinofilm „Monty Pythons wunderbare Welt der Schwerkraft“ stellte zwar nur ein Remake von Sketchen aus den ersten beiden Staffeln dar und floppte in den USA, ebnete der Truppe aber in England den Weg für den nächsten Film „Die Ritter der Kokosnuss“, der für einige Differenzen in der Truppe sorgte, weil sich nun die beiden Terrys den Regiejob teilten und damit Ian MacNaughton ablösten.
„Wir waren die Typen aus der letzten Reihe, die sich über alles lustig machten, genau wie die Mönche im Mittelalter. Letztlich stellte sich heraus, dass es wesentlich einfacher war, eine Armee aus Fabelwesen zu erschaffen, als meinen Kollegen Anweisungen zu geben, die sie dann auch befolgten.“ (S. 158) 
Gilliam nimmt in der Folge seine interessierten Leser mit auf eine Zeitreise durch sein weiteres filmisches Schaffen, erzählt von den Schwierigkeiten bei der Entstehung von Großprojekten wie „Brazil“ und „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“, von der Arbeit mit Schauspielern mit Heath Ledger, Johnny Depp, Brad Pitt und Bruce Willis, aber auch von seinem Scheitern mit Produktionen wie „Der Mann, der Don Quijote tötete“. Dabei präsentiert Gilliam keinen Gesamtüberblick, sondern gewährt durch intime Anekdoten jeweils nur kurze Momentaufnahmen und Inneneinsichten, die stets deutlich machen, wie sehr sein Herz an jedem seiner Projekte hing
und dass er sein amerikanisches Heimatland so verabscheute, dass er sogar die Staatsbürgerschaft ablegen wollte.
Da Gilliam auch ein begnadeter Illustrator ist, bietet der prachtvoll gestaltete Hardcoverband im Großformat „Gilliamesque“ nicht nur viele Fotos von den Dreharbeiten zu den verschiedenen Filmen, sondern auch Dokumente seiner Kindheit und College-Zeit, vor allem aber die durch seine Arbeit bei Monty Python bekannten Collagen.
Leseprobe Terry Gilliam - "Gilliamesque"

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 4) „Schlechtes Chili“

Samstag, 16. Januar 2016

(DuMont, 319 S., Tb.)
Als Hap Collins Mitte April von seinem Job auf der Bohrinsel nach Hause kommt, hat auch sein schwarzer, schwuler Freund Leonard Pine seinen Job als Rausschmeißer im Hot Cat Club verloren. Um sich die Zeit zu vertreiben, machen die beiden Freunde eine Spritztour und wollen im Wald ein paar Schießübungen machen, als Hap von einem tollwütigen Eichhörnchen angegriffen und gebissen wird. Doch die Behandlung im Krankenhaus muss Hap verkürzen, denn als er Besuch vom frisch zum Lieutenant beförderten Charlie Bank bekommt, erfährt er vom Tod eines Bikers, der gerade mit Leonards Ex-Freund Raul zusammengekommen war. Wenig später wird auch Rauls Leiche in der Nähe des toten Bikers gefunden.
Da Leonard unvermittelt zum Mordverdächtigen wird, bleibt den beiden Freunden nicht viel Zeit, Leonards Unschuld zu beweisen. Da Leonards Hütte auf den Kopf gestellt worden ist und dabei vor allem seine Videosammlung zu leiden hatte, scheint Raul in krumme Geschäfte verwickelt gewesen zu sein.
Bei ihrer Spurensuche stoßen Hap und Leonard auf Videos, die nicht nur zeigen, wie Schwule im berüchtigten LaBorde Park vertrimmt werden, sondern auch welche, auf denen Männer aus dem Umfeld des Unternehmers King Arthur bei Fettdiebstählen zu beobachten sind. Offensichtlich hat jemand versucht, den Chili-King mit den Videos zu erpressen und dabei gegen Kings mächtigen Handlanger Big Man Mountain den Kürzeren gezogen. Zum Glück erhalten Leonard und Hap Unterstützung durch den Detektiv Jim Bob Luke, der ebenso mit seinem Mundwerk wie mit seinen Waffen umzugehen versteht.
Derweil beginnt sich Hap in die Krankenschwester Brett zu verlieben …
„In meinem Leben war also nicht alles schlecht, aber Leonard war wie ein Kessel auf dem Herd. Man wusste einfach nicht, wann er zu kochen anfangen würde. (…) Er war einfach griesgrämig, genau das war er. Es wurde so schlimm, dass ich Rauls Mörder finden wollte, nur um mir Leonards Nörgeleien nicht mehr anhören zu müssen.“ (S. 179) 
In dem breit gefächerten literarischen Universum, in dem sich der texanische Autor Joe R. Lansdale bewegt, nimmt die „Hap & Leonard“-Reihe eine besondere Stellung ein. Zwar greift Lansdale allein schon durch die Konstellation der beiden Freunde – Hap ist ein weißer Hetero-Kriegsdienstverweigerer, Leonard ein schwarzer homosexueller Vietnamveteran – seine vertrauten Themen wie Rassismus und Diskriminierung jeglicher Art auf, doch bildet ihr eigenwilliger Gerechtigkeitssinn eine weitere Säule der Erfolgsgeschichte um das ungewöhnliche Ermittler-Duo. Auch im vierten Band der populären Reihe haben die beiden Männer mit den Tücken des Alltags, der schwierigen Jobsuche und vergangenen/neuen Beziehungen zu kämpfen, aber auch mit den starren Buchtstaben des Gesetzes, über die sich der ortsansässige Cop Charlie auch nicht hinwegsetzen kann.
Es geht wieder deftig-rustikal zu in dem kurzweiligen Roman „Schlechtes Chili“. Diesmal bekommen die losen Münder von Hap und Leonard durch den auswärtigen Detektiv Jim Bob noch wortreiche Verstärkung, so dass die Krimi-Handlung sowohl von – oft schmerzhafter – Action als auch von schrill-amüsanten Wortgefechten vorangetrieben wird. Das ist einfach großartige Unterhaltung!
Leseprobe Joe R. Lansdale – „Schlechtes Chili“

Joe R. Lansdale – „Die Wälder am Fluss“

Montag, 11. Januar 2016

(DuMont, 366 S., Tb.)
Während Jacob Crane im östlichen Texas des Jahres 1933 als Farmer, Friseur und Constable für den Unterhalt der Familie sorgt, ist sein elfjähriger Sohn Harry vom geheimnisvollen Ziegenmann fasziniert, dem nachgesagt wird, in den dichten Wäldern am Sabine River Kinder und Tiere zu stehlen. Mit seiner jüngeren Schwester Thomasia – kurz: Tom – ist er gerade in der Abenddämmerung unterwegs, um die Jagdhund-Terrier-Mischung Toby von ihren Leiden zu erlösen, da stoßen sie auf eine schrecklich zugerichtete Frauenleiche. Am nächsten Morgen führt Harry seinen Vater zur Fundstelle, wobei sie an dem Haus des alten Mose vorbeikommen, den die Dorfbewohner bald als Täter ausmachen. Schließlich hat er die Geldbörse der toten Frau gefunden.
Und es werden weitere Frauen gefunden, meist schwarze Prostituierte, die furchtbar zerschnitten und auf einzigartige Weise geknebelt sind, aber erst als auch ein weißes leichtes Mädchen tot aufgefunden wird, reagieren der Ku-Klux-Klan. Bevor die Männer in den weißen Gewändern den alten schwarzen Mann lynchen können, versteckt Harrys Vater den Verdächtigen. Das Versteck bleibt allerdings nicht lange geheim, und weder Harry noch sein Vater können verhindern, dass Mose an einem Baum aufgeknüpft wird. Danach ist Harrys Vater nicht mehr derselbe.
„Daddy suchte eine Zeit lang nach dem Mörder, aber abgesehen von ein paar Spuren am Ufer, die davon zeugten, dass dort jemand nach Essbarem gesucht hatte, fand er nichts. Ich hörte, wie er Mama erzählte, er habe in den Wäldern am Fluss das Gefühl gehabt, jemand beobachte ihn – als gäbe es da draußen jemanden, der die Wälder und den Fluss genauso gut kannte wie die Tiere dort; und dass dieser Jemand ein Auge auf ihn habe.“ (S. 119) 
Die Morde hören nach Moses Tod zwar auf, doch die meisten Menschen mit gesundem Verstand glauben nicht daran, dass Mose die Taten begangen hat. Während sich die Aufregung nach den Morden legt, taucht ein alter Verehrer von Harrys Mutter wieder auf und verschwindet auf mysteriöse Weise. Und Harry glaubt immer wieder, den Ziegenmann in seiner Nähe zu sehen …
Dass der mehrfach preisgekrönte Horror- und Krimi-Autor Joe R. Lansdale gern als Autor in der Tradition von Südstaaten-Größen wie William Faulkner und Mark Twain gesehen wird, lässt sich an seinem 2000 in den USA, in Deutschland durch den DuMont Buchverlag veröffentlichten Roman „Die Wälder am Fluss“ wunderbar illustrieren.
Schließlich steht im Mittelpunkt des Geschehens ein elfjähriger Junge, der in den 1930er Jahren die Schrecken der Depression und die nach wie vor anhaltende Rassendiskriminierung nicht nur bezeugen muss, sondern auch am eigenen Leib erlebt. Lansdale erweist sich wieder einmal als brillanter Erzähler, der anhand einiger Morde an kaum geachteten Frauen darlegt, wie vergiftet die gesellschaftliche Atmosphäre in dieser Zeit gewesen ist, als die kleinsten Indizien ausgereicht haben, um das Leben eines schwarzen Mannes auszulöschen.
Dem Autor gelingt es, in „Die Wälder am Fluss“ eine klassische Coming-of-Geschichte mit einer packenden Thriller-Handlung, einer Portion Washington-Irving-Horrors und einem Gesellschaftsroman zu verbinden, wobei die düsteren Verbrechen die besten und die schlechtesten Eigenschaften der Einwohner von Marvel Creek hervorkehren.
Neben der packenden Handlung sind es aber vor allem wieder die stark gezeichneten Figuren und die schwül-intensive Atmosphäre, die „Die Wälder am Fluss“ so lesenswert machen.
Leseprobe: Joe R. Lansdale – „Die Wälder am Fluss“

Shane Kuhn – „Töte deinen Chef“

Sonntag, 3. Januar 2016

(DuMont, 319 S., Tb.)
Nachdem Vollwaise John Lago bereits im zarten Alter von acht Jahren seine mit Drogen handelnden Pflegeeltern Mickey und Mallory mit Plastiktüten über dem Kopf erstickt hatte und in den Jugendknast gewandert war, wurde Bob, Geschäftsführer von Human Ressources Inc., auf den Jungen aufmerksam und bildete ihn zum Auftragskiller aus. Mittlerweile ist John 25 und damit für seine Branche im besten Rentenalter. Bevor er seine siebenstellige Rentenprämie kassiert und all das seit der Pubertät angesparte Geld ausgeben kann, hat Bob noch einen letzten, allerdings ungewöhnlich kniffligen Auftrag für ihn: Während die Dossiers zu seinen Aufträgen normalerweise das Profil der Zielperson, ihre Feinde und Schwäche sowie Lagepläne beinhalten, muss John die Zielperson erst einmal selbst ausfindig machen, nämlich einen der drei Geschäftsführer der berühmten New Yorker Anwaltskanzlei Bendini, Lambert & Locke.
Um denjenigen zu identifizieren, der die Liste der im Zeugenschutzprogramm des FBI befindlichen Personen meistbietend verkauft hat, wird John wie üblich als Praktikant in die Kanzlei eingeschleust. Da Praktikanten bei guter Eignung Zugang zu wichtigen Bereichen und Informationen bekommen, sich aber niemand an sie erinnert, stellt es die perfekte Tarnung für Johns Profession dar.
Tatsächlich gelingt es John, mit Fleiß und perfekter Kaffeezubereitung, in den inneren Zirkel der Kanzlei vorzustoßen und erhält dabei Unterstützung von der routinierten Praktikantin Alice, die kurz davor steht, eine der begehrten Festanstellungen zu erhalten.
Doch als John erfährt, dass Alice eine FBI-Agentin ist, in die er sich auch noch zu verlieben beginnt, gestaltet sich die Ausübung seines Auftrags zunehmend schwieriger …
„Wenn ihr diesen Beruf ergreift, dann versucht erst gar nicht, euch zu rechtfertigen. Ihr seid die Bösen, das ist eure Rolle. Ohne euch gäbe es keine Bezugsgröße für die Beurteilung der Guten. Wir sind das Yin. Die Zivilisten das Yang. Wenn ihr euch auf eure Rolle konzentriert und nicht von der Lebenswirklichkeit anderer beeinflussen lasst, werdet ihr bis ins Rentenalter von fünfundzwanzig Jahren überleben. Vielleicht bleibt euch eine Kugel im Kopf erspart, aber eure Seele werdet ihr nicht retten können.“ (S. 78) 
Mit „Töte deinen Chef“ legt der ehemalige Werbetexter und Creative Director Shane Kuhn seinen ersten Roman vor, der als „Leitfaden für Praktikanten“ aus der Perspektive des Hitmans John Lago aufgezogen ist. Der Plot ist zwar an konventionelle Auftragskiller-Geschichten angelehnt (bevor der Killer aus dem Geschäft aussteigen kann, muss er noch einen letzten Job erledigen, der natürlich viel komplizierter ist als alle anderen davor), stellt sich mit seiner durchgängigen humorvollen Sprache aber weniger als Thriller denn als Thriller-Komödie dar.
Die Ich-Erzählung wird dabei immer wieder von Abhörprotokollen des FBI aufgelockert, das offensichtlich auch ein Auge auf John Lagos Aktivitäten geworfen hat.
Shane Kuhn, der mittlerweile aus Drehbuchautor („The Scorpion King 3 - Kampf um den Thron“, „Dead In Tombstone“) und Regisseur tätig ist, gelingt es, seine wendungsreiche Story mit makabren Humor, rasanten Tempo und einer Portion unorthodoxer Romantik zu würzen und somit für ein kurzweiliges, durchaus filmreifes Lesevergnügen zu sorgen.
Leseprobe Shane Kuhn - "Töte deinen Chef"

Jim Thompson – „Fürchte den Donner“

Freitag, 1. Januar 2016

(Heyne, 460 S., Tb.)
Nachdem Lincoln Fargo in die Armee der Union nur deshalb eingetreten war, weil er dafür bezahlt wurde, ist er nach seiner Entlassung als Full Sergeant zu der Überzeugung gelangt, dass ein Mann nicht mehr Freiheit bekam, als er sich selbst erarbeitete. Er zog zurück nach Ohio, lernte bei einem seiner Maurerjobs die Dienstmagd auf der Farm kennen, heiratete sie und machte mit ihren Ersparnissen sein erstes eigenes Geschäft auf. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist er der Patriarch des Fargo-Clans im ländlichen Verdon, der es durch zwielichtige Geschäfte zu tausend Morgen besten Nebraska-Tieflands gebracht hat. Doch seine Herrschaft beginnt zu bröckeln, als seine Frau Pearl das Fargo-Vermögen einem Vertreter Gottes auf Erden vermacht, sein jüngster Sohn Grant sich mit seiner Cousine Bella vergnügt und seine Tochter Edie als Lehrerin mitansehen muss, wie einer ihrer polnischen Schüler von dem Bankangestellten Alfred Courtland fast zu Tode gepeitscht wird.
Währenddessen muss Sherman Fargo die Nachricht verarbeiten, dass er für seine hundertsechzig Morgen Land, auf der nur eine kleine Hypothek liegt, keinen neuen Kredit bekommt, um sich einen Mähdrescher kaufen zu können. Schließlich überschatten Verrat, Diebstahl, Krankheit und Tod das Schicksal des Fargo-Clans. Nach einer erschütternden ärztlichen Diagnose und Bellas Tod ist Lincoln am Ende seiner Kräfte.
„Er wünschte, es gäbe einen Weg, Grant zu hängen, ohne dass der Name Fargo beschmutzt würde. Hinter dem Schatten eines Zweifels wusste er, dass sein Sohn des Mordes schuldig war. Damit war auch sein letztes bisschen Stolz gestorben, und es gab nichts, womit er sich vormachen konnte, es wäre anders. Und jetzt war nur noch sehr wenig übrig, so furchtbar wenig von dieser überbordenden Handvoll Energie, mit der sein Leben einst begonnen hatte.“ (S. 339) 
Nur der allseits beliebte Rechtsanwalt Jeff Parker scheint seinen Weg zu gehen. Aus ärmlichen Verhältnissen kommend, wurde er von Rechtsanwalt Amos Ritten in seine Praxis aufgenommen und übernahm diese, als Ritten zum Richter des County gewählt worden war. Parker lässt sich zum Senator wählen und sich – bei großzügiger Anerkennung – für die Belange der Eisenbahn einspannen …
Vier Jahre nach seinem Debütroman „Jetzt und auf Erden“ erschien 1946 mit „Fürchte den Donner“ der zweite Roman von Jim Thompson, der zehn Jahre später mit Stanley Kubrick zusammenarbeiten sollte und dessen Werke anschließend von Filmemachern wie Sam Peckinpah („The Getaway“), Burt Kennedy („The Killer Inside Me“), Bertrand Tavernier („Coup de Torchon“) und Stephen Frears („The Grifters“) adaptiert worden sind.
„Fürchte den Donner“ liest sich wie ein klassischer Depressionsroman. Er schildert die Nöte der Farmer, die Ernten und das Vieh durchzubringen, ihre Abhängigkeit von den Banken, die kläglichen Versuche der Fargo-Söhne, jenseits der Arbeit auf der Farm in den Städten zu Geld zu kommen, wo sie aber ebenso schnell ersetzt wie schlecht bezahlt werden. Thompson thematisiert aber auch die Konflikte zwischen den Amerikanern und den Siedlern. Während die Deutschen und Skandinavier hoch geachtet waren, hatten die Amerikaner nur Spott und Abscheu für die sogenannten Hunkies und Rooshans, die Polen, Böhmischen und Russen, übrig.
Er schreibt von den Verlockungen des Geldes, der Verbreitung der Eisenbahn und dem beginnenden Straßenbau, von schmutzigen Körpern, verbotenen Gelüsten, Alkoholsucht und Geschlechtskrankheiten. Seine Figuren hoffen vergeblich auf Erlösung, sterben an Krankheiten, die sie ihrer Sünden zu verdanken haben, oder für Verbrechen, die andere begangen haben.  
Thompson beschreibt die Szenen der Gewalt, des Gestanks und des Drecks so plastisch, als wolle er die Leser an dem Leid, an den Wunden und den schmutzigen Umständen seiner Figuren teilhaben lassen. In seinem klugen Nachwort beschreibt Thomas Wörtche Thompson als „Vertreter einer Fundamentalopposition zu optimistischen Menschenbildern“. James Ellroy, einer seiner glühendsten Bewunderer, der auch für das Vorwort der deutschen Erstausgabe verantwortlich ist, beschreibt „Fürchte den Donner“ als Hybrid von Ma und Pa Kettle, Dostojewski und Steinbeck.
Es ist vor allem aber eins: ein grollendes Meisterwerk durch das dunkle Kapitel der amerikanischen Modernisierungs- und Siedlungsgeschichte, das niemanden unberührt lässt.
Leseprobe Jim Thompson - "Fürchte den Donner"