Stephen King – „Es“

Samstag, 30. September 2017

(Heyne, 860 S., Jumbo)
Im Herbst 1957 wurde der sechsjährige George Denbrough tot, mit ausgerissenem Arm, an einem Gully aufgefunden. Sein bettlägeriger älterer Bruder William hatte ihm zuvor ein Boot aus Papier gebastelt und mit ihm zusammen wasserdicht gemacht. Mit diesem Boot machte sich Georgie im Regenmantel auf den Weg, das mit Paraffin bestrichene Papierschiffchen an der Kante zwischen Straße und Bürgersteig im Strom dahinschwimmen zu lassen, der sich durch vier Tage wolkenbruchartigen Regen entwickelt hat. 27 Jahre später kommt Adrian Mellon unter ähnlichen Umständen ums Leben. Zeugen meinten einen Clown unter der Brücke am Tatort gesehen zu haben, der wie eine Mischung aus Ronald McDonald und dem Fernsehclown Bozo wirkte.
Mike Hanlon, Bibliothekar in Derry, ahnt, dass „Es“ zurückgekommen ist, eine unheimliche Macht, der seine Freunde Bill Benbrough, Stanley Uris, Richard Tozier, Eddie Kaspbrak und Beverly Marsh damals nur dadurch in die Flucht schlagen konnten, weil sie als Freunde zusammengehalten haben. Während alle außer Mike als Erwachsene Derry verlassen haben, um erfolgreicher Komiker (Richie), Schriftsteller (Bill), Architekt (Ben), Modedesignerin (Bev) oder Prominenten-Chauffeur (Eddie) zu werden, hat Mike eine Chronik über die Welle von Gewaltverbrechen erstellt, die in regelmäßigen 27-Jahres-Zyklen Derry heimsuchen – und zwar seit nachweisbar sehr langer Zeit. Als Mike und seine Freunde damals „Es“ besiegt, aber nicht getötet hatten, schworen sie sich, wieder zusammenzukommen, sollte „Es“ zurückkehren.
Mike ruft seine alten Freunde an, die mit Ausnahme von Stan tatsächlich ihre Verpflichtungen liegen lassen und nach Derry kommen, um ihr Versprechen einzulösen. Schnell zeigt sich, dass Mike mit seiner Befürchtung recht gehabt hat: „Es“ hat nach wie vor allerlei Tricks auf Lager, seine Gegner mit ihren ureigensten Ängsten zu konfrontieren …
„Er wusste es nicht, aber er glaubte – ebenso wie er glaubte, dass alle Morde auf ein und dasselbe Konto gingen -, dass Derry sich tatsächlich verändert hatte, und dass diese Veränderung mit dem Tod seines Bruders begonnen hatte. Die Schreckensvisionen in seinem Kopf hatten ihren Ursprung in seiner tief verborgenen Überzeugung, dass in Derry jetzt alles Mögliche passieren konnte. Alles.“ (S. 168) 
Im Jahr seines 70. Geburtstages erlebt Stephen King eine bemerkenswerte Renaissance seiner Werke. Der „King of Horror“ schreibt nicht nur unermüdlich weiter, sondern durfte auch verfolgen, dass in diesem Jahr nach „The Dark Tower“ auch sein bereits 1990 durch Tommy Lee Wallace verfilmtes Epos „Es“ erneut eine filmische Adaption erfahren hat, diesmal für die große Leinwand und weitaus gruseliger als der frühere Fernseh-Zweiteiler.
Als Stephen King 1986 „Es“ veröffentlichte, konnte er bereits mit u.a. „Carrie“, „Shining“, „The Stand“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Der Talisman“ (zusammen mit Peter Straub) auf etliche Bestseller zurückblicken. Aber erst mit „Es“ schuf Stephen King eine über mehrere Zeitebenen perfekt ausbalancierte Geschichte, die vor allem durch die sehr sorgfältige Zeichnung der sympathischen Figuren brilliert, die King jeweils mit sehr ausführlichem Hintergrund ausgestattet hat.
Geschickt verleiht er dem Grauen in Derry durch einen verführerischen Clown Gestalt und macht für die Kinder das Leben in der an sich idyllischen Kleinstadt zum Alptraum, zu dem nicht zuletzt der bösartige Henry Bowers mit seiner Clique mit ihren durchaus brutalen Gemeinheiten beitragen. Stück für Stück enthüllt Stephen King vor allem durch seinen Chronisten Mike Hanlon die Geschichte des Bösen in Derry, das es auf überdurchschnittlich viele Kinder abgesehen hat. Obwohl King selbst innerhalb eines Satzes von Kapitel zu Kapitel zwischen den Zeiten springt, hält er die Spannung immer aufrecht. Das gelingt ihm vor allem durch die minutiös geschilderten Biografien der „Club der Verlierer“-Mitglieder mit ihren ganz individuellen Geschichten, psychischen Dispositionen, Träumen und Ängsten, mit ihren persönlichen Beziehungen, Berufen und Problemen, so dass der Leser sich mitten im Geschehen erlebt und zusammen mit den Figuren zwischen den 1950er und 1980er Jahre hin- und herspringt.
Wenn zum Ende hin deutlich wird, wie es den Kindern damals gelang, „Es“ zu besiegen, wirkt das Vorgehen nicht gerade nachvollziehbar, aber King erweist sich als dermaßen souveräner und mitreißender Erzähler, dass der Spruch, dass ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen erfordern, in dieser Hinsicht auch auf „Es“ zutrifft.
Als ich den Roman 1986 – nach meinem Abitur - zum ersten Mal gelesen hatte, war ich so gefesselt, dass ich fortan – und bis heute – ein großer Fan von Stephen King wurde, der zugleich meine Lust zunächst an der Schauerliteratur und so am Lesen im Allgemeinen geweckt hat, womit ich ihm mehr als nur dankbar bin. Dreißig Jahre später hat das Horror-Epos für mich nichts an seiner Faszination eingebüßt, die auf die permanent gruselige Atmosphäre und die geschickte Dramaturgie zurückzuführen ist, wie sie nur Stephen King zu inszenieren vermag. 
Leseprobe Stephen King - "Es"

Ned Beauman – „Glow“

Dienstag, 26. September 2017

(Tempo, 320 S., Pb.)
Raf ist gerade dabei, sich bei einem illegalen Rave in einem Waschsalon ein Achtelgramm einer undefinierten Mischung aus Speed, Glutamat und einem noch nicht zugelassenen Medikament gegen soziale Phobie bei Hunden reinzuziehen, als er sich Hals über Kopf in Cherish verliebt, Tochter einer Burmesin und eines amerikanischen Ingenieurs, der für den international agierenden Minenkonzern Lacebark arbeitet. Wenn Raf sich nicht gerade auf irgendwelchen Raves herumtreibt und experimentelle Drogenmixturen ausprobiert, behütet er einen Staffordshire Bullterrier, der auf dem Dach eines achtzehnstöckigen Wohnhauses den Piratensender Myth FM bewacht.
Als nicht nur immer mehr Burmesen scheinbar spurlos verschwinden, sondern Raf auch beobachtet, wie mit Theo der Chef des Radiosenders durch einen geräuschlos fahrenden weißen Lieferwagen entführt wird, kommt Raf, der unter einer seltenen Schlaf-Wach-Rhythmusstörung leidet, die seinen Tag 25 Stunden dauern lässt, einer komplexen Verschwörung auf die Spur, in der auch Cherish und der Chemiker Win unklare Rollen einnehmen. Dabei geht es vor allem um die neue Droge Glow, bei deren Herstellung interessanterweise Füchse eine besondere Rolle spielen …
„Jetzt sind die Leute von Lacebark im Londoner Süden, sie infiltrieren die Stadt, sie verändern sie und verbreiten einen Nebel der Angst in den Straßen, die ihm einmal so viel bedeutet haben. Als seine Freundin ihn verlassen hatte, wurde hier für einige Zeit alles zu Scheiße, und er konnte nur dasitzen und leiden. Sieben Wochen später wird wieder alles zu Scheiße, aber diesmal kann Raf etwas dagegen unternehmen.“ (S. 152) 
Der britische Autor Ned Beauman hat nach seinem Studium in Cambridge für Zeitungen und Magazine wie „The Guardian“ und „The Daily Telegraph“ geschrieben, seit 2010 („Der Boxer“) ist er auch als Schriftsteller zu einer anerkannten Größe der europäischen Literaturszene herangewachsen und wurde für seinen zweiten Roman sogar für den Man-Booker-Prize nominiert.
Mit „Glow“, 2014 bereits als Hardcover bei Hoffmann und Campe erschienen, entführt Beauman seine Leser auf eine atemberaubende Odyssee, in der das waghalsige Erzähltempo durch exzessiven Drogenkonsum, wilde Rave-Partys und das Verschwinden von immer mehr Burmesen im Londoner Süden bestimmt wird. Rezepte gibt es dabei nicht nur für Drogencocktails, sondern auch für asiatische Gerichte, und Raf wird ebenso wie der Leser Zeuge des unerbittlichen Kampfes internationaler Großkonzerne (hier in Gestalt von Lacebark) gegen alternative Lebensformen (wie sie im Rave, Drogenkonsum und Piratensendern zum Ausdruck kommen).
So stellt sich „Glow“ einerseits als origineller Krimi dar, der durch sein irres Tempo und die mal verschnörkelt-verschachtelte, dann wieder wunderbar klare Sprache charakterisiert wird, andererseits aber als unorthodoxe Globalisierungskritik, die durch ihre ungewöhnlichen Auswüchse sehr zum Unterhaltungswert des Romans beiträgt.
Das ist bei der Lust des Autors an sprachlichen Kapriolen und dem vertrackten Plot nicht immer ein einfaches, aber bis zum Ende hin doch ein lohnendes Lesevergnügen.

Tom Drury – „Grouse County“

Sonntag, 24. September 2017

(Klett-Cotta, 795 S., HC)
Der aus Iowa stammende Tom Drury begann nach seinem Journalismus-Studium seine berufliche Laufbahn zunächst als Reporter und Redakteur in der regionalen Presse, ehe er 1994 mit „Das Ende des Vandalismus“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Zusammen mit „Die Traumjäger“ (2000 in den USA veröffentlicht, 2008 in Deutschland) und dem hierzulande bislang unveröffentlichten Roman „Pazifik“ (2013) hat Klett-Cotta die hochgelobte „Grouse County“-Trilogie nun in einem Band veröffentlicht und dabei die ersten beiden Romane komplett überarbeitet.
In „Das Ende des Vandalismus“ macht der Leser Bekanntschaft mit einer bunt zusammengewürfelten Schar von Figuren, die vor allem das 321-Seelen-Dorf Grafton, aber auch die umliegenden Ortschaften Pinville, Wylie oder Boris bevölkern. Zu den Hauptdarstellern, wenn es denn welche gibt, in Drurys genau beobachteter Gesellschaftsstudie zählt dabei der amtierende Sheriff Dan Norman, der nicht nur den Diebstahl von mehreren Landmaschinen aufklären muss, sondern sich auch noch mitten im Wahlkampf befindet und mit Louise, der von Tiny Darling gerade geschiedenen Frau, zusammenlebt. Das kann der Taugenichts und Gelegenheitsdieb Tiny schwer ertragen, weshalb er nach Colorado geht, wo er auf einem Holzplatz in Lesoka eine Arbeit findet und mit Kathy Streeter von der Bäuerlichen Genossenschaftsbank eine Beziehung eingeht. Die Leser erleben mit, wie Alvin Getty seinen Lebensmittelladen aufgeben muss, wie Louise sich zunächst im Fotostudio von Perry Kleeborg engagiert, doch dann ein Schicksalsschlag ihr Leben völlig durcheinanderbringt.
Auch sonst haben es die Bewohner in Grafton nicht leicht. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte es noch zwei Gastwirtschaften, drei Kirchen, einen Friseur, einen Holzhandel und eine Bank gegeben, nun sind nur noch zwei Kirchen und ein Lokal davon übrig, nur ergänzt von einem Schönheitssalon und eine Art Gebrauchtwagenhandel. Zu den Höhepunkten des gesellschaftlichen Lebens zählt die Schulaufführung von „Tarantella“.
„Es war in gewissem Sinn eine verkehrte Welt – Jugendliche lieferten zur Unterhaltung der Erwachsenen eine anspruchsvolle Darbietung -, während allgemein in Grouse County, wie sonst überall auch, das Theater nicht als etwas Sinnvolles angesehen wurde, womit man sich nach Abschluss der Schule noch abgeben konnte. Sich Geschichten auszudenken und sie dann auf die Bühne zu bringen, das war den Leuten einfach nicht geheuer.“ (S. 240f.) 
Tom Drury macht es dem Leser mit seinem Debütroman nicht leicht, einem wie auch immer gearteten Plot zu folgen und sich in der Vielzahl von gut siebzig Personen zurechtzufinden, die das wie ein buntes Potpourri zusammengewürfelte Geschehen bestimmen oder auch nur mal kurz auftauchen und dann wieder von der Bildfläche verschwinden. Allerdings gelingt es Drury, mit seiner detaillierten Beschreibung des ländlichen Lebens irgendwo im Mittleren Westen die Sorgen und Träume nachzuvollziehen. Das tut er ebenso einfühlsam wie humorvoll, so dass einem manche Figuren dann doch ans Herz wachsen.
Der Nachfolgeroman „Die Traumjäger“, der – im Original - sechs Jahre später erschien (2000), ist nicht nur weitaus kürzer ausgefallen, sondern wartet auch mit einem weitaus reduzierteren Figurenensemble und einer stringenteren Erzählung auf. Tiny Darling hat sich mittlerweile auf seinen richtigen Namen Charles besonnen und lebt mit seiner zweiten Frau Joan, ihrem gemeinsamen Sohn Micah und Joans 16-jähriger Tochter Lyris zusammen, die als Baby zur Adoption freigegeben wurde und seither eine wenig erbauliche Odyssee durch verschiedene Pflegefamilien durchgemacht hatte, bis sie wieder von Joan aufgenommen worden ist. Charles versucht nicht nur, das alte Gewehr seines Stiefvaters, mit dem er viele Jagdausflüge in seiner Jugend unternommen hatte, von der Pfarrerswitwe Farina Matthews zurückzukaufen, sondern fragt sich auch, warum seine Frau, die Geschäftsführerin eines Tierschutzvereins mit Sitz in Stone City ist, zu einer Rede vor der Kreisversammlung einen Badeanzug mitnimmt.
Ganz unbegründet sind seine Sorgen nicht, denn wie schon Louise im vorherigen Band begibt sich auch Joan auf einen Selbstfindungstrip, von dem sie erst im kommenden Frühjahr zurückzukehren gedenkt …
Erst 2013 erschien mit „Pazifik“ der hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte dritte Band der „Grouse County“-Trilogie. Auf wiederum nur wenig mehr als 200 Seiten verfolgt Drury das Leben der Darling-Familie weiter. Joan Gower hat eine Karriere als Schauspielerin beim Fernsehen eingeschlagen und kehrt nach sieben Jahren in ihre alte Heimat zurück, um ihren mittlerweile 14-jährigen Sohn Micah nach Los Angeles mitzunehmen, wo er eine für ihn völlig neue Welt kennenlernt. Tiny hat sein Klempnergeschäft nach der Klage durch eine Versicherungsgesellschaft verloren und ist gar nicht begeistert, dass nun auch die erwachsene Lyris ihr Zuhause verlassen hat, um mit ihrem Verlobten, dem Journalisten Albert Robeshaw, zusammenzuleben.
Dan Norman ist nach dem Verzicht, ein sechstes Mal für das Sheriff-Amt zu kandidieren, Privatdetektiv geworden und wird von einem Ehepaar beauftragt, den zukünftigen Schwiegersohn ihrer Tochter Wendy unter die Lupe zu nehmen. Jack Snow betreibt einen Versandhandel mit keltischen Kunstgegenständen und „stinkt vor Geld“, was Wendys Eltern nicht geheuer ist.
Wenig später bekommt Dan Besuch von zwei staatlichen Ermittlern, die Jack Snow seit längerer Zeit im Visier haben …
Mit der über einen Zeitraum von knapp zwanzig Jahren entstandenen „Grouse County“-Trilogie hat Tom Drury eine Art liebevolle Bestandsaufnahme des ländlichen Lebens in Iowa kreiert, mit einer zunächst nahezu unüberschaubaren Schar an Figuren, die von knapp siebzig in „Am Ende des Vandalismus“ nahezu auf die Familien von Tiny Darling und Dan Norman reduziert wurden, aber allesamt ihre ganz persönlichen Sehnsüchte, Leidenschaften und Sorgen haben, die ihr Erzähler allesamt ernst nimmt und die im abschließenden Band „Pazifik“ sogar metaphysische und surreale Züge annehmen. Die Fürsorge, die Drury seinen Figuren angedeihen lässt, die wunderbare Sprache, die lebendige Dialoge und der lakonische Humor machen das epische „Grouse County“ zu einem unvergleichlichen Lesevergnügen, das zudem wie eine Anleitung zur Selbstverwirklichung und ein moralischer Kompass aufgefasst werden kann. 
Leseprobe Tom Drury - "Grouse County"

Antoine Laurain – „Die Melodie meines Lebens“

Dienstag, 12. September 2017

(Atlantik, 254 S., HC)
Als die Post bei Modernisierungsarbeiten in einer ihrer Pariser Filialen vier Briefe unter Holzregalen findet, die nicht zugestellt worden sind, ist auch einer aus dem Jahre 1983 dabei, der nun mit 33 Jahren Verspätung dem Empfänger zugestellt wird. Der über fünfzigjährige Allgemeinmediziner Alain Massoulier staunt nicht schlecht, als er so erfährt, dass die Band The Hologrammes, die er damals mit der Sängerin Bérangère Leroy, dem Schlagzeuger Stanislas Lepelle, dem Bassisten Sébastien Vaugan und dem Pianisten Frédéric Lejeune unterhalten hat, von Polydor einen Plattenvertrag angeboten bekommen hätte. Stattdessen hat sich die New-Wave-Band recht schnell aufgelöst, ihre Mitglieder haben sich in alle Winde zerstreut.
Alain, der von seiner Frau betrogen wird und ein unspektakuläres, aber zufriedenes Leben im 8. Arrondissement führt, macht sich auf die Suche nach den alten Bandmitgliedern und vor allem nach dem Demotape mit den fünf Songs, die damals für Furore hätten sorgen können. Sébastien war Alain als Kopf einer rechtsextremistischen Gruppe noch bekannt.
Durch seine Recherche im Internet erfährt er schließlich, dass Stan Lepelle ein aufstrebender Künstler geworden ist, Frédéric Lejeune in Thailand gerade ein Hotel eröffnet hat, Sébastien und der Texter Pierre Mazart ein Antiquitätengeschäft am linken Seine-Ufer unterhält. Der Produzent der Band, Mazarts Bruder Jean-Bernard – kurz JBM genannt -, kandidiert gerade für das Präsidentschaftsamt. Nur bei Bérangère hilft Alain das Internet nicht weiter, sondern der Zufall.
„Was sagt man zu einer Frau, die vor mehr als dreißig Jahren geliebt hat und der man zufällig am Bahnhof begegnet? Die man nur für ein paar Minuten und danach nie wieder sehen wird? Das ist, als ob das Leben einem ein Almosen gibt, keine zweite Chance, sondern eine Art Augenzwinkern.“ (S. 144) 
Mit seinem neuen Buch „Die Melodie meines Lebens“ spielt der Pariser Schriftsteller Antoine Laurain („Der Hut des Präsidenten“, „Das Bild aus meinem Traum“) weniger mit der „Was wäre, wenn …“-Möglichkeit, die das 33 Jahre zu spät erhaltene Angebot eines Plattenvertrags für die Bandmitglieder einer ambitionierten New-Wave-Band bereitgehalten hätte, als mit einem Abgleich der Persönlichkeiten von damals mit ihrem heutigen Leben.
Besonders gelungen sind dem Autor dabei die Rückblenden in die 1980er Jahre, als sich die Band gegründet und gefunden hatte. Weniger gut nachzuvollziehen sind die Schicksale der Protagonisten in der heutigen Zeit. Hier verliert sich Laurain in Einzelschicksalen und unzusammenhängenden Anekdoten. Allein JBMs Präsidentschaftswahlkampf und die Beziehung zu seiner ehrgeizigen persönlichen Assistentin Aurore sowie das Aufsehen erregende Kunstprojekt, mit dem Stan auf einmal weltberühmt wird, nehmen etwas mehr Raum im Strudel der Episoden ein.
Die Charakterisierungen und die Erzähldramaturgie leiden unter den sprunghaften Perspektivwechseln, zu denen auch die eingeschobenen Ich-Erzählungen einzelner Beteiligter zählen. Davon abgesehen verzaubert der kurze Roman aber mit nostalgischem Charme und Gedanken zu verpassten Möglichkeiten und verlorenen Lieb- und Freundschaften.

Patricia Cornwell – (Kay Scarpetta: 24) „Totenstarre“

Montag, 11. September 2017

(HarperCollins, 432 S., HC)
Dr. Kay Scarpetta, renommierte Forensikerin am Cambridge Forensic Center, das sie seit acht Jahren leitet, bereitet gerade ihren Vortrag an der Kennedy School of Government vor, als sie es gleich mit mehreren Herausforderungen zu tun bekommt. Zunächst macht ihr der überraschende Besuch ihrer Schwester Dorothy Sorgen, die schon einen besonderen Grund für ihre Reise haben muss, da sie sich sonst nie in Cambridge blicken lässt. Dann hat es Scarpetta mit einem Stalker namens Tailend Charlie zu tun, der sich mit verzerrter Stimme über sie bei der Polizei beschwert und ihr daraufhin weitere Audioaufnahmen zukommen lässt, die auch sehr private Details aus Scarpettas Leben enthalten.
Beruflich bearbeitet sie den Tod der dreiundzwanzigjährigen Kanadierin Vandersteel, deren Leiche, auf einem Joggerpfad am Fluss im John F. Kennedy Park gefunden wird – gut eine Stunde, nachdem Scarpetta die junge Frau kennengelernt hat. Als Zeugen können die Polizeibeamten nur zwei Zwillingsmädchen identifizieren, deren Aussage ebenso merkwürdig anmutet wie die am Tatort gefundenen Indizien.
Zu guter Letzt hat der Minister für Heimatschutz eine Terrorwarnung für Washington, D.C., Boston und benachbarte Gemeinden ausgegeben. Erschreckend wird die Konstellation der Ereignisse, als auf Scarpettas Radar der Name der Psychopathin Carrie Grethen auftaucht, die nicht nur Ausbilderin ihrer Ziehtochter Lucy beim FBI in Quantico gewesen ist, sondern sie fast in den Tod getrieben hätte …
Seit 1990 hat die vielfach prämierte Thriller-Autorin Patricia Cornwell nahezu im Jahresrhythmus einen neuen Band in ihrer Reihe um die forensische Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta veröffentlicht. Allmählich scheinen sich aber deutliche Ermüdungs- und Abnutzungserscheinungen zu zeigen. Fast die ganze erste Hälfte braucht Cornwell, um erst einmal zu demonstrieren, welch Koryphäe ihre Ich-Erzählerin auf ihrem Gebiet ist und was für einen gutaussehenden, brillanten Mann sie an ihrer Seite hat, ehe dann die meiste Zeit damit verbracht wird, den Tatort zu sichern, die dortigen Arbeitsbedingungen zu definieren, die Indizien am Tatort der getöteten Fahrradfahrerin zu sammeln und zu analysieren, bis sie selbstkritisch gestehen muss:
„Das alles dauert zu lange, aber es wundert mich nicht. Die Dinge klappen nur selten so schnell, wie wir es gern hätten. Und bei einer schwierigen Ermittlung in einem Todesfall funktioniert nur wenig wie geplant. Nur, dass die Welt nicht mehr so nachsichtig ist wie früher. Ich mache mich bereits auf Kritik gefasst.“ (S. 193) 
Mit dieser Aussage in der Romanmitte hat Cornwell nicht nur die Fortschritte in Scarpettas Fall treffend beschrieben, sondern auch die Qualität ihres Werks, dessen Plot jeglicher Spannung entbehrt. Die Story scheint letztlich einzig dazu zu dienen, die beruflichen Qualifikationen der Protagonistin und damit auch das entsprechende Wissen ihrer literarischen Schöpferin zu demonstrieren, was in der massiven Betonung ebenso unangenehm aufstößt wie die spröde, allzu sachliche Sprache, die keine Sympathie für die Figuren aufkommen lässt und auch das Lesen zu einer quälenden Angelegenheit macht. Immerhin sind aber Scarpettas Beziehungen zu ihren Kollegen und zu ihrer Familie sehr sorgfältig beschrieben, aber eben eher analytisch als emotional.
Wenn die Autorin dann noch ihre alte Nemesis Carrie Grethen aus dem Hut zaubert, wirkt dieser „Kniff“ wie eine letzte Verzweiflungstat, um der schleppenden Handlung noch etwas Würze zu verleihen. Im schlimmsten Fall hat der Leser da aber schon das Interesse verloren …
Leseprobe Patricia Cornwell - "Totenstarre"

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 1) „Oxen – Das erste Opfer“

Freitag, 8. September 2017

(dtv, 461 S., Pb.)
Der ehemalige, höchstdekorierte Elitesoldaten Niels Oxen will aussteigen. Das Ziel seines neuen Lebens findet er in einem Zeitungsartikel: In dem riesigen Wald Rold Skov richtet er sich mit seinem Samojedenhund Mr White einen Unterschlupf ein und sieht sich neugierig am herrschaftlichen Schloss Nørlund Slot um. Dort bemerkt er zunächst einen im Baum erhängten Schäferhund, wenig später schon ist Oxen Hauptverdächtiger in einem Mordfall: Der Exbotschafter und einflussreiche Vorsitzende eines dänischen Thinktanks, Hans-Otto Corfitzen, wird in seinem Arbeitszimmer tot aufgefunden. Sein Tod scheint in Zusammenhang zu stehen mit weiteren mysteriösen Todesfällen, bei denen ebenfalls jeweils ein Hund ums Leben kam.
Nachdem Otto von Kriminalhauptkommissar Rasmus Grube, Polizeipräsident Max Bøjlesen und vom Chef des Inlandsnachrichtendienstes, Axel Mossman, zu seinem Aufenthalt am Schloss verhört worden ist, erhält er von Mossman das ungewöhnliche Angebot, für ihn auf eigene Faust in dem Fall zu ermitteln. Allerdings hat Oxen kaum eine andere Wahl. Um nicht selbst für die Morde zur Verantwortung gezogen zu werden, sammeln Oxen und Mossmans Assistentin Margrethe Franck zunehmend brisantere Informationen, die bis ins dänische Herrschaftsgefüge des Mittelalters zurückreichen und auch die heutige politische Elite schwer belasten.
„Jetzt wäre er gern woanders. Ohne all die Fragen, die wie Wespen in seinem Kopf herumschwirrten und ihn nicht in Ruhe ließen. Aber das ging nicht. Er konnte nicht einfach seinen Rucksack packen und verschwinden.
Erst musste er der Sache auf den Grund gehen. Das war er Mr White schuldig – und sich selbst. Wenn er nicht herausfand, was hinter dem Ganzen steckte, würden sie ihn zur Schlachtbank zerren.“ (S. 184) 
Skandinavische Autoren wie Henning Mankell, Hakan Nesser, Stieg Larsson und zuletzt der Däne Jussi Adler-Olsen sind seit den 1990er Jahren aus den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Mit Jens Henrik Jensen hat dtv, wo auch die Werke von Adler-Olsen verlegt werden, einen weiteren potentiellen Star an Land gezogen, nachdem dessen „Oxen“-Trilogie in seiner Heimat seit 2012 so erfolgreich gewesen war, dass bereits die Filmrechte verkauft worden sind.
Mit „Das erste Opfer“ erscheint nun der erste Teil der Trilogie um den Ex-Elitesoldaten Niels Oxen auch in deutscher Sprache. Was der höchstdekorierte Elitesoldat bei seinen oft traumatischen Auslandseinsätzen in Bosnien, Afghanistan, im Irak und Kosovo erlebt hat, wird in kurzen Flashbacks zusammengefasst, aber was den Menschen Niels Oxen ausmacht, wird eher durch die Beziehung zu seinem Hund und dem sehr zurückhaltenden und wortkargen Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen deutlich.
Die Erfahrung hat ihn gelehrt, niemandem zu vertrauen, und so dauert es eine Weile, bis er sich der ebenfalls versehrten, ihm zugeteilten Partnerin Margrethe Franck, etwas öffnen kann. Wie die beiden während ihrer spannenden Schnitzeljagd auf immer heiklere Dokumente stoßen, die zu einer im Danehof gipfelnden Machtelite zurückführen, die wie ein Geheimbund seit dem Mittelalter die Geschicke des Landes beeinflusst hat, liest sich wie ein politischer Actionthriller, bei dem die sympathischen Protagonisten einem gewaltigen Komplott auf der Spur sind, das bis in die höchsten politischen Kreise führt.
Bei der turbulenten und temporeichen Suche nach weiteren Spuren und Beweisen bleibt die Charakterisierung vieler Figuren eher skizzenhaft. Allein bei Oxen und Franck hat sich der Autor merklich Mühe gegeben, charakteristische Züge zu entwickeln. Weitaus mehr Energie verwendete Jensen darauf, eine Reihe von außergewöhnlichen Todesfällen in einen verschwörerischen Thriller zu betten, in dem es vor allem um Macht, Gewalt und Vertuschung geht.
Auf die nachfolgenden Bände „Der dunkle Mann“ (für März 2018) und „Gefrorene Flammen“ (August 2018) darf man sehr gespannt sein!

Abstimmen für den Buch-Blog Award 2017

Samstag, 2. September 2017

Seit 2009 rezensiere ich an dieser Stelle mit Begeisterung Bücher aus allerlei Genres und Sachbuch-Bereichen, die mich interessieren, faszinieren und verführen, seien es Werke von US-amerikanischen Autoren wie James Lee Burke, Joe R. Lansdale, Stewart O'Nan, Paul Auster, Jonathan Franzen, Cormac McCarthy, Horror-Werke von Stephen King, Clive Barker, Jack Ketchum, Richard Laymon, Joe Hill, Peter Straub und Dan Simmons, skandinavische Krimi-Literatur von Jo Nesbo, Henning Mankell, Jussi Adler-Olsen und Hakan Nesser oder Thriller von John Grisham, Thomas Harris, Michael Connelly, Jefferey Deaver, Karin Slaughter, Simon Beckett, John Niven, Don Winslow, Comics und Fantasy von Walter Moers, Dave McKean und Neil Gaiman, zeitgenössische Autoren wie Andrea DeCarlo, Philippe Djian, Benedict Wells, Adam Davies, Irvine Welsh, Anthony McCarten und Ray Bradbury - dazu Sachbücher aus den Bereichen Film, Musik und Kunst.
Mit meinem Blog habe ich mich nun für die Longlist des "Buch-Blog Award 2017" qualifiziert. Ich freue mich, wenn ihr mich über den folgenden Link für die Shortlist nominieren würdet!
Mamoulians Geschichten für die Shortlist nominieren

John Grisham – (Bruce Cable: 1) „Das Original“

(Heyne, 367 S., HC)
Indem sie sich der Identität eines real existierenden Juniorprofessors für Amerikanistik bedienen und am Tag ihres geplanten Coups für etliche Ablenkungsmanöver sorgen, gelingt den fünf Gaunern Denny, Mark, Trey, Jerry und Ahmed das Kunststück, aus der Firestone Library der Princeton University fünf Originalmanuskripte zu entwenden, darunter F. Scott Fitzgeralds „Diesseits vom Paradies“, „Die Schönen und Verdammten“ und „Der große Gatsby“.
Zwar gelingt es dem FBI, mit Jerry und Mark zwei Mitglieder der Gang festzunehmen, aber die anderen drei Beteiligten und vor allem die Manuskripte bleiben verschwunden. Da die Versicherung in einem halben Jahr fünfundzwanzig Millionen an Princeton zahlen muss, wenn die Manuskripte nicht wieder auftauchen, ist Elaine Shelby mit ihrem Team beauftragt worden, neben dem FBI eigene Ermittlungen anzustellen.
Als die Spur der Manuskripte zu dem Buchhändler Bruce Cable auf Camino Island in Florida führt, heuert sie die Schriftstellerin Mercer Mann an, die seit drei Jahren an ihrem zweiten Roman zu schreiben versucht und die Insel durch ihre vor elf Jahren tödlich verunglückte Großmutter Tessa kennt. Sie soll möglichst nah an Bruce Cable herankommen und herausfinden, ob die Manuskripte tatsächlich in seinem Besitz sind. Da diese Aufgabe fürstlich entlohnt wird, übernimmt Mercer den Job trotz anfänglicher Skrupel, findet aber Gefallen daran, als sie Bruce und seine Frau Noelle näher kennenlernt, die eine sehr offene Beziehung zu führen scheinen. Als Noelle nach Frankreich reist, um neue Antiquitäten für ihr Geschäft auszukundschaften, lässt sich Mercer schließlich auf das Spiel mit dem Feuer ein …
„Er führte ein gutes Leben, hatte eine schöne Frau/Partnerin und besaß ein prächtiges Haus in einer netten Stadt. War er tatsächlich bereit, das alles zu riskieren und wegen Hehlerei gestohlener Manuskripte ins Gefängnis zu wandern?
Wusste er, dass ihm ein professionelles Ermittlungsteam auf den Fersen war? Und dass das FBI nicht weit war? Ahnte er, dass er in ein paar Monaten vielleicht für viele Jahre ins Gefängnis gehen musste?“ (S. 172) 
An sich ist es mal wieder ganz erfrischend, von John Grisham KEINEN Justiz-Thriller zu lesen. Zwar ist er durch internationale und auch großartig verfilmte Bestseller wie „Die Akte“, „Die Firma“, „Der Regenmacher“, „Der Klient“ und „Die Jury“ berühmt geworden, aber zwischendurch überraschte der examinierte Jurist immer wieder mal mit Romanen, die im Sportmilieu („Der Coach“, „Touchdown“) angesiedelt sind oder das Leben einer Baumwollfarmersfamilie beschreiben („Die Farm“).
Mit „Das Original“ begibt sich Grisham nun in die Welt der Bücher, in den Handel mit seltenen Erstausgaben und Originalmanuskripten. So interessant die Grundidee auch ist, bietet der Roman nur einen recht oberflächlichen Einblick in die Thematik. Der Diebstahl der Manuskripte wird recht kurz abgehandelt, die involvierten Personen nur grob skizziert.
Interessant wird es erst ab dem 2. Kapitel, wenn die Biografie von Bruce Cable rekapituliert wird, der mit dem väterlichen Erbe eine kurz vor dem Bankrott stehende Buchhandlung auf Camino Island erworben und sie mit großem Engagement zu einem florierenden Treffpunkt für Bücherfreunde und Autoren geführt hat, die auf ihren Leserreisen gern Station bei „Bay Books“ machen.
Auch bei der Charakterisierung von Mercer Mann gibt sich Grisham noch einige Mühe, schließlich sind Cable und Mann die wichtigsten Figuren in „Das Original“. Wie sich die beiden allerdings einander annähern, ist leider sehr vorhersehbar und ohne jeglichen Esprit beschrieben. Vor allem das Finale wirkt überhastet konstruiert, als hätte Grisham wie seine weibliche Hauptfigur das Interesse an der Geschichte verloren, so dass er sie nur noch schnell mit einer plötzlichen Wendung zu Ende bringen wollte. „Das Original“ lässt sich zwar flüssig lesen, doch die Figuren und der Plot können dem Vergleich mit Grishams früheren Werken nicht standhalten.
 Leseprobe John Grisham - "Das Original"