Cormac McCarthy – „Verlorene“

Samstag, 30. Dezember 2017

(Rowohlt, 734 S., Tb.)
Obwohl er das College besucht hat, ist Cornelius Suttree Anfang der 1950er Jahre in einem Slum am Tennessee River in Knoxville gestrandet, wo er allein auf einem Hausboot lebt und sich durch die Fischerei über Wasser hält. Zu seinen wenigen Weggefährten zählt der junge Gene Harrogate, den Suttree im Arbeitshaus kennengelernt hatte und der nun seine Bleibe am nahegelegenen Viadukt findet. Beide lassen sich nicht nur auf dem Fluss durch das Leben treiben, immer am Rande der Gesellschaft, immer wieder im Konflikt mit dem Gesetz oder den Frauen in ihrem Leben.
Suttree schließt sich einer Familie von Muschelfängern an und tut sich mit einer Prostituierten zusammen, durch die er für eine kurze Zeit Wohlstand kennenlernt.
Als er vom Tod seines Sohnes erfährt, den er kaum gesehen hat, und zu dessen Beerdigung fährt, erlebt Suttree eine weitere Enttäuschung in seinem von Not, Unglück, Gewalt und Unrat geprägten Leben. Gelegentlich riskiert er einen Blick zum anderen Ufer, zu den Versprechen der wohlhabenden Stadt.
„Suttree ging vorbei, damals lief er durch die Straßen wie ein streunender Hund. Das Alte sonderbar neu, ein Blick auf die Stadt, als sei es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Die stete Wiederkehr der Bilder hatte alles verwischt und nivelliert, dräuende Gebilde schienen auf einmal steil aus dem toten Schwemmland zu ragen, die Stadt seiner Erinnerungen ein Geist gleich ihm, er selbst ein Schemen zwischen Ruinen, der die dorren Artefakte durchstöberte wie ein bleicher Paläoanthrop die Gebeine versunkener Siedlungen, wo keine Seele mehr Zeugnis gibt vom Vergangenen.“ (S. 386) 
In seinem bereits 1979 veröffentlichten Underdog-Epos „Suttree“, den der Rowohlt Verlag 1992 auch in deutscher Übersetzung präsentierte, erweist sich der amerikanische Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy („Kein Land für alte Männer“, „Die Straße“) einmal mehr als akribischer Chronist des Lebens am Abgrund. Kaum ein anderer Schriftsteller beschreibt die Trostlosigkeit und Erschöpfung des alltäglichen Überlebenskampfes so akribisch und wortgewaltig wie die „legitime Nachfolge Faulkners“ (Washington Post).
Es kostet den Leser allerdings einiges an Mühe und Durchhaltevermögen, sich durch dieses in jeder Hinsicht monströs-epochale Werk zu wühlen, durch all den Schmutz und Unrat, durch die Gossensprache und ganze Buchstabenreihen verschluckende, Worte verschmelzende Alltagssprache, durch die von brutaler Gewalt, stinkendem Tod und verzehrender Krankheit geborenen Delirien. Es ist eine mythische Welt, die McCarthy ebenso schonungslos wie poetisch beschreibt; eine Welt, in der der Fluss Leben schenkt und nimmt. Eben noch verkauft Suttree die Fische, die er gefangen hat, dann sieht er, wie Leichen aus dem Strom geborgen werden, aufgedunsene Schweine- und zersetze Kinderkörper vorübergeschwemmt werden.
Detailliert beschreibt McCarthy die widrigen Lebensumstände am Rande der südstaatlichen, rassistischen Gesellschaft, die rohe Gewalt, die verdreckten Zimmer, in denen Suttree zwischenzeitlich sein Leben fristet, Krankheiten ausschwitzt und ausscheißt, fieberhafte Sexträume träumt und auf Geld seiner auswärts arbeitenden Lebensabschnittspartnerin wartet.
Bei aller Düsternis und Trostlosigkeit schleicht sich aber immer wieder McCarthys trockener Humor ein. Wenn er beschreibt, wie Harrogate ins Arbeitshaus muss, weil er ein Melonenfeld durchgepimpert hat, oder er bei der mutmaßlichen Bergung eines unterirdischen Schatzes vom stinkenden Inhalt des gesprengten Kanalrohrs überflutet wird, regt der schwergewichtige Roman auch zum Schmunzeln ein. Am nachhaltigsten allerdings wirkt McCarthys geschliffene Sprache, die selbst das Unaussprechliche zu großer Literatur zu formen versteht.

Jonathan Franzen – „Freiheit“

Dienstag, 19. Dezember 2017

(Rowohlt, 731 S., HC)
Seit Jonathan Franzen mit seinem Familienepos „Die Korrekturen“ 2001 zum internationalen Bestseller-Autor und Liebling der Kritiker wurde, sind in Deutschland seine früheren Werke „Schweres Beben“ und „Die 27ste Stadt“ nachgereicht worden, aber erst 2010 erschien mit „Freiheit“ das mit Spannung langerwartete neue Werk. Unter dem plakativ erscheinenden, weiträumig interpretierbaren Titel präsentiert der gefeierte amerikanische Romancier vor allem eine umfassende Familienchronik, die ihren Ausgang in dem Ehepaar Walter und Patty Berglund nimmt, das vor zwei Jahren von Washington in das St. Paul-Viertel Ramsey Hills gezogen ist. Der Leser erfährt von Pattys erfolgreicher Karriere als Basketballspielerin an der University of Minnesota und Walters Anstellung bei 3M, von den Kindern Joey und Jessica, von denen sich das Mädchen als folgsam und unkompliziert, der Junge als so rebellisch präsentiert, dass er glatt zu den Monaghans in der Nachbarschaft zieht und mit der Tochter Carol eine an sich heiratsfähige, doch auch komplizierte Beziehung eingeht.
Im weiteren Verlauf des Romans lernen wir die einzelnen Familienmitglieder näher kennen, jeden aus seiner eigenen Perspektive, wobei Walter und Patty mit ihrer schwierigen Beziehung definitiv im Mittelpunkt stehen. Denn ausgerechnet Walters bester Freund, der Rockmusiker Richard Katz, lässt sich auf eine Affäre mit seiner Frau ein, die später auf Anraten ihres Therapeuten ihre Erfahrungen in der Autobiographie „Es wurden Fehler gemacht“ niederschreibt und von sich in der dritten Person erzählt. Durch die Affäre und die darauffolgende Trennung verändert sich auch die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, die längst ihren eigenen Weg gehen, Jessica auf unspektakuläre, unkomplizierte Weise, Joey durchaus mit Hang zum unternehmerischen Risiko. Doch vor allem Walter und Patty selbst haben trotz neuer Partner unter ihrer Trennung zu leiden.
„Sie hatte sich unter allen Männern auf der Welt in den einen verliebt, der Walter genauso zugetan war, der genauso auf Walters Wohl bedacht war wie sie; jeder andere hätte versuchen können, sie gegen ihn aufzubringen. Und womöglich schlimmer noch war ihr Gefühl der Verantwortung für Richard, weil sie wusste, dass er in seinem Leben sonst niemanden wie Walter hatte und dass seine Loyalität gegenüber Walter, neben seiner Musik, zu den wenigen Dingen gehörte, die ihn in seinen eigenen Augen als Mensch retteten. All dies hatte sie, in ihrem Schlaf und ihrer Selbstsucht, aufs Spiel gesetzt.“ (S. 234) 
Franzen zeichnet die Lebensgeschichten seiner Figuren sehr akribisch nach, nicht chronologisch, sondern in Zeitsprüngen, die die psychische Konstitution der jeweiligen Persönlichkeit verdeutlichen, immer abwechselnd, so dass keine Figur zu lange aus dem Fokus des Lesers verschwindet.  
„Freiheit“ bedeutet im Kontext der Berglund-Familie vor allem die Freiheit, Fehler zu machen, unter den Konsequenzen jahrelang zu leiden und auch in vielen anderen Belangen, vor allem in beruflicher Hinsicht, zu scheitern. Franzen bringt dem Leser die Figuren dabei so nahe, dass sie Teil der eigenen Familie, der eigenen Lebensgeschichte zu werden scheinen, und auf diese Weise regt der Autor zur Selbstreflexion an. Der familiäre Mikrokosmos, den der Roman so detailliert beschreibt, wird so zur Blaupause der Familienstruktur nach 9/11. Menschen machen schlimme Fehler, geraten auf die schiefe Bahn, bereuen und leisten Abbitte, jeder der Berglunds auf seine Art. Dabei hebt Franzen aber nicht den moralisierenden Zeigefinger, denn er weiß ebenso wie seine Leser, dass Irren allzu menschlich ist. Und so wird auch der Leser geneigt sein, den Figuren ihre Fehler nachzusehen. Nach 730 Seiten ist man so vertraut mit den Berglunds, dass der Abschied schwerfällt. Das gelingt nur den ganz großen Romanen. 
Leseprobe Jonathan Franzen - "Freiheit"

Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 12) „Der talentierte Mörder“

Dienstag, 12. Dezember 2017

(Blanvalet, 639 S., HC)
Eher zufällig wird Detective Amelia Sachs auf den mutmaßlichen Raubmörder aufmerksam, dem das NYDP seit zwei Wochen auf der Spur ist, und verfolgt ihn in das Einkaufszentrum an der Henry Street. Doch gerade in dem Moment, als Sachs sich den großen wie dürren Verdächtigen schnappen will, öffnet sich an der Rolltreppe eine Metallplatte, Sachs versucht dem in die Öffnung gefallenen Mann zu helfen, doch das Opfer wird durch den nach wie vor laufenden Antrieb grausam zerquetscht.
Lincoln Rhyme lässt sich vom Anwalt der Hinterbliebenen des Opfers als Berater engagieren, um Beweise im Prozess wegen fahrlässiger Tötung zusammenzustellen. Der querschnittsgelähmte Star-Forensiker gab seine Beratertätigkeit für das NYPD auf, nachdem er sich für den Tod eines scheinbar unschuldigen Mannes gefühlt hatte. Nun leitet er zwei Forensik-Seminare an der John Marshall School for Criminal Justice und nimmt die an den Rollstuhl gefesselte, sehr clevere Studentin Juliette Archer als Praktikantin an.
Sachs, die die Entscheidung ihres Arbeitskollegen und Lebensgefährten Lincoln Rhyme nicht versteht, dass er seine Beratertätigkeit aufgegeben hat, reagiert empört, als Rhyme ihr mit Mel Cooper auch noch den besten Kriminaltechniker der Stadt entführt hat, der ihr nun bei der Aufklärung des Raubmordes fehlt.
Als jedoch weitere Fälle bekannt werden, bei denen Menschen durch Geräte getötet werden, in denen ein sogenannter DataWise5000-Controller verbaut worden ist, stellen die Ermittler fest, dass die beiden Fälle, mit denen Rhyme und Sachs zu tun haben, zusammengehören. Die Zeit drängt, denn es sieht ganz so aus, als würde der sogenannte Täter 40 zunehmend Gefallen an seinen ausgetüftelten Tötungsmechanismen finden.
„Seitdem feststand, dass der Hüter des Volkes, ihr Täter 40, ein Serientäter war, mussten sie davon ausgehen, dass er bald wieder zuschlagen würde. Das war bei solchen Kriminalfällen oft der Fall. Was auch immer sie motivierte, ob sexuelle Lust oder terroristischer Hass, derartig intensive Gefühle führten meistens zu einer gesteigerten Häufigkeit der Taten.“ (S. 453) 
Seit „Der Knochenjäger“, dem ersten Fall von Lincoln Rhyme und Amelia Sachs, ist Jeffery Deaver zu einem der erfolgreichsten Thriller-Autoren der Welt avanciert. Mit Hilfe der umfassenden Datenbank, die der geniale Forensiker Lincoln Rhyme seit seiner in Ausübung des Dienstes erlittenen Querschnittslähmung aufgebaut hat, und feingliedrigen Untersuchungsmethoden ist es dem im Arbeitsleben wie als Lebenspartner mit dem ehemaligen Mannequin Amelia Sachs zusammengeschweißten Kriminalisten gelungen, auch den gerissensten Verbrechern das Handwerk zu legen.
Auch in seinem neuen Rhyme-Roman verwendet Deaver viel Zeit darauf, dem Leser die akribischen Arbeitsmethoden in Rhymes Privatlabor vorzuführen. Rhyme und seine ebenfalls behinderte Praktikantin erweisen sich dabei als kongeniales Team, während Sachs nicht nur damit beschäftigt ist, sich um ihre kranke Mutter Rose zu kümmern, der eine Herz-OP bevorsteht, sondern auch ihren Ex-Freund Nick Carelli abzuwimmeln, der gerade aus dem Knast entlassen worden ist und nun behauptet, dass er die ihm vorgeworfenen Taten gar nicht begangen, sondern sich für seinen mittlerweile verstorbenen Bruder geopfert habe.
Deaver gelingt es einmal mehr, die penible Suche nach und Auswertung von noch so winzigsten Spuren als spannende Detektiv-Arbeit zu beschreiben und seine Leser mit gut recherchierten Analysen zu fesseln. Allerdings vergeht so auch viel Zeit, ehe die beiden Fälle, die Rhyme und Sachs jeweils unabhängig voneinander bearbeiten, an Schwung aufnehmen und schließlich zusammenführen. Zwischenzeitlich kommt der „talentierte Mörder“ als Ich-Erzähler auch immer wieder selbst zu Wort und sieht sich als moralisierender „Hüter des Volkes“, der die Menschen von ihrer Konsumsucht zu befreien gedenkt.
Bei der Suche nach Täter 40 (benannt nach dem Club, an dem das erste Mordopfer mit einem Kugelhammer erschlagen wurde) finden Rhyme und Archer auch mal Zeit für Rätselspiele und eine Partie Blindschach (die der Autor unnötigerweise über zwei Seiten auch bebildert nachstellt), während Sachs sich scheinbar über ihre Gefühle für ihren Ex-Lover klarwerden muss.
Und als sei das nicht schon Stoff genug für drei Thriller, jagt Sachs‘ Partner Ron Pulaski auf eigene Faust einem Drogendealer namens Oden hinterher und bringt sich damit in Teufels Küche.
„Der talentierte Mörder“ überzeugt als clever konstruierter Cop- und Psycho-Thriller mit einem außergewöhnlichen Ermittler-Duo, dessen zwischenmenschliche Beziehungen trotz der deutlich auftretenden Differenzen allerdings kaum thematisiert werden. Natürlich nimmt der Thriller zum Ende hin einige „überraschende“ Wendungen, die auf ihre konstruiert wirkende Weise dem bis dahin so klug aufgebauten Plot etwas die Plausibilität nehmen. Doch von diesem genretypischen Schwächen abgesehen bietet „Der talentierte Mörder“ gewohnt packende Thriller-Spannung von einem Meister des Genres. 
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der talentierte Mörder"

Tess Gerritsen – (Rizzoli & Isles: 12) „Blutzeuge“

Freitag, 8. Dezember 2017

(Limes, 412 S., HC)
Als die Leiche der jungen Filmemacherin Cassandra Coyle auf dem Bett ihrer exklusiven Wohnung aufgefunden wird, ruft das nicht nur Detective Jane Rizzoli vom Boston Police Department, sondern auch ihre Freundin, die Gerichtsmedizinerin Maura Isles, auf den Plan. Der Mörder hat seinem Opfer nämlich die Augäpfel entfernt und in dessen Handflächen gelegt. Bei der Autopsie entdeckt Isles nicht nur eine signifikante Menge der Date-Rape-Droge Ketamin im Körper der Toten, sondern am Hals auch Rückstände von Klebemittel.
Wenig später wird an Heiligabend auch der fünfundzwanzigjährige Buchhalter Timothy McDougal am Jeffries Point unter ähnlichen Umständen tot aufgefunden, mit drei Pfeilen in der nackten Brust. Auch bei ihm wird Ketamin im Blut gefunden. Als sich Isles mit ihrem ehemaligen Geliebten, den Polizeigeistlichen Daniel Brophy, über ihren Verdacht austauscht, wird ihr klar, dass die Bostoner Polizei es mit einem Serienkiller zu tun hat, der mit seinen Taten die Leiden der christlichen Märtyrer nachstellt.
Auf den Überwachungsvideos bei den Trauergottesdiensten fällt den Beamten eine Frau auf, die sie als Holly Devine identifizieren und die eine gemeinsame, traumatische Geschichte mit den Opfern teilt. Sie war nämlich ebenso wie die Mordopfer vor zwanzig Jahren in der Kindertagesstätte Apple Tree von Irina und Konrad Stanek sowie ihrem Sohn Martin missbraucht worden, was erst ans Licht kam, als die neunjährige Lizzie DiPalma vermisst worden war. Während das Stanek-Ehepaar mittlerweile in der Haft verstorben war, wurde Martin Stanek vor drei Monaten entlassen. Doch die Journalistin Bonnie Sandridge glaubt nicht daran, dass Stanek der Täter gewesen war.
„,Lizzie DiPalmas Verschwinden versetzte die Menschen in der Gemeinde in Angst und Schrecken, und sie waren bereit, alles zu glauben – sogar, dass Tiger durch die Luft fliegen könnten. Darum geht in meinem Buch, Detective. Darum, wie aus eigentlich vernünftigen Menschen ein rasender und gefährlicher Mob werden kann.‘“ (S. 282) 
Rizzoli und ihr Partner Berry Frost haben alle Hände voll zu tun, die alten Prozessakten durchzusehen, Gespräche mit dem nun auf freiem Fuß befindlichen Hauptverdächtigen Martin Stanek und der undurchdringlichen Holly Devine zu führen, aber auch auf privater Seite haben Rizzoli und Isles einige Probleme zu meistern. So wird Maura Isles nicht nur mit dem nahenden Krebstod ihrer wegen mehrfachen Mordes inhaftierten Mutter Amalthea Lank konfrontiert, sondern muss sich auch ihren Gefühlen für Daniel stellen, der sein Versprechen Gott gegenüber nicht für Maura brechen will. Und Jane Isles bekommt zum Weihnachtsessen vorgeführt, wie sehr ihre Mutter unter der Ehe mit ihrem Mann zu leiden hat, nachdem sie ihre Affäre mit Vince Korsak beendet hatte.
Für einen moderaten Umfang von 400 Seiten bietet der zwölfte Band aus der erfolgreichen Thrillerreihe um Rizzoli & Isles nicht nur etliche Tote mit außergewöhnlichen Verletzungen, sondern auch eine interessante Spurensuche in der Vergangenheit. Wie die Missbrauchsanschuldigungen im Fall von Apple Tree mit den Morden in der Tradition christlicher Märtyrer zusammenhängen, zählt zu den spannungstreibenden Elementen in „Blutzeuge“.
Dass Maura Isles immer wieder mit ihrer grausamen Mutter konfrontiert wird, hat sie mit Karin Slaughters Protagonisten Will Trent gemein, der ständig von seiner psychopathischen Exfrau Angie terrorisiert wird. Das mag für einige Stories innerhalb einer Reihe ganz interessant sein, auf die Dauer nerven diese Verknüpfungen allerdings und tragen nicht zur Glaubwürdigkeit des Plots bei. Viel interessanter wären hier die Beziehungen zwischen Maura Isles und ihrem geliebten Geistlichen einerseits und die problematischen Verhältnisse in der Rizzoli-Familie. Janes Mann Gabriel wird auf den immer verständnisvollen Gefährten reduziert, während die Episode zwischen Isles und ihrem Love Interest wie eine Anekdote behandelt wird.
Doch Gerritsen scheint nicht mehr als an einer oberflächlichen Entwicklung ihrer Figuren interessiert zu sein, was sie u.a. ihrem Kollegen James Patterson gemein hat. Stattdessen liefert sie leicht lesbare, durchaus spannende Thriller-Kost mit einem überschaubaren, aber kaum markant gezeichneten Ensemble, wobei sich die Originalität des Plots meist auf möglichst mysteriöse, abartige Modi Operandi beschränkt.
 Leseprobe Tess Gerritsen - "Blutzeuge"

Håkan Nesser – „Der Fall Kallmann“

(btb, 572 S., HC)
Sieben Monate nach dem Verschwinden seiner Frau und seiner Tochter nimmt Leon Berger das Angebot seiner alten Freundin Ludmilla Kovacs an und verlässt die Metropole Stockholm für eine Anstellung als Lehrer in der Provinzstadt K. im Nordwesten Schwedens, wo er die Nachfolge von Eugen Kallmann antritt. Der angesehene, aber in sich verschlossene Mann war bei einem Sturz von einer Treppe ums Leben gekommen und hinterließ einige Tagebücher, die Berger bei der Durchsicht des Schreibtisches seines Vorgängers entdeckt und die von 1980 bis 1994 reichen. Doch als sich Berger näher mit Kallmanns Einträgen in den Büchern auseinandersetzt, stellt er fest, dass der Autor oft sehr unverständliches und wirres Zeug von sich gibt, ja sogar davon schreibt, seine Mutter umgebracht zu haben und in den Augen der Menschen erkennen zu können, ob sie ebenfalls jemanden getötet haben.
Berger ist neugierig geworden und bittet seine Freundin Ludmilla, die als Beratungslehrerin an der Schule tätig ist, und seinen Kollegen Igor, mit ihm herauszufinden, was an Kallmanns Schilderungen wahr sein könnte. Gleichzeitig wächst die Vermutung, dass Kallmann tatsächlich Opfer eines Gewaltverbrechens gewesen sein könnte. Aufschluss könnte ein fehlendes Tagebuch ab 1995 sein, das die gut fünf Monate bis zu Kallmanns Tod abdeckt, aber nicht an seinem Arbeitsplatz in der Schule zu finden ist.
Während der privaten Ermittlungen des Trios erschüttern einige antisemitische Vorfälle in der Schule die Kleinstadt, die in dem Mord an einem Jung-Nazi und einer Demonstration der rechtsradikalen Bewegung Die Zukunft Schwedens gipfelt.
„Alles ist schon einmal geschehen und geschieht wieder, es ist nicht gut für den Verstand, auf diese Bahn zu geraten. Ich denke, dass ich ziemlich viel dafür geben würde, zehn Minuten mit Eugen Kallmann sprechen zu dürfen; ich stelle mir vor, dass ich dann so manches begreifen würde, was im Moment knapp außerhalb der Reichweite meiner Auffassungsgabe tanzt.“ (S. 526) 
Der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser präsentiert sich in seinem neuen Roman „Der Fall Kallmann“ nicht als allwissender Erzähler, sondern lässt jeweils die wichtigsten Figuren ihre Eindrücke, Gedanken und Gefühle aus der Ich-Perspektive zum Besten geben. Auf diese Weise erfährt der Leser recht schnell, wie Leon Berger durch den Umzug nach K. das Trauma des Verlusts seiner Familie hinter sich zu lassen versucht, wie Ludmilla eine Affäre mit ihm beginnt, während ihr Mann Klas sich mit einer jüngeren Fitness-Trainerin vergnügt, wie die beiden Freundinnen Andrea und Emma ebenfalls Interesse am Rätsel um Kallmanns Tod entwickeln, wie Igor, der an der Schule die engste Verbindung zu Kallmann gepflegt hatte, sich an den Toten erinnert.
Die nationalistischen Triebe, die Nesser in seinem Roman thematisiert tragen letztlich nicht wirklich zur Lösung des Falls Kallmann bei, sondern bringt eher ein aktuelles gesellschaftspolitisches Problem zur Sprache und etwas Action in einen sonst eher ruhig inszenierten Plot, der von Nachforschungen in der Vergangenheit geprägt ist.
Durch die verschiedenen Ich-Erzählperspektiven gelingt es Nesser allerdings, den Leser schnell ins Geschehen einzubinden und eine vertrauliche Beziehung zu den Figuren aufzubauen. Das Rätsel um Kallmanns Tod und seine auf einen ungeklärten Mord verklausulierten Hinweise werden dann behutsam wie ein komplexes Puzzle gelöst.
„Der Fall Kallmann“ fasziniert so als gut beobachtete psychologische Studie, als überzeugende, nicht übermäßig konstruierte Detektivgeschichte und als stimmiger Entwicklungsroman.
Leseprobe Håkan Nesser - "Der Fall Kallmann"

Stephen King & Owen King - „Sleeping Beauties“

Mittwoch, 6. Dezember 2017

(Heyne, 959 S., HC)
In der Welt herrscht gewalttätiges Chaos. Neben dem Erdbeben in Nordkorea sind es aber vor allem von (männlicher) Menschenhand initiierte Katastrophen, die die Nachrichten prägen: Ein durch Sabotage entflammter Bohrturm im Golf von Aden, kriegerische Auseinandersetzungen in der Golfregion und ein seit vierundvierzig Tagen andauernder Konflikt zwischen einer Miliz in New Mexico und dem FBI sowie Krebserkrankungen im Kohlerevier der Appalachen, wo vor fünf Jahren ein Chemieunfall den Fluss verseucht hatte.
Doch diese Schreckensmeldungen verblassen angesichts einer weltweiten Epidemie, die auch die in West Virginia liegende Kleinstadt Dooling erfasst: Sobald Frauen einschlafen, werden sie in einen Kokon gehüllt und wachen nicht mehr auf.
Die Situation spitzt sich zu, als Sheriff Lila Norcross zu einer Explosion eines Meth-Labors mit zwei Toten gerufen wird und in der Nähe des Tatorts eine wunderschöne fremde Frau aufgreift, die auf den Namen Evie Black hört und offensichtlich über besondere Fähigkeit verfügt. Sie weiß nicht nur sehr persönliche Dinge über die Personen, mit denen sie zu tun hat, sondern kann auch wieder ganz normal aufwachen, wenn sie geschlafen hat.
Für Clint Norcross stellt Evie, die zur Sicherheitsverwahrung ins Gefängnis gesperrt wird, ein höchst interessantes Forschungsobjekt dar, das auf jeden Fall vor dem Zugriff der Außenwelt geschützt werden muss. Derweil organisiert der städtische, zu Aggressionen neigende Tierfänger Frank Geary eine Truppe von Männern, die die Frauenhaftanstalt stürmen und Evie in ärztliche Obhut geben wollen, weil die geheimnisvolle Frau eventuell nicht nur für die Schlafkrankheit Aurora verantwortlich sein, sondern auch das Gegenmittel zur Heilung besitzen könnte. Schließlich haben die Männer bereits damit begonnen, Frauen in den Kokons abzufackeln, weil eine Fake-News im Internet dazu aufgefordert hatte, um die Seuche einzudämmen. Werden die Kokons stattdessen geöffnet, werden die eben noch schlafenden Frauen zu mörderischen Bestien, nur um dann wieder einzuschlafen.
Evie ist nicht nur in der Lage, mit einem Kuss Lebensenergie zu spenden, sondern sie besitzt auch die Fähigkeit, in Gestalt von Motten, Ameisen und Ratten Dinge in Bewegung zu setzen. Vor allem hat sie einen Tunnel geschaffen, durch den die eingeschlafenen Frauen in eine andere Welt gehen können, die sie als „Unseren Ort“ bezeichnen und der frei ist von männlicher Gewalt.
„Hier war eine Welt, in der ein kleines Mädchen selbst nach Dunkelheit allein nach Hause gehen und sich sicher fühlen konnte. Eine Welt, in der das Talent eines kleinen Mädchens sich gleichzeitig mit seinen Hüften und Brüsten entwickeln konnte. Niemand würde es im Keim ersticken.“ (S. 738) 
Allerdings droht der Tunnel verschlossen zu werden, wenn der Zauberbaum, der ihn beherbergt, abgebrannt wird. Die Frauen auf der anderen Seite müssen sich geschlossen entscheiden, ob sie ihr Leben ganz neu in einer neuen Welt beginnen wollen oder in die alte zurückkehren, wo die Männer hoffentlich aus ihren Fehlern gelernt haben …
Nachdem der mittlerweile bereits 70-jährige Stephen King mit seinem Sohn Joe Hill („Blind“, „Christmasland“) die beiden Kurzgeschichten „Vollgas“ und „Im hohen Gras“ realisiert hatte, folgt nun mit „Sleeping Beauties“ eine weitere familiäre Gemeinschaftsarbeit, diesmal mit dem hierzulande noch völlig unbekannten, in seiner Heimat aber durch einige Kurzgeschichten aufgefallenen 40-jährigen Sohn Owen. Für ihr erstes gemeinsames Buch haben sie ein durchaus spannendes und gesellschaftlich hochaktuelles Thema als Grundlage für ein episches Fantasy-Drama gewählt, das der Frage nachgeht, inwieweit die Männer die Frauen unterdrücken und ob eine Welt ohne Frauen wirklich erstrebenswert wäre.
Aus dieser Fragestellung haben die beiden Kings eine typische amerikanische Kleinstadt ins Zentrum ihrer Geschichte gestellt und eine zunächst unüberschaubar anmutende Menge an Figuren (die in knapp vierseitigen Personenregister zunächst kurz vorgestellt werden) geschaffen, die allerdings oft nur kurze Auftritte haben und die Geschichte nicht wirklich voranbringen. Sie stehen sowohl in weiblicher wie in männlicher Hinsicht oft nur für Stereotypen ihrer jeweiligen Rolle in der Gesellschaft.
Zum Glück hat das Autorengespann aber auch eine Reihe von Identifikationsfiguren kreiert, die nicht nur die Handlung vorantreiben, sondern auch das Dilemma personifizieren, in dem beispielsweise Gewalt und Mord gerechtfertigt werden soll. Neben Lila und Clint Norcross, die neben der Epidemie auch noch eine Ehekrise zu bewältigen haben, sind dies vor allem der ambitionierte, aber auch zu Gewaltausbrüchen neigende Tierfänger und selbsternannte Deputy Frank Geary, die beiden Gefangenen Jeanette Sorley und Angel Fitzroy sowie die Journalistin Michaela Morgan, Tochter von Gefängnisdirektorin Janice Coates. Wunderbar mysteriös ist den Kings die Charakterisierung von Evie Black gelungen, die teils als Hexe gefürchtet, teils als Heilsbringerin verehrt wird.
„Sleeping Beauties“ ist bei der epischen Länge von fast 1000 Seiten ein überwiegend packender Fantasy-Thriller geworden, der aus einer spannenden Ausgangssituation sowohl ganz märchenhafte Elemente (mit weißem Tiger, sprechenden Ratten und einem Rotfuchs und einer nicht von dieser Welt stammenden Evie) als auch beängstigend reale Vorstellungen zu einem apokalyptischen Szenario vereint, wie es offensichtlich nicht nur Vater King – wie bereits in „The Stand – Das letzte Gefecht“ oder „Die Arena“ -, sondern auch seine Söhne zu kreieren verstehen. Trotz einiger Längen fesselt der Roman bis zum starken Finale. 
Leseprobe Stephen King & Owen King - "Sleeping Beauties"

Karin Slaughter – (Georgia: 6) „Blutige Fesseln“

Sonntag, 3. Dezember 2017

(HarperCollins, 512 S., Tb.)
Will Trent will gerade seinen Hund Betty zur Zahnreinigung bringen, als er von seiner Partnerin Faith Mitchell zu einem Tatort gerufen wird. Bei dem Toten handelt es sich um den 58-jährigen Ex-Cop Dale Harding, der in einer riesigen Blutlache bei den abbruchreifen Lagerhäusern gefunden wurde, die dem prominenten Profi-Basketballer Marcus Rippy gehören. Der als spielsüchtige Trinker bekannte Harding war während seiner aktiven Dienstzeit zuletzt als Detective im Bereich Wirtschaftskriminalität tätig und wirkte nach seinem vorzeitigen Ruhestand als privater Handlanger für Zuhälter und Geldeintreiber weiter.
Was den Fall schnell interessant macht, ist die Tatsache, dass Rippy auf dem Gelände, auf dem Hardings Leiche gefunden wurde, einen Nachtclub aufmachen will. Zuvor versuchte Will, einen Fall gegen Rippy aufzubauen, weil dieser eine Studentin unter Drogen gesetzt und vergewaltigt haben soll, aber seine gutbezahlten Anwälte ließen den Fall nie vor Gericht kommen. Die Gerichtsmedizin findet schnell heraus, dass das Blut am Tatort nicht von Harding stammt, eine in der Nähe gefundene Waffe ist ausgerechnet auf Wills Ex-Frau Angie Polaski zugelassen.
Schließlich entdeckt die Polizei eine schlimm zugerichtete Frauenleiche, die zunächst für Angie gehalten wird, doch Will wird schnell klar, dass die Frau, mit der er zusammen im Atlanta Children’s Home aufgewachsen ist, nur einen weiteren perfiden Plan verfolgt, ihm das Leben zu Hölle zu machen, was vor allem Wills noch recht junge Beziehung zur Gerichtsmedizinerin Sara Linton auf eine harte Probe stellt.
Der Schlüssel zur Lösung des Falls scheint in der Verbindung zwischen Rippy, Harding und Angie zu liegen, wobei vor allem Hardings Hintergrund immer dunklere Abgründe offenbart.
„Alle sagten immer, Dale sei ein schlechter Polizist. Doch niemand kam darauf, wie schlecht er wirklich war. Sie dachten, es sei das Saufen und seine Spielsucht. Sie wussten nicht, dass er einen Stall minderjähriger Mädchen unterhielt, die seinen Gehaltsscheck von der Stadt aufbesserten. Dass er Fotos machte. Dass er die Fotos an andere Männer verkaufte. Dass er die Mädchen verkaufte. Dass er die Mädchen selbst benutzte.“ (Pos. 5590) 
Die amerikanische Thriller-Bestseller-Autorin Karin Slaughter hat in ihren miteinander verwobenen Reihen um Grant County, Georgia und Will Trent ein über die Jahre gereiftes, interessantes Figurenarsenal geformt, das abgesehen von Saras Ex-Mann, dem im Dienst getöteten Jeffrey Tolliver, auch in der mittlerweile langlebigsten Georgia-Reihe das Geschehen bestimmt.
Dabei wird vor allem die komplizierte gemeinsame Vergangenheit von den in Pflegeheimen und -familien aufgewachsenen Will und Angie aufbereitet, die vor allem bei Angie psychische Deformierungen hinterlassen hat und noch immer für zwischenmenschliche Turbulenzen zwischen den ehemaligen Eheleuten führt.
Das bekommt im sechsten Georgia-Band vor allem Sara am eigenen Leib zu spüren, als sie erfährt, dass Will sie nach einer Liebesnacht verlassen hatte, um Angie aufzusuchen. So haben Faith und Will mit ihrer Chefin Amanda nicht nur einen komplizierten Fall zu lösen, sondern es geht vor allem auch darum, ob Sara wieder das alte Vertrauen zu Will aufbauen kann. In der Vielschichtigkeit der Themen liegt leider auch das große Problem des Thrillers, denn die fast schon inzestuös wirkende Konzentration auf das bewährte, aber mittlerweile auch überstrapazierte Figurenensemble mit seinen komplizierten Verflechtungen und Animositäten nervt durch die Zwanghaftigkeit, mit der die Beziehungen konstruiert werden. Hier würde die Erweiterung durch andere starke Charaktere wahre Wunder wirken. Dies geschieht hier nur durch ein weiteres Familienmitglied, nämlich Angies Tochter Jo, die eine zentrale Rolle in dem Plot einnimmt, aber das Geschehen letztlich auch wieder nur auf Will und Angie zurückführt.
Die starre Fokussierung auf Will, Amanda, Faith, Sara und Angie führt nämlich leider auch dazu, dass die Personen, die in den Fall um Dale Harding und Marcus Rippy involviert sind, nur sehr grob skizziert werden. Durch die ständig wechselnden Hinweise bei den Ermittlungen und den vertrackten persönlichen Beziehungen geht vor allem im Mittelteil der Spannungsbogen weit nach unten, so dass bei „Blutige Fesseln“ sowohl in figürlicher Hinsicht als auch bei der Auflösung des Harding-Falls mehr Stringenz zu wünschen gewesen wäre. 
Leseprobe Karin Slaughter - "Blutige Fesseln"