James Patterson – (Alex Cross: 12) „Blood“

Mittwoch, 30. Mai 2018

(Blanvalet, 379 S., Tb.)
Der erfolgreiche Profiler Alex Cross kommt über den Tod seiner Frau Maria selbst nach über zehn Jahren nicht so recht hinweg. Damals, im Herbst 1993, war er Detective bei der Mordkommission in Washington, D.C., und musste mit eigenen Augen sehen, wie Maria erschossen wurde und in seinen Armen verstarb. Währenddessen hat die Mafia ihren Kokain- und Heroinhandel auch auf Washington, Baltimore und Teile Virginias ausgeweitet und den chinesischen Drogenbaron Jiang An-Lo exekutiert, wofür der Profikiller Michael „der Schlachter“ Sullivan verantwortlich gewesen sein soll, der sich stets mit einer Verbeugung vom Tatort verabschiedet hat.
Mittlerweile arbeitet Cross für das FBI und bringt nach wie vor sein Leben in Gefahr, was sogar dazu führt, dass seine Großmutter Nana die Erziehung von Alex‘ Kinder abgibt und aus dem Haus zieht, damit ihr Ziehsohn endlich zur Besinnung kommt. Tatsächlich kündigt Alex seinen Job beim FBI und eröffnet eine Praxis als Psychiater. Doch als sein ehemaliger Partner und bester Freund John Sampson den Mafia-Schergen Gino Giametti einbuchtet, behauptet dieser, den Mörder von Alex‘ Frau zu kennen. Bevor dieser mit der Wahrheit herauskommt, wird er allerdings in seiner Zelle umgebracht.
Alex Cross entdeckt zunächst wider Willen seine alten Fähigkeiten als „Drachentöter“ und macht sich erneut auf die Jagd in einem Fall, der ihn nie in Ruhe gelassen hat. Es scheinen sogar Parallelen zu einer Serie von brutalen Vergewaltigungsfällen vorhanden zu sein. Währenddessen entkommt der nach wie vor umtriebige Schlachter einem Anschlag des Mafiabosses John Maggione Junior, für dessen Vater Sullivan tätig gewesen war, und führt einen blutigen Rachefeldzug gegen den Don. So gerät er auch in den Fokus der neuen Ermittlungen von Alex Cross:
„Sullivan war möglicherweise zum Informanten eines Mitarbeiters geworden. Gut möglich, dass das FBI oder die New Yorker Polizei ihn deckte. Vielleicht war Sullivan sogar in einem Zeugenschutzprogramm. War es das, was mit Marias Mörder geschehen war? War er ein Schnüffler? War der Schlachter ein Protegé des FBI?“ (S. 286) 
In seinem zwölften Fall wird Alex Cross einmal mehr von den Dämonen seiner Vergangenheit heimgesucht. Jetzt wie auch vor zehn Jahren hat es der prominente Ermittler mit dem irischen Auftragskiller Michael Sullivan zu tun, dessen Vater tatsächlich Schlachter gewesen ist und sich an dem Jungen vergangen hat. Damit wären also recht einfach die abartigen Triebe des Schlachters erklärt.
Überhaupt nimmt sich Bestseller-Autor James Patterson wie gewöhnlich wenig Zeit, um die Motivationen und Charakterzüge seiner Figuren zu beschreiben. Stattdessen reißt er den Plot wie ein Action-Film herunter. In kurzen, meist nur zwei- oder dreiseitigen Kapiteln werden kurz die Stationen von Sullivans Gewaltverbrechen einerseits und Alex Cross‘ Sorgen um seine Familie, die auf lange Sicht scheiternden Dates mit anderen Frauen und die unermüdliche Jagd nach Marias Mörder andererseits abgerissen, so dass die schnell wechselnden Geschehnisse und Handlungsorte keine Zeit zum Nachsinnen lassen. Da leider auch die Glaubwürdigkeit des Plots gerade zum Finale hin und die Tiefgründigkeit der Figuren stark zu wünschen übriglassen, zählt „Blood“ definitiv zu den schwächeren Werken des Autors.
Leseprobe James Patterson - "Blood"

Jonathan Franzen – „Unschuld“

Dienstag, 29. Mai 2018

(Rowohlt, 830 S., HC)
Die junge Purity „Pip“ Tyler fühlt sich von ihren Studienschulden erdrückt, lebt in einem besetzten Haus in Oakland und hasst ihren Job bei Renewable Solutions, wo sie seit fast zwei als Telefonverkäuferin regelmäßig die wenigsten Kontaktpunkte erzielt und ebenso regelmäßig von dort aus mit ihrer Mutter Anabel telefoniert, die ihr partout nicht verraten will, wer Pips Vater ist.
Als ihre deutsche Mitbewohnerin Annagret ihr ein Praktikum bei der renommierten Enthüllungsplattform Sunlight Project des charismatischen Dissidenten Andreas Wolf vermittelt, reist sie tatsächlich nach Bolivien, weil sie hofft, durch die technischen Möglichkeiten des Projekts die Identität ihres Vaters herauszufinden.
Zwar grenzt sich Andreas Wolf mit dem Sunlight Project von Wikileaks ab, weil er bei seinen Enthüllungen einen moralischen Maßstab verwende, doch seine eigene Vita ist auch nicht frei von Verfehlungen: Der 1960 in der DDR geborene Sohn eines Politbüromitglieds hat nämlich mitgeholfen, den Stiefvater der damals 15-jährigen Annagret zu ermorden, und wird die Erinnerung an diese Tat nie los. Er schickt Pip schließlich zu seinem alten Freund Tom Aberant, dem Gründer und Chefredakteur des Denver Independent, wo sie ein Recherchepraktikum absolviert und eine Zeitlang auch in dem Haus ihres Chefs lebt.
Aberant war einer der ersten Journalisten, der den prominenten DDR-Dissidenten und Systemkritiker Andreas Wolf in Berlin interviewen durfte und sein Vertrauen soweit gewann, dass dieser ihm von seiner unrühmlichen Tat erzählte. Nachdem sich ihre Wege damals getrennt hatten, findet Andreas nun heraus, dass Puritys Mutter eine millionenschwere Erbin des Unternehmers McCaskill ist, aber nichts von dem Geld wissen will und auch ihrer Tochter nichts davon erzählt.
„Das Geld interessierte Andreas nur in dem Maße, als es ihm das Leben erleichtert hätte, etwas davon in die Hände zu bekommen. Aber es war nicht der Grund, warum er weiter durch die Fotos klickte, die er von Purity Tyler fand. Auch ihr Aussehen, obwohl ansprechend genug, erklärte nicht, warum er ein so mörderisches Verlangen nach ihr verspürte.“ (S. 737) 
Jonathan Franzen hat nach seinem Weltbestseller „Die Korrekturen“, der 2001 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, auch mit den nachfolgenden Schwergewichten „Die 27ste Stadt“, „Schweres Beben“ und „Freiheit“ vor allem vielschichtige Familienromane abgeliefert. Mit seinem neuen, wiederum mehr als 800 Seiten umfassenden Roman „Unschuld“ zelebriert der gefeierte amerikanische Romancier dagegen die Zersetzung von familiären Strukturen.
In gewohnt meisterhafter Manier portraitiert Franzen akribisch die schillernden Biografien seiner Figuren, führt über mehr als fünf Jahrzehnte die Fäden zwischen den Personen zusammen, springt zwischen den Zeiten ebenso hin und her wie zwischen Berlin, Bolivien, Texas, Kalifornien und New York, wobei viel von Reinheit – im amerikanischen Original heißt der Roman auch entsprechend wie seine sympathische Heldin „Purity“ – geschrieben wird, aber irgendwie jeder seine moralischen Unzulänglichkeiten mit sich herumschleppt.
Sex und Affären spielen dabei die offensichtlich wesentlichste Rolle, aber auch Spionage-Tätigkeiten, Verrat und Manipulation zählen zu den großen Themen, mit denen sich Franzens Figuren auseinandersetzen müssen. Der Autor nimmt sich viel Zeit für all die komplexen Charaktere, die früher oder später aufeinandertreffen, und beschreibt eindringlich, was das Leben in der DDR oder in den Zeiten der digitalen Revolution mit ihnen gemacht hat, wie die Beziehungen zu ihren Eltern und Geliebten sie geprägt und letztlich die gelegentlich verwerflichen Taten mitverantwortet haben. Trotz einiger Längen ist dieses Psychogramm des modernen gehetzten Menschen so spannend wie ein Thriller zu lesen, die Dialoge einfach filmreif gelungen. Zwar wirkt die harte Abrechnung mit dem DDR-Regime etwas überzogen und die Konstellation der Figuren zueinander etwas sehr konstruiert, aber Franzen erweist sich als brillanter Schöpfer glaubwürdig komplexer Charaktere, die jeweils ihren eigenen, schwierigen Weg finden, ihr Leben zu meistern.
 Leseprobe Jonathan Franzen - "Unschuld"

Marlon James – „Der Kult“

Samstag, 26. Mai 2018

(Heyne, 286 S., HC)
Hector Bligh ist seit 1951 Pastor der Heilig-Grab-und-Evangeliumskirche in dem kleinen jamaikanischen Dorf Gibbeah und wegen seines berüchtigten Alkoholkonsums vor allem als Rumprediger bekannt, und zwar nicht erst seit dem Vorfall mit der vom Teufel besessenen Lillamae Perkins, die ihrem Vater vor zwei Jahren in seinem Bett den Penis abgeschnitten hatte, das mit ihm gezeugte Kind durch den Verzehrt von grünen Papayas loswerden wollte und nicht mal von fünf Diakonen gebändigt werden konnte. Zwei Tage später wurde ihre Leiche im Two Virgin River gefunden.
Gerade als Pastor Bligh am Tiefpunkt seines Lebens zu sein scheint und mit entblößten Geschlechtsteilen bewusstlos am Straßenrand aufgefunden wird, trifft ein schwarz gekleideter Fremder auf seinem Motorrad in der Gemeinde ein. In der Sonntagsmorgenmesse fliegt ein John-Crow-Geier – der gemeinhin als Vorbote des Teufels betrachtet wird - durch das Buntglasfenster und landet tot auf der Kanzel. Wenige Minuten später konfrontiert der Fremde, der sich Apostel York nennt, Bligh mit dessen Sündhaftigkeit und übernimmt kurzerhand die Kontrolle über die Gemeinde und verspricht ihr den Beginn einer neuen Ära.
Tatsächlich sind Gibbeahs Bewohner ganz fasziniert von dem neuen Mann Gottes, der Wunder wirkt, aber auch Rache und Verdammnis predigt. Doch Pastor Bligh, der hinter dem Dorf und jenseits des Flusses bei der Witwe Greenfield Unterschlupf findet, lässt sich auf einen Glaubenskampf mit dem Apostel ein. Nach einem Monat kehrt Bligh in die Stadt zurück und macht die Menschen neugierig …
„Die Leute finden’s komisch, dass nach und nach immer mehr rausgegangen sind und dem Rumprediger zugehört haben. Er hat eigentlich nicht wirklich zu ihnen gepredigt. Er hat für die Straße und den Himmel und für Gott gepredigt. Jemand von denen, die gegangen sind, eine Frau, hat gesagt, wenn er mit ihr spricht, ist das, als würd er glatt durch sie hindurchsprechen. Die Leute sagen, dass der Apostel Hector Bligh nie und nimmer die Kirche überlässt, ganz gleich, wie weiß dessen Anzug zurzeit ist.“ (S. 119) 
Als erster Jamaikaner wurde der mittlerweile in Minneapolis, Minnesota, lebende Schriftsteller Marlon James 2015 für seinen epischen Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichnet, woraufhin Heyne Hardcore das Buch auf für den deutschen Markt veröffentlichte. Zuvor war sein 2005 erschienenes Debüt „John Crow’s Devil“ vom Verlag F. Stülten unter dem Titel „Tod und Teufel in Gibbeah“ als einziges von James‘ Werken auf Deutsch erhältlich gewesen und erfährt nach dem Erfolg des Romans über die geplanten Anschläge auf Bob Marley – unter dem neuen Titel „Der Kult“ - seine zweite Chance darauf, von der hiesigen literarischen Welt gewürdigt zu werden.
James entwirft in seinem ersten Roman das leider nach wie vor hochaktuelle Szenario des Kampfes von selbst ernannten Stellvertretern Gottes auf Erden, die den vermeintlich Ungläubigen die Worte der Bibel predigen, aber deren Bedeutung natürlich nach sehr persönlichen Vorlieben auslegen. Natürlich werden dabei die verschiedensten Dämonen und Hexen beschworen, Sünder werden verstümmelt und getötet, die Biografien der wichtigsten Protagonisten aufbereitet, worunter nicht nur der Pastor und der Apostel fallen, sondern auch die Witwe Greenfield und die Apostel-Gehilfin Lucinda, so dass deutlich wird, aus welchen Gründen die Menschen in Gibbeah der einen oder anderen Stimme Gottes folgen.
Der Autor bedient sich dabei ganz bewusst der furchteinflößenden Bilder und Geschichten aus der Bibel, spielt mit der Angst vor Dämonen, Hexen und schwarzer Magie, vor allem aber mit den ständigen Versuchungen des Fleisches, die Lucinda beispielsweise nur durch heftigste Selbstgeißelung zu bändigen hofft. „Der Kult“ ist ein wirklich packendes Buch, das mit alttestamentarischer Wucht die Verführungskünste des Teufels und die Vielfalt der göttlichen Strafen thematisiert, wobei Marlon James gerade die Fleischeslust in expliziten Bildern beschreibt.
Sein kraftvolles Debüt ist definitiv nichts für zarte Gemüter, macht so aber umso eindrucksvoller deutlich, wie leicht sich Menschen durch charismatische Führer mit verheerenden Folgen auf spirituelle Abwege begeben können. 
Leseprobe Marlon James - "Der Kult"

Stephen King – „Christine“

Samstag, 19. Mai 2018

(Bastei Lübbe/Heyne/Weltbild, 703 S., HC)
Arnie Cunningham und Dennis Guilder wuchsen im gleichen Wohnblock in Libertyville auf und sind seit der Grundschule miteinander befreundet. Während Dennis als Kapitän der Football- und Baseballmannschaft und Ass der Schulschwimmstaffel auch auf der Highschool immer eine gute Figur machte, musste er seinen pickelgesichtigen, zu kurz geratenen und schmächtigen Freund davor bewahren, als geborener Verlierer ständig verprügelt zu werden. Nur als Mechaniker hatte Arnie wirklich Talent, doch konnten seine Eltern, die beide an der Universität in Horlicks lehrten, sich nicht vorstellen, ihren einzigen Sohn in einer Autowerkstatt arbeiten zu lassen. Die Freundschaft zwischen Arnie und Dennis wird im Jahr 1978 allerdings einer harten Bewährungsprobe unterzogen, als sich der 17-jährige Arnie in einen 1958er Plymouth Fury verliebt, der zwar in einem erbärmlichen Zustand ist, den er aber mit Begeisterung für 250 Dollar dem pensionierten Berufssoldaten Roland D. LeBay abkauft, den Namen „Christine“ vom Vorbesitzer übernimmt und ihn in dem Garagen- und Werkstattbetrieb von Will Darnell zu restaurieren beginnt.
Dennis bekommt seinen Freund kaum noch zu sehen. Die Fortschritte, die Christines Restaurierung macht, sind allerdings bemerkenswert, und mit ihr macht auch Arnie eine erstaunliche Veränderung durch. Aus dem ehemaligen Verlierer wird ein überraschend gutaussehender junger Mann mit glattem Teint und kräftiger Statur, der sogar den Highschoolschwarm Leigh Cabot als Freundin gewinnt. Arnie zieht nicht nur den Neid und Zorn der Gang von Buddy Repperton auf sich, die eines Nachts Christine auf dem Parkplatz am Flughafen schrottreif demolieren, sondern auch die Sorgen seiner Eltern, Leigh und Dennis.
Als nach und nach Buddy Repperton und seine Jungs brutal auf der Straße ermordet werden, geraten Arnie und seine Christine zwar in den Fokus der Ermittlungen von Detective Rudolph Junkins, doch Arnie kann für jede Tat ein stichfestes Alibi aufweisen, und an Christine in nicht der kleinste verdächtige Kratzer zu entdecken. Die unheimlichen Vorfälle, an denen der Plymouth Fury beteiligt zu sein schien, häufen sich allerdings, und nachdem Leigh beinahe an einem Stückchen Hamburger in dem Wagen erstickt wäre, machen sich Dennis und Leigh daran, das Geheimnis von Christine aufzudecken. Doch dafür begeben sich die beiden in höchste Gefahr.
„Es gibt keine Möglichkeit zu unterscheiden, was wirklich war und was meine Fantasie hinzugedichtet haben könnte; es gibt keine Trennungslinie zwischen objektiver Wahrheit und subjektiver Sicht, zwischen Realität und grausiger Halluzination. Aber es war nicht Trunkenheit; das kann ich Ihnen versichern. Sollte ich etwas angesäuselt sein, so verflüchtigte sich dieser Zustand sofort. Was folgte, war ein stocknüchterner Trip durch das Land der Verdammten.“ (S. 580) 
Als Stephen King „Christine“ 1983 veröffentlichte, war er schon längst ein gefeierter Bestseller-Autor, dessen Bücher „Carrie“, „Shining“, „Brennen muss Salem“, „Dead Zone“ und eine Sammlung von Kurzgeschichten unter dem Titel „Die unheimlich verrückte Geisterstunde“ bereits von renommierten Regisseuren wie Stanley Kubrick, Brian De Palma, David Cronenberg und George A. Romero verfilmt worden waren. So nahm sich John Carpenter noch vor Veröffentlichung von „Christine“ der Geschichte an, stellte seine Verfilmung ebenfalls 1983 fertig und verhalf so dem Roman zu zusätzlicher Popularität. Das 700-Seiten-Werk hat es auch wieder in sich.
Wie schon in früheren Werken lässt King auch hier das übernatürliche Grauen in Form ganz gewöhnlicher Menschen und Dinge in einer an sich unauffälligen Kleinstadt auftreten. Dabei lässt er den größten Teil des Romans aus der Perspektive von Arnies bestem Freund Dennis erzählen, der seine Erinnerungen aus einer zeitlichen Distanz von fünf Jahren dokumentiert. King nimmt sich viel Zeit, die Atmosphäre der ausgehenden 1970er Jahre und das feste Band der Freundschaft zwischen Arnie und Dennis zu schildern, vor allem aber die Veränderungen, die sowohl Christine als auch ihr Fahrzeughalter Arnie durchmachen. Zwar weist der Roman durchaus Längen auf, aber wie der „King of Horror“ ganz langsam die Spannungsschraube anzieht und den Fokus auf die Verbindung zwischen LeBay, Arnie, Dennis und Leigh legt, ist einmal mehr einfach nur meisterhaft. 
Leseprobe Stephen King - "Christine"

John Grisham – „Die Akte“

Samstag, 12. Mai 2018

(Heyne, 478 S., Tb.)
Als Abe Rosenberg und Glenn Jensen, zwei Richter am Obersten Gerichtshof, innerhalb kürzester Zeit ermordet aufgefunden werden, tappen sowohl FBI als auch CIA im Dunkeln, denn zwischen dem erzkonservativen einundneunzigjährigen Rosenberg und dem wankelmütigen Homosexuellen Jensen scheint es keine Verbindung zu geben. Einzig die aufgeweckte und ebenso attraktive Jurastudentin Darby Shaw, die seit einem Jahr mit ihrem Professor für Verfassungsrecht, Thomas Callahan, liiert ist, hat eine eigene Theorie zu den Morden, die offensichtlich von einem Profikiller ausgeführt worden sind, und fasst sie in einem Dossier zusammen, das über Callahan zu seinem Freund Gavin Verheek, beratener Anwalt des FBI-Direktors Voyles, gelangt und von dort seine Kreise bis zum Präsidenten zieht.
In den obersten Regierungskreisen sorgt das Dossier für einiges Aufsehen, denn darin wird der skrupellose Öl-Milliardär Victor Mattiece, der mit einigen Millionen den Wahlkampf des Präsidenten unterstützt hat, für die Morde verantwortlich gemacht. In der „Pelikan-Akte“ führt Darby aus, wie Mattiece über verschiedene Unterfirmen systematisch Land im Süden von Louisiana aufkauft, die von Umweltschützern als bedroht eingestufte Fauna und Flora zerstört, um die riesigen dort verborgenen Ölvorräte fördern zu können. Als ihr trinkfreudiger Freund Callahan durch eine Autobombe getötet wird, ist auch Darbys Leben in Gefahr. Sie sucht den Kontakt zum „Washington Post“-Journalisten Gray Grantham und versucht mit ihm zusammen, Beweise und Zeugen für ihre Theorie zu finden.
„Sie wusste mehr als irgend jemand sonst. Die Fibbies waren nahe daran gewesen, dann hatten sie sich zurückgezogen und jagten jetzt hinter Werweißwem her. Verheek hatte nichts erreicht, dabei stand er dem Direktor nahe. Sie würde das Puzzle selbst zusammensetzen müssen. Ihr kleines Dossier hatte Thomas das Leben gekostet, und jetzt waren sie hinter ihr her.“ (S. 215) 
Ein Jahr nach dem Welterfolg von „Die Firma“ legte der ehemalige Anwalt John Grisham 1992 mit „Die Akte“ einen weiteren Bestseller nach, der ebenso erfolgreich von Alan J. Pakula mit Julia Roberts und Denzel Washington in den Hauptrollen verfilmt worden ist.
Nachdem Grisham in „Die Firma“ die Verstrickungen einer renommierten Kanzlei in die Geschäfte der Mafia thematisierte, zieht sich der Spannungsfaden in „Die Akte“ bis in die höchsten Regierungskreise, bindet CIA, FBI und die Presse mit ein, beschreibt aber vor allem die verzweifelte Flucht der Jurastudentin Darby Shaw, die niemandem mehr trauen kann. Dabei kommt der Inhalt des kompromittierenden Dossiers und die Verstrickung des Öl-Milliardärs erst in der zweiten Romanhälfte zur Sprache. Bis dahin wird vielleicht etwas zu ausführlich um die Machtspiele im Weißen Haus, die komplizierten Beziehungen zwischen dem Weißen Haus, FBI-Direktor Voyles und CIA-Direktor Gminski sowie die Optionen zur Nachbesetzung der beiden ermordeten Richter geschrieben, worunter zwar die Dramaturgie leidet, aber immerhin ein Gespür dafür anregt, wie es hinter den Kulissen im Oval Office zugehen mag.
Für Spannung sorgt natürlich der Überlebenskampf der cleveren Jurastudentin Darby Shaw, bei dem sie scheinbar nur zum Journalisten Gray Grantham Vertrauen fassen kann. John Grisham versucht in „Die Akte“ etliche Handlungsstränge und -orte, Verbindungen und Personen ins Spiel zu bringen, was gelegentlich zu unnötig komplexen Zusammenhängen und rasant wechselnden Schauplätzen mit neuen Figuren führt. Doch davon abgesehen bietet „Die Akte“ raffiniert konstruierte Thriller-Spannung mit einer sympathischen Heldin und vor allem einem faszinierenden Fall.

Stephen King – „The Green Mile“

Sonntag, 6. Mai 2018

(Bastei Lübbe/Heyne/Bertelsmann, 479 S., HC)
Der schwarze Hüne John Coffey wird im Jahre 1932 wird eines Tages mit den blutüberströmten Leichen der beiden minderjährigen Detterick-Zwillingen in den Armen von seinen Verfolgern aufgefunden und nach kurzer Verhandlung zum Tode verurteilt. Als er in Block E, den Todestrakt des Gefängnisses in Cold Mountain eintrifft, wo Oberwärter Paul Edgecombe den Trupp von meist vier oder fünf Wärtern anführt, muss er sich ebenso wie die anderen Kandidaten darauf gefasst machen, irgendwann die nach dem grünen Linoleumfußboden benannte Green Mile entlangzuschreiten, auf Old Sparky Platz zu nehmen und dann wie ein Truthahn geröstet zu werden.
Doch während der einfältig wirkende Coffey – wie das Getränk, nur anders geschrieben – ganz harmlos zu sein scheint, müssen sich Edgecombe und seine Kollegen Dean Stanton, Harry Terwilliger, Brutus „Brutal“ Howell vor allem mit dem böswilligen, mit dem Gouverneur verwandten Wärter Percy Wetmore und dem ebenso bösartigen Gefangenen William „Billy the Kid“ Wharton herumschlagen, der keine Gelegenheit auslässt, die Wärter zu schikanieren. Für launige Abwechslung sorgt immerhin Dr. Jingles, die kleine Maus des französischen Mörders Eduard Delacroix, der ganz aus dem Häuschen ist wegen der Kunststücke, die er dem niedlichen Nagetier beigebracht zu haben glaubt. Doch dann geraten die Dinge außer Kontrolle: Erst versaut Percy Wetmore die Hinrichtung des Franzosen, dann zerquetscht er auch noch die gewiefte Maus unter seinen Schuhen. Doch wie schon zuvor, als Coffey die hartnäckige und schmerzhafte Blasenentzündung von Paul Edgecombe in sich aufgesogen hatte und dann wie schwarze Insekten ausspie, heilt er nun auch Mr. Jingles auf unerklärliche Weise.
Edgecombe ist von den mysteriösen Kräften des schwarzen Riesenbabys so fasziniert, dass er hofft, auch Melinda, die todkranke Frau von Gefängnisdirektor Hal Moores, heilen zu können. Doch dazu muss er seine Kollegen zu einem riskanten Unterfangen überreden …
„Ich kannte Melinda besser, als sie sie kannten, aber letzten Endes vielleicht nicht gut genug, um die Jungs zu bitten, ihre Jobs für sie aufs Spiel zu setzen. Ich hatte zwei erwachsene Kinder, und ich wollte natürlich nicht, dass meine Frau ihnen schreiben musste, dass ihrem Vater der Prozess gemacht und er verurteilt wurde als … nun, was würde es sein? Ich wusste es nicht mit Sicherheit. Anstiftung und Beihilfe zu einem Fluchtversuch war das Wahrscheinlichste.“ (S. 297) 
Stephen King war fasziniert von der Idee, sich ähnlich wie einst Charles Dickens an einem Fortsetzungsroman zu versuchen, der 1996 in einem Abstand von jeweils einem Monat zunächst in sechs Einzelbänden erschien und 1999 schließlich als Roman in einem Band veröffentlicht wurde. Die Geschichte von „The Green Mile“ wird aus der Perspektive des Oberwärters Paul Edgecombe erzählt, der seine Erinnerungen in einem Altenheim zusammenträgt und dabei ebenso von einem widerwärtigen Pfleger drangsaliert wird wie er und seine Kollegen damals von Percy Wetmore. Stephen King hat mit „The Green Mile“ sicher eines seiner eindringlichsten Werke verfasst, das 1999 auf kongeniale Weise von Frank Darabont verfilmt wurde, nachdem dieser bereits fünf Jahre zuvor Stephen Kings Kurzgeschichte „The Shawshank Redemption“ ebenfalls meisterhaft für die große Leinwand adaptiert hatte. Auf unnachahmlich lebendige Weise beschreiben King bzw. sein Ich-Erzähler die Umstände von John Coffeys Verhaftung und den Lebensumständen im Todestrakt des Gefängnisses von Cold Mountain, wobei sich humorvolle Momente immer wieder in die Schreckensszenarien der Hinrichtungen einfügen. Einfühlsam ist vor allem die Beziehung zwischen Edgecombe und Coffey beschrieben, nervenaufreibend die Durchführung der Exekutionen und aufwühlend die Bemühungen der Wärter, das Leben der unauffälligen Gefangenen so angenehm wie möglich zu gestalten. Geschickt hält King die Spannung über die sechs Einzelbände aufrecht, wartet mit einem feinen Cliffhanger auf, der bei der Lektüre des vollständigen Romans natürlich nicht mehr ganz seinen ursprünglichen Zweck erfüllt, aber so immer wieder dramaturgische Höhepunkte setzt.
Leseprobe Stephen King - "The Green Mile"