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Andrea De Carlo – „Techniken der Verführung“

Dienstag, 19. September 2023

(Diogenes, 424 S., HC) 
Ähnlich wie sein französischer Kollege Philippe Djian weiß auch der aus Mailand stammende Andrea De Carlo, die Schwierigkeiten des künstlerischen Schaffensprozesses zu beschreiben und diesen geschickt mit den Wirren des Künstlerlebens zu verknüpfen. Ein besonders prominentes Beispiel stellt De Carlos - im Original 1991 veröffentlichter - Roman „Techniken der Verführung“ dar. 
Der Mailänder Journalist Roberto Bata hat es satt, als Redakteur mit einem Praktikantenvertrag bei Prospettiva zu arbeiten und sich vom Chefredakteur Tevigati auf übelste Weise herumkommandieren zu lassen. Entsprechend widerwillig nimmt er den Auftrag an, zu einem Theaterstück nach einem Text von Marco Polidori, „Der Traumaktivator – Konzertantes Schauspiel in zwei Akten“, zu besuchen, um die Schauspielerin Maria Blini zu interviewen. Dass er dafür das geplante Abendessen mit seiner Freundin Caterina absagen muss, ist der ohnehin angeschlagenen Beziehung nicht gerade förderlich. Viel lieber würde sich Roberto um die Fertigstellung seines ersten Romans kümmern, doch da er Caterina, die ihren Vertretungsdienst als Augenärztin absolvierte, finanziell unterstützen muss, ist er weiterhin gezwungen, öde Interviews zu führen. 
Doch dann ist er von der Schauspielerin, die er für dreißig Zeilen interviewen soll, ganz hingerissen und begleitet sie zu einem Empfang, wo er nicht nur die Gelegenheit für das geplante Interview findet, sondern auch den berühmten Schriftsteller Marco Polidori kennenlernt. Roberto lässt Polidori sein Manuskript zukommen; der zeigt sich offen begeistert davon und öffnet dem angehenden Schriftsteller einige Türen: Polidori drängt Marco dazu, sich ganz auf seinen Roman zu konzentrieren, und verschafft ihm einen Job bei dem Magazin 360° in Rom, das vom Ministerium für Fremdenverkehr und Veranstaltungswesen finanziert wird. Hier hat Marco genügend Raum und Zeit, um sich ganz auf die Fertigstellung seines Romans zu konzentrieren, doch dann begegnet er zufällig Maria wieder und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit ihr, die allerdings komplizierter verläuft als erhofft. Und schließlich gibt es für Marco noch die Beziehung zu Caterina zu klären… 
„Mir war, als hätte ich jahrelang vor einem verschlossenen Garten voller unterschiedlicher Farben und Empfindungen und Möglichkeiten gestanden, bis Polidori mir, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, das Tor geöffnet hatte. Ich wollte nur möglichst schnell dorthin zurückkehren: in die reiche, noch unbekannte Vegetation eindringen, der duftenden Spur Maria Blinis folgen.“ (S. 159) 
Andrea De Carlo nutzt die interessante Ausgangssituation, dass ein junger, talentierter Autor von einer bereits fest im Literaturbetrieb verankerten Kulturinstitution protegiert wird, vor allem dazu, die vorhersehbaren Abhängigkeiten nicht nur im kulturellen Leben in Italien zu sezieren, sondern auch die Korruption in der Politik und die Verlogenheiten in persönlichen Beziehungen. 
Polidoris Monologe sind wunderbar ätzend wie präzise, wenn sie die Gesetze der Literaturszene demaskieren, die unverfrorene Gier der Politiker offenbaren. 
Dass der rasante Aufstieg von Roberto nicht ohne Folgen bleibt, enthüllt De Carlo auf ebenso genüssliche, aber leider auch sehr vorhersehbare Weise. Doch von dem plakativen Finale abgesehen, erweist sich der Autor als versierter Erzähler mit sprachgewaltigen Beschreibungen der offenbar erbärmlichen Zustände im italienischen Kulturbetrieb, teilt er doch durch Polidori immer wieder bissige Kommentare dazu aus. Die Liebe und das Geflecht unterschiedlichster Beziehungen kommen auch nicht zu kurz.  
„Techniken der Verführung“ erweist sich als kurzweiliger Ausflug in die letztlich verlogene, abgekartete, von Eigennutz und Abhängigkeit geprägte Welt von Politikern und Kulturschaffenden, unter der letztlich auch die persönlichen Beziehungen zu leiden haben. 

 

Andrea De Carlo – „Das Traumtheater“

Montag, 26. Juni 2023

(Diogenes, 464 S., HC) 
In den 1980er und 1990er Jahren avancierte Andrea De Carlo mit (zumindest in seiner italienischen Heimat) preisgekrönten Romanen wie seinem Debüt „Creamtrain“ und den Folgewerken „Vögel in Käfigen und Volieren“, „Macno“, „Yucatan“ und „Zwei von zwei“ zum absoluten Kultautor. An diese Erfolge kann der aus Mailand stammende ehemalige Fotograf, Rockmusiker und Regieassistent von Federico Fellini zwar längst nicht mehr anknüpfen, doch für kurzweilige Unterhaltungsliteratur ist De Carlo noch immer gut, wie sein neuer Roman „Das Traumtheater“ zeigt. 
Veronica Del Muciaro ist nicht nur eine populäre Journalistin, die mit ihren Live-Reportagen für die Sendung „Tutto qui!“ für hohe Einschaltquoten sorgt, sondern präsentiert ihren Followern in den sozialen Medien mit unzähligen Selfies auch nahezu jeden Aspekt ihres Alltags. Dieser Tick wird ihr allerdings fast zum Verhängnis, als sie im ältesten Café von Suverso beim Fotografieren fast an einer Brioche erstickt. Während die meisten Gäste den Überlebenskampf der Fernsehfrau eher neugierig als besorgt verfolgen, packt ein Unbekannter beherzt zu und lässt das festgesetzte Stück Brioche im hohen Bogen aus ihrem Mund fliegen. 
Die Reporterin fällt zunächst in das verhasste Stottern aus ihrer Kindheit zurück, sammelt sich aber schnell und beginnt, das Gespräch mit ihrem Retter zu filmen. Offensichtlich ist der Mann namens Guiscardo Guidarini ein Archäologe, der seine jüngste Entdeckung in der hiesigen Provinz gemacht haben will. Diese Nachricht verbreitet sich in Windeseile über die Grenzen der Kleinstadt Cosmarate hinaus und entfacht einen mit allen Bandagen ausgetragenen Machtkampf zwischen Massimo Bozzolao, dem der Wende® angehörende Bürgermeister von Cosmarate, Annalisa Sarmani, der zuständigen Stadträtin für Kultur und Tourismus der Gemeinde Suverso, und den übergeordneten Parteivorsitzenden, die das von Guidarini freigelegte antike Theater für ihre Zwecke ausschlachten wollen. 
Aber auch Veronica Del Muciaro hat alle Hände voll zu tun, den Schwung, den sie durch die Erstberichterstattung mitgenommen hat, für die weitere Story-Entwicklung auszubauen. Je mehr Personen des öffentlichen Lebens auf der Bildfläche in Cosmarate auftreten, desto größer wird das Spektakel und die Hemmungslosigkeit, mit der sich die einzelnen Parteien bekämpfen. 
„… wie sollte sie bloß mit diesem merkwürdigen Marchese und Archäologen umgehen? Sollte sie sich mit ihm verbünden oder ihn lieber entmachten? Aber der machte nun wahrlich nicht den Eindruck, als ließe er sich das ohne Weiteres gefallen, und die Tatsache, dass er das Theater aus eigener Kraft in nur drei Jahren ausgegraben hatte, sagte ja wohl alles über seine Entschlossenheit. Aber wieso hatte er alles geheim gehalten, was waren wohl seine wahren Gründe? Extreme Ungeduld? Mangelndes Vertrauen in die zuständigen Behörden? Oder vielleicht beides und wer weiß was noch?“ (S. 147) 
In seinem neuen Roman kommt kaum einer ungeschoren davon. Vor dem Hintergrund einer vermeintlich sagenhaften historischen Entdeckung nutzt De Carlo die Profilierungssucht der Protagonisten gnadenlos aus, um die für Italien berühmt-berüchtigte Trägheit, Oberflächlichkeit und Korruption der Lächerlichkeit preiszugeben. Das fängt mit der geschwätzigen, sensationssüchtigen, geltungssüchtigen, aber auch unerschrockenen Reporterin Veronica Del Muciaro und ihrer zuständigen Studio-Chefin in Rom an und setzt sich in einem munteren Reigen fort, bei dem sich immer prominentere Politiker in den Vordergrund drängen, um das Theater als Aushängeschild für ihre öffentlichkeitswirksame Agenda zu vereinnahmen. Allein der Marchese bleibt bei dem wilden Treiben recht ruhig, sorgt durch seine auch körperliche Nähe zu Suversos Stadträtin Sarmani für eine leicht romantische Note in dem Plot. Die beiden stellen letztlich auch die einzigen Sympathieträger in „Das Traumtheater“ dar, wohingegen beim eskalierenden politischen Gemetzel zum Finale hin De Carlo genüsslich die Schwächen in der politischen und medialen Landschaft in Italien freilegt. Die interessante Ausgangslage, die lebendige Sprache und die zwar an sich klischeehaft wirkenden, letztlich durchaus vielschichtig angelegten Figuren machen „Das Traumtheater“ zu einem durchweg humorvollen Lesevergnügen.  

Andrea De Carlo – „Als Durante kam“

Donnerstag, 18. Mai 2023

(Diogenes, 468 S., HC) 
Mit Romanen wie „Creamtrain“, „Vögel in Käfigen und Volieren“ und „Zwei von zwei“ avancierte der aus Mailand stammende Fotograf, Maler, Filmemacher, Rockmusiker und Schriftsteller in den 1980er Jahren zum internationalen Bestseller-Autor, der hierzulande mit dem Diogenes Verlag seine literarische Heimat gefunden hat. 2010 erschien mit „Als Durante kam“ De Carlos bereits 15. Roman, der fraglos zu den besten Werken des Schriftstellers zählt. 
Pietro und seine österreichische Freundin Astrid haben dem städtischen Treiben den Rücken gekehrt und sich im Val del Poggio, dem östlichen Teil des Apennins, niedergelassen, das von rauem Klima und Menschen geprägt wird, die meist über einen zurückhaltenden und ernsten Charakter verfügen. Hier weben sie Stoffe aus Wolle, Baumwolle und Seide von eigener Hand und verkaufen sie an kleine Geschäfte und Privatkunden. Eines Tages hält ein Mann mit Cowboyhut aus Stroh bei ihnen und fragt nach einem Reitstall im benachbarten Tal. Während Astrid von Durante sogleich fasziniert ist und ihm bereitwillig die Webstühle im Haus zeigt, keimt in Pietro bereits die Eifersucht. Durante heuert bei Ugo und Tiziana Morlacchi als Reitlehrer an, bietet an, die baufälligen Boxen und Paddocks instand zu setzen, und verzückt vor allem die Frauen in der Gegend. Als Durante mit seiner unverblümt offenen, manchmal naiv wirkenden Art auch noch den britischen Historiker Tom Fennymore nach einem Autounfall wie durch ein Wunder aus dem Koma holt, macht sich Durante aber nicht nur Freunde. Besonders Pietro beobachtet ihn mit skeptischem Blick und ist entsetzt, dass Durante nicht nur Astrid in den Bann schlägt, sondern vor allem deren attraktive Schwester Ingrid, in die Pietro verliebt ist, seit er sie – leider erst nach Astrid – kennengelernt hat. Als sich Pietro und Astrid zunehmend entfremden, nimmt sich Astrid eine Auszeit, fährt zurück nach Graz. Durante bietet Pietro an, ihn nach Graz zu fahren, schiebt unterwegs aber unangekündigt immer wieder einen Halt bei einer seiner Teilzeit-Familien an, wo die verschiedenen Mütter seiner Kinder gar nicht so erfreut über den spontanen Besuch sind. Der Road Trip öffnet aber bei Pietro den Blick auf bislang unentdeckte Charaktereigenschaften und Lebensauffassungen… 
„Bald hörte ich auf, mich zu fragen, ob seine Geschichte ganz oder nur teilweise der Wahrheit entsprach, ich war zu fasziniert von seiner Art, etwas Normales überraschend und etwas Überraschendes ganz normal zu finden. Ich verstand einfach nicht, ob seine Haltung gesucht oder schlicht die Äußerung einer Lebenseinstellung war; auch hier änderte ich meine Meinung beinahe von Sekunde zu Sekunde.“ (S. 239) 
Andrea De Carlo entführt seine Leser mit „Als Durante kam“ in eine fiktive Gegend östlich des Apennins und damit in eine nicht nur klimatisch raue Welt. Die Menschen leben hier mehr für sich, die Nachbarn sind meist weiter entfernt, man trifft sich gelegentlich, ohne sich wirklich zu kennen. Mit Pietro hat De Carlo einen Ich-Erzähler etabliert, der stellvertretend für das Wesen der hier lebenden Menschen steht, die sich mehr oder weniger bewusst für ein Leben abseits der Metropolen und der dort herrschenden hektischen Betriebsamkeit entschieden haben. Doch Pietro und Astrid leben und arbeiten eher aus Gewohnheiten miteinander. Als der weltoffene, kommunikationsfreudige Durante auftaucht, hinterfragen nicht nur Pietro und Astrid ihre Beziehung, sondern werden mit einer ungewohnten Sicht auf die Welt konfrontiert, die sie ihre eigene zumindest stark hinterfragen lässt. 
De Carlo gelingt es auf gewohnt sprachlich virtuose Weise, unterschiedlichste Charaktere aufeinandertreffen zu lassen, wobei die lebendigen, mal witzigen, mal nachdenklich stimmenden Dialoge auch voller Lebensweisheiten stecken, die Pietro während der gemeinsamen Autofahrt über Genua nach Graz allmählich zu verstehen lernt. Wie die beiden anfangs so unterschiedlichen Männer zu Freunden werden, wie sie die Probleme des Alltags, aber auch die Fallstricke von Freundschaften und Liebschaften zu meistern lernen, beschreibt De Carlo auf so authentische, lebensnahe Weise, dass man meint, mit den Protagonisten im Wagen zu sitzen. Dabei ist „Als Durante kam“ so leichtfüßig, humorvoll und tiefsinnig geschrieben, dass man hofft, die Reise würde nie zu Ende gehen.


Andrea De Carlo – „Yucatan“

Samstag, 11. März 2023

(Diogenes, 260 S., HC) 
Mit seinen Anfang der 1980er veröffentlichten Romanen „Creamtrain“, „Vögel in Käfigen und Volieren“ und „Macno“ avancierte der 1952 in Mailand geborene Schriftsteller, Musiker und Gelegenheitsfilmemacher Andrea De Carlo zum Sprachrohr einer ganzen Generation und durch die Veröffentlichung im deutschsprachigen Raum durch Diogenes auch hierzulande zum Bestseller-Autor. Mit seinem vierten, im Original 1986 veröffentlichten Roman „Yucatan“ konnte De Carlo allerdings nicht an die Qualität seiner Frühwerke anknüpfen. 
Der jugoslawische Filmemacher Dru Resnik träumt seit Jahren davon, ein Buch des berühmten mexikanischen Schriftstellers Astor Camado zu verfilmen, um den sich etliche Legenden ranken, von dem niemand weiß, wer er wirklich ist, da es noch niemandem gelungen ist, ihn zu fotografieren oder zu interviewen. Es kursierten sogar Gerüchte, dass Camado durch übermäßigen Konsum von Peyotl und Mescalin in den Wahnsinn getrieben worden sei und wie ein Zombie irgendwo im kolumbianischen Urwald lebe. 
Durch den neureichen amerikanischen Produzenten Jack Nesbitt bekommt Resnik nun die Möglichkeit, nicht nur an die Filmrechte für die Bücher seines verehrten Schriftstellers zu erwerben, sondern auch in Mexiko die Orte zu besuchen, an denen seine Bücher spielen. Zusammen mit seinem Assistenten Dave Hollis macht sich Resnik auf den Weg nach Los Angeles, wo sie sich mit dem Schriftsteller und seinen beiden Begleiterinnen Kate und Mirabel treffen. Doch schon die Weiterreise entwickelt sich zu einem Abenteuer. Statt gemeinsam ein Flugzeug zu nehmen, beharrt Camado darauf, getrennt in zwei Autos zu fahren. 
Dann sorgen verstörende anonyme Telefonanrufe und in Hotelzimmer geschmuggelte Nachrichten für ein wachsendes Unbehagen unter der Reisegruppe, der sich schließlich noch ein „spiritual girl“ und ein „physical girl“ anschließen, doch nützlichen Erkenntnissen für den geplanten Film kommen Dru, Nesbitt und Dave nicht wirklich näher… 
„Und es ist völlig unklar, welchem Zweck das Ganze dienen soll, wenn es überhaupt einen hat, es ist völlig unklar, ob wir hier an einer Schnitzeljagd teilnehmen oder an einer spiritistischen Exkursion, oder ob es vielmehr eine Geschäftsreise ist, die mich dazu bewegen soll, bei meiner Arbeit andere Ingredienzien zu verwenden, als ich es bisher gewohnt war. Ich habe mich niemals dazu berufen gefühlt, Botschaften von anderen zu übersetzen und zu verbreiten, kann mir nicht vorstellen, dass ich der ideale Regisseur bin, um einen missionarischen Film zu machen… (S. 192f.) 
Aus der Perspektive des Assistenten, den De Carlo als Ich-Erzähler einsetzt, schildert „Yucatan“ die eigentlich interessante Geschichte eines außergewöhnlichen Filmprojekts. Schließlich kommen ein geheimnisumwitterter, an Carlos Castaneda erinnernder Erfolgsautor, ein ambitionierter Produzent und ein europäischer Filmemacher zusammen, der bei den Cineasten hoch angesehen wird. 
Doch aus der vielversprechenden Idee entwickelt De Carlo tatsächlich nur eine Schnitzeljagd, wie der Filmemacher (dessen Eindrücke immer wieder in kurzen Kapiteln ebenfalls in der Ich-Form eingefügt werden) die Reise von Europa über Los Angeles nach Mexiko und zurück nach Los Angeles empfindet, einzig angetrieben von den mysteriösen Nachrichten, die von einer höheren Macht namens Tu zu kommen scheinen, auf jeden Fall aber ein höheres Verständnis der Gesamtsituation erkennen lassen, so dass Dru, Nesbitt und Dave mit ihrem wechselnden weiblichen Anhang den Hinweisen und Anweisungen auch Folge leisten, was zu den mitunter komischen Szenen führt, dass die Beteiligten Jacken in bestimmten Farben besorgen müssen. 
„Yucatan“ ist allerdings weder witzig noch interessant. De Carlo gelingt es nicht, seinen Figuren ein überzeugendes Profil zu verleihen. Der Roman soll angeblich von der Konfrontation amerikanischer „Technologie-Euphorie“ mit der mythologisch geprägten Welt Mittelamerikas handeln, doch bleibt dieser Anspruch zu abstrakt, um eine fesselnde Geschichte mit interessanten Figuren zu ergeben, die durch die Begegnung mit dem Übernatürlichen nicht mal eine Entwicklung durchmachen. Selbst die punktuell eingestreuten amourösen Abenteuer, die De Carlo eigentlich sinnlich zu inszenieren versteht, verkommen hier zu uninspirierten Begegnungen, die dann auch den gelangweilten Leser erfassen. 
„Yucatan“ plätschert nach einer vielversprechenden Exposition nur noch in gleichmäßig behäbigem Tempo ziellos und ohne Auflösung dahin, so als hätte De Carlo nach wenigen Seiten selbst das Interesse an dem Buch verloren.  

Andrea De Carlo – „Margherita und der Mond“

Mittwoch, 28. April 2021

(Diogenes, 288 S., Pb.) 
Eigentlich wollte Margherita Malventi auf jeden Fall einen anderen Beruf als ihr faschistischer, von Gegensätzen wie Naivität und autoritärem Gehabe, aggressivem Auftreten und konventioneller Höflichkeit, Größenwahn und Depressionen geprägter Vater Achille ergreifen, doch letztlich ist sie genau in die Fußstapfen ihres etwas klein geratenen Vaters getreten, der einst als Sternekoch ein berühmtes Restaurant unter seinem Namen in Venedig geführt hatte, sich aber auf die falschen Leute einließ und sein Restaurant verlor. Die mittlerweile vierzigjährige Margherita führt ebenfalls ein kleines Restaurant in Venedig, hat sich aber entschlossen, auf ganz andere Weise zu kochen als ihr tyrannischer alter Herr. 
Mit ihrem Restaurant kommt sie gerade so über die Runden, der Beruf macht ihr Spaß. Allein die egozentrische Art der Männer in ihrem Leben bereiten Margherita Sorgen. Neben ihrem Vater, der sich so gar nicht für sie interessiert, lebt sie zwar mit ihrem Mann Luca in einer Wohnung, doch eben nebenher als mit ihm zusammen. Als ihr Vater zu einer Fernseh-Kochshow nach Mailand eingeladen wird, lässt sie sich darauf ein, ihn zu begleiten – einerseits als Abwechslung zu ihrem in Routinen erstarrten Alltag, anderseits hofft sie, durch den Trip ihrem Vater etwas näherzukommen. 
Doch die Hoffnungen werden schnell enttäuscht. Während ihr Vater über die aufgeblasenen Schaumschläger in den Fernsehkochshows herzieht und das für die Show verabredete Gericht beharrlich nach seinen speziellen Zutaten zubereiten will, entflieht Margherita der tristen Studioatmosphäre und rekapituliert einmal mehr in melancholischer Stimmung ihr bisheriges Leben. Das Theater, das ihr Vater schon während der Aufzeichnung der Kochshow abzog, setzt sich schließlich im Hotelrestaurant fort, als Margheritas Vater den Chefkoch wegen des völlig verhunzten Risottos zur Rechenschaft ziehen will. Dabei macht Margherita die Bekanntschaft des Franzosen Jules, der in ihr eine besondere Saite zum Klingen bringt und sie in wenigen Momenten schon besser zu kennen scheint als Luca oder ihr Vater es je könnten … 
„Was mich am meisten beunruhigte, war nicht etwa all das, was er über mich erraten hatte, sondern vielmehr das beunruhigende Gefühl, dass er wirklich wusste, wer ich war: dass er um mein Verhältnis zum Mond, zu meiner Arbeit und zu meinem Vater wusste. So schien es mir jedenfalls. Vielleicht war ich ja so sehr daran gewöhnt, dass Luca und meinem Vater jegliches Interesse an mir abging, dass ich den erstbesten Mann, bei dem das anders war, gleich außergewöhnlich fand …“ (S. 150) 
Drei Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung ist Andrea De Carlos Roman „Una di luna“ auch hierzulande in deutscher Übersetzung erhältlich. „Margherita und der Mond“ erzählt die Geschichte einer Frau, die stets im Schatten ihres einst berühmten Vaters stand und letztlich doch so von ihm geprägt wurde, dass sie nach wie vor in der Nähe ihrer Eltern lebt und ebenfalls Karriere als Köchin gemacht hat.  
Andrea De Carlo hat schon immer ein feines Gespür für die Psychologie seiner Figuren gehabt. In dieser Hinsicht stellt sein neuer Roman keine Ausnahme dar. Dass sich ein Großteil der Geschichte um das Kochen dreht, erlaubt dem wortgewandten Autor, mit unzähligen sinnlichen Ein- und Ausdrücken zu spielen, und zwar so eindringlich, dass man als Leser die beschriebenen Zutaten selbst auf der Zunge zu schmecken vermag. Während die Geschichte selbst eher unspektakulär und ohne große Überraschungen auf ein viel zu vorhersehbares Ende dahintreibt, entfaltet De Carlo das Innenleben seiner sympathischen Protagonistin in allen Facetten, macht dabei deutlich, wie Margherita sich zwischen den Männern in ihrem Leben zu behaupten versucht, ohne jedoch einen Hauch von Beachtung zu ernten. 
Während die Beziehungen zu ihrem Vater und zu Luca jedoch fein aufgedröselt werden, bleibt die von Zufällen und „Zaubern“ geprägte Bekanntschaft mit Jules eher an der Oberfläche, wirkt wie ein Versprechen auf eine bessere Zukunft. Stilistisch bleibt De Carlo auch mit seinem neuen Roman eine Klasse für sich, als Geschichtenerzähler hat er jedoch schon packender unterhalten.  

Andrea De Carlo – „Villa Metaphora“

Mittwoch, 16. September 2020

(Diogenes, 1088 S., HC)
Der prominente Architekt Gianluca Perusato ist endlich am Ziel seiner Träume: Sieben Jahre nach Baubeginn steht sein erstes eigenes Projekt vor der Einweihung durch einige höchst illustre Gäste. Wie oft stand er schon davor, alles hinzuschmeißen, zumal die Baukosten zwischenzeitlich schon auf das Doppelte angewachsen waren. Doch nun blickt er stolz von der Hauptterrasse seines Luxusresorts Villa Metaphora auf das die südlich von Sizilien zwischen Malta und Tunesien liegende Insel Tari umgebende Mittelmeer. Hier hofft er für die internationale Prominenz, die für eine Übernachtung pauschal 5000 Euro hinblättern darf, ein abgeschiedenes, diskretes Refugium geschaffen zu haben, das das grandiose Naturschauspiel der Vulkaninsel mit seinem kühnen Umbau der einst vom Gelehrten, Linguisten, Kosmopoliten und Schriftsteller Baron von Canistraterra ab 1946 erbauten Villa zu einem einzigartigen Kunstwerk verschmilzt.
Zusammen mit seiner Assistentin und Geliebten Lucia erwartet die Ankunft der Gäste, darunter die alkoholsüchtige junge Hollywood-Diva Lynn Lou Shaw, die während der Dreharbeiten zu ihrem neuen Film in Rom einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte und nun mit ihrer Freundin und Assistentin Lara Laremi in der Villa Metaphora wieder zu Kräften kommen will. Während sein spanischer Koch Ramiro Juarez für das leibliche Wohl der Gäste zuständig ist, ist der Bootsmann Carmine Alcuanti für den Transport der illustren Gäste vom Festland zum Resort zuständig. Neben der Schauspielerin sind das die inkognito anreisende französische Hotelkritikerin Simone Poulanc, der mit Lynn Lou verheiratete, kontrollsüchtige amerikanische New-Age-Guru Brian Neckhart und der deutsche Bankier Werner Reitt mit seiner Frau Brigitte sowie seinem Assistenten Matthias. Die schillernde Runde wird durch den italienischen Abgeordneten Piero Gomi, der unbedingt einen Termin mit Reitt ergattern möchte.
Beginnend mit dem Unfalltod eines Fotografen, der Lynn Lou gar nicht so heimlich fotografierte, weil sie den fremden Beobachter entdeckt und sich im Swimming Pool für ihn in sehenswerte Posen geworfen hat, gehen innerhalb einer Woche alle Höflichkeitsformen flöten, werden Beziehungsdramen auf die Spitze getrieben, Sehnsüchte und Ängste geweckt, die zugleich das Beste und das Schlimmste in den hochfeinen Gesellschaftsschichten schonungslos offenbart. Als auch noch ein schwerreicher russischer Unternehmer hemmungslos seine Gelüste in der Villa zu befriedigen versucht und ein Erdbeben nicht nur die Strom- und Wasserversorgung kappt, sondern auch einen Vulkanausbruch ankündigt, liegen die Nerven bei allen Beteiligten mehr als blank …
„Erneut drängen sich Gedanken über unsere Abhängigkeit von technologischen Hilfsmitteln auf und darüber, wie diese künstlichen Erweiterungen unserer Gehirne, unserer Hände, ja sogar unserer Herzen wiederum vom Vorhandensein eines funktionierenden Stromnetzes abhängen. Fällt der Strom aus, ist es in kürzester Zeit – wir reden von Stunden, nicht von Tagen – vorbei mit Informationen, Speichern, Kontaktnetzen, Fernbeziehungen. Ender der täuschenden Geschwindigkeit, Ende der virtuellen Allgegenwart, Ende der permanenten Erreichbarkeit. Plötzlich gilt und zählt nur das, was man vor Augen hat, in der Hand hält, zu Fuß erreichen kann.“ (S. 913f.) 
Was ist nur aus dem Mailänder Bestseller-Autor geworden, der nach seinem Literaturstudium, seiner Karriere als Fotograf, Rockmusiker und Regieassistent von Federico Fellini mit „creamtrain“, „Zwei von zwei“ und „Techniken der Verführung“ in den 1980er und beginnenden 1990er Jahren zum Sprachrohr seiner Generation wurde? Andrea De Carlo hat sich nämlich mit seinem im italienischen Original 2012 veröffentlichten Roman „Villa Metaphora“ – der epische Umfang von knapp 1100 Seiten lässt es fast vermuten – leider mächtig verhoben. Bereits die Grundidee, eine Gruppe von Menschen auf eine Insel zu schicken, von der sie so schnell nicht runterkommen, wirkt schon ausgelutscht. Ärgerlich ist aber vor allem, dass sich De Carlo zwar viel Mühe gibt, seinem durchaus überschaubaren Figuren-Ensemble wortgewaltig Konturen und Persönlichkeit zu verleihen, bedient aber nur die üblichen Klischees von der verzogenen Hollywood-Diva, dem temperamentvoll-launischen und natürlich doch irgendwie korrupten italienischen Politiker, dem ichbezogenen, substanzlosen LifeSolving-Gurus und des deutschen Bankiers, der anderthalb Jahre eine Affäre mit der nicht mal volljährigen besten Freundin seiner Tochter unterhalten hat, was ihm nun zum Verhängnis zu werden droht.
Die dunklen Geheimnisse und persönlichen Abgründe, die nach und nach offenbart werden, wirken so überraschend also nicht und bringen den Plot auch nicht wirklich voran. Letztlich werden über Hunderte von Seiten vor allem die affektiert erscheinenden Befindlichkeiten der Haute Volee seziert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein munteres Zitatenspiel soll am Ende noch etwas tiefschürfenden Sinn und zumindest ein fundiertes Allgemeinwissen der Gäste vermitteln, doch was der Autor am Ende mit seinem misslungenen Versuch einer Satire zu sagen beabsichtigt, bleibt bis zum quälend geschwätzigen Finale unbeantwortet. Einen neuen Blick auf die Welt der Superreichen und Mächtigen gewährt uns De Carlo mit seinem überbetont zivilisationskritischen Roman jedenfalls nicht.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Villa Metaphora"

Andrea De Carlo – „Die ganz große Nummer“

Samstag, 20. Juni 2020

(Piper, 384 S., Pb.)
Der dreiundzwanzigjährige Alberto Scarzi treibt im Mailand der 70er Jahre meist ziellos zwischen Studium, musikalischen Übungen mit seiner japanischen Akustikgitarre und unentschlossenen Überlegungen, welcher der schönen Künste er sich widmen sollte, hin und her, als ihr eine Bekannte von der Uni den Kontakt zum Verleger Damiano Diamantini vermittelt. Der suche nämlich einen Autor bzw. Rockexperten für seine geplante Musikbuchreihe über die bedeutendsten italienischen cantautori. Beim Abendessen mit dem Verleger und seiner Mutter werden die Details geklärt. Jedes Buch sollte ein ausführliches Interview, eine wunderbare Fotostrecke sowie ein poetisches-literarisches Essay von Diamantini enthalten, das den eigentlichen Kern der jeweiligen Bücher bilden sollte. Das Drumherum würde nur den Köder für die Jungbanausen darstellen, um sie auf das Terrain der Literatur zu führen.
Nachdem sich ein erster gemeinsamer von Alberto und Damiano mit dem Liedermacher Flavio Sbozzari als Fiasko erweist, wagt sich Alberto an einen ganz großen Namen: Der berühmte Bernard Ohanian, der sich gerade in Mailand aufhält, um einen seiner ins Italienische übersetzten Romane vorzustellen. Mit seinem Freund Raimondo Vaiastri, der ebenso wie Alberto keine Ahnung hatte, was er mit seinem Leben anfangen soll, besucht er die Buchpräsentation, doch zu dem erhofften Interview kommt es natürlich nicht. Doch als Alberto die Idee entwirft, seinem Verleger ein erfundenes Interview mit Ohanian vorzulegen, ist auch Raimondo begeistert. Tatsächlich funktioniert der Plan, aus Raimondo Vaiastri einen berühmten Rock-Journalisten zu machen, der seinen Namen für das ausführliche Interview hergibt, das Alberto wiederum aus den Eindrücken, die er von der Buchpräsentation und aus bisher veröffentlichten Interviews zusammenbastelt.
Nachdem die Arbeit beendet ist, packt Alberto der Drang, nach Amerika zu gehen. Er verkauft seine 1959er BMW und fliegt mit seiner aktuellen Freundin Cristina nach Boston, wo die beiden zunächst bei Yoko Williams unterkommen, einer deprimierten Frau, die mit einem dreißig Jahre älteren armenischen Galeriebesitzer zusammengelebt hat, der sie aber wegen einer 18-jährigen Blondine verlassen habe. Währenddessen schluckt Damiano den Schwindel, blättert zwei Millionen Lire für das Buch hin, so dass Alberto und Raimondo schon den nächsten großen Coup aushecken. Während Raimondo immer mehr in der Rolle des berühmten Rockjournalisten aufgeht, macht sich Alberto in den Staaten auf die Reise zu dem nächsten Star, der in der Reihe von Diamantini Press vorgestellt wird. Als die Bücher aber auch international vermarktet werden, fliegt der Schwindel auf …
„Mir schien, dass ich mich damals himmelschreiend nachlässig, ja sträflich oberflächlich verhalten hatte: Es war völlig absurd, rein gar nichts aus meinem Leben gemacht zu haben, in dem es keinerlei Hektik und Mühe gab und das der Zufall oder eine Schicksalsfügung mir an die Hand gegeben hatte. Mir fiel es schwer zu glauben, dass ich so zerstreut und fatalistisch gewesen war und nicht einmal den Versuch unternommen hatte, die unklaren Ideen, die mir durch den Kopf schwirrten, auf den Prüfstand der Realität zu bringen. Wie konnte ich nur denken, dass mir dafür noch alle Zeit der Welt zur Verfügung stünde?“ (S. 271) 
Mit seinen ersten Bestsellern „Creamtrain“, „Zwei von zwei“ und „Techniken der Verführung“ hat sich der Mailander Schriftsteller Andrea De Carlo seit den 1980er Jahren eine treue Fangemeinde aufgebaut, die begeistert den meist männlichen jungen Protagonisten seiner Geschichten durch die unwegsamen Irrungen und Wirrungen der Liebe und des Lebens folgen. Auch in seinem 2002 veröffentlichten und zwei Jahre später auch als „Die ganz große Nummer“ ins Deutsche übersetzten Roman „I veri nomi“ stehen zwei Freunde im Mittelpunkt eines irrwitzigen Road Trips, der aus Alberto und Raimondo definitiv andere Menschen macht und sie mit allerlei interessanten Menschen und Versuchungen, Träumen und Enttäuschungen konfrontiert.
Dass sie dabei ihr Glück überstrapazieren, ist natürlich vorhersehbar, aber wie Alberto und Raimondo diesen großen Schwindel vorbereiten und durchziehen, verdient den größten Respekt und wunderbar vergnüglich zu lesen. De Carlo versteht es wieder einmal souverän, mit seinem eleganten Stil, humorvollen Szenen und lebendigen Dialogen sein Publikum zu fesseln. Allerdings wird der Erzählfluss auch immer wieder durch Erinnerungen an die Menschen und Schlüsselerlebnisse aus dem früheren Leben des Ich-Erzählers Alberto unterbrochen, und auch in der Gegenwart bekommt nahezu jede Person, mit denen es Alberto zu tun bekommt, ein eigenes Kapitel. Das beginnt vor allem im letzten Drittel zu nerven, wenn die eigentliche Geschichte längst erzählt ist und Alberto und Raimondo zwischen den Ländern und Kontinenten nur noch hin- und hertreiben, sich jahrelang gar nicht oder über Briefe verständigen, sich aber nie wirklich ganz aus den Augen verlieren.

Andrea De Carlo – „Uto“

Freitag, 10. April 2020

(Diogenes, 438 S., HC)
Als ihr Mann Antonio bei einem durch ihn verursachten Gasunglück in seinem Büro ums Leben gekommen ist und dabei auch noch einen Priester und ein pensioniertes Lehrerehepaar mit in den Tod riss, wendet sich Lidia verzweifelt an ihre in den USA lebende deutsche Freundin Marianne, da sie sich vor allem Sorgen um ihren neunzehnjährigen Sohn Uto macht, der völlig ungerührt mit dem Tod seines Vaters umzugehen scheint. Marianne, die mit ihrem italienischen Mann Vittorio Foletti, ihrer Tochter Nina und ihrem Stiefsohn Guiseppe in der in Connecticut abgeschiedenen gelegenen Kommune Peaceville lebt, lädt Uto für ein paar Monate zu sich nach Hause ein.
Uto macht sich im Dezember tatsächlich auf den Weg, doch kommt sich der begabte Pianist mit Punkfrisur, Sonnenbrille und schwarzen Rockerklamotten schon bei seiner Ankunft wie in einem falschen Film vor. Er redet nicht viel, nimmt seine Umgebung aber sehr aufmerksam in sich auf. Vittorio betont sogleich, dass es sich bei Peaceville nicht um eine spirituelle Kolonie handelt, sondern um eine spirituelle Siedlung mit einem Zentrum, zu dem jeder gehen kann, wann er will. Ihr spiritueller Führer ist ein alter Hindu, der Swami genannt wird und sich bald nach Utos Ankunft auch zum Abendessen bei den Folettis ankündigt. Uto kann dem allseits vorgeführten Friede-Freude-Eierkuchen-Gehabe allerdings wenig abgewinnen. Stattdessen sorgt er schnell für Unruhe in der vermeintlich so harmonischen Gemeinschaft, lässt die pubertierende Nina endlich ihre Magersucht überwinden, den jungen Guiseppe-Jeff mit harter Rockmusik rebellieren und den erfolgreichen Maler Vittorio in jeder Hinsicht über die Stränge schlagen. Doch Uto selbst kommt sich immer verlorener vor …
„Ich schaute umher und suchte nach einem Punkt, an den ich mich halten konnte, der nichts mit meinen Gedanken zu tun hatte, damit sie von mir abließen und sich in irgend etwas anderes verbissen; ich war von kalter, flüssiger und so konzentrierter Verzweiflung erfüllt, wie es mir nur selten im Leben passiert war. Mir war, als würde ich mich im nächsten Moment auflösen, jede Distanz zur Außenwelt verlieren; ich hatte solche Angst, dass ich hätte schreien können, wenn das nicht schon eine zu positive Geste gewesen wäre.“ (S. 181) 
Mit seinem 1995 veröffentlichten Roman „Uto“ (alternativ auch „Guru“) nimmt der Mailander Erfolgsautor Andrea De Carlo („creamtrain“, „Zwei von zwei“, „Techniken der Verführung“) die Esoterik- und New-Age-Szene genüsslich aufs Korn, entlarvt die „Tue Gutes, und dir wird Gutes getan“-Attitüde selbsternannter Erlösungsfiguren als recht eigentlich verlogenes Getue, das den wahren Charakter eines Menschen nur zu verbergen hilft.
Uto wirkt dabei wie das jüngere Alter ego des Autors. Uto wird zunächst ausführlich als ein hochintelligenter, künstlerisch hochbegabter, analytisch beobachtender und denkender junger Mann vorgestellt, der wenige Worte verliert, sich aber sprachlich äußerst versiert auszudrücken versteht. Mit seiner unnahbaren, aber auch verletzlich wirkenden Art fasziniert er zunächst die beiden Frauen in seiner Gastgeber-Gemeinschaft, während Vittorio den jungen Mann eher eifersüchtig als Konkurrent nicht nur in seinen künstlerischen Ambitionen (obwohl er im Gegensatz zu Uto seine Landschaftsbilder für viel Geld zu verkaufen versteht), die Uto einfach so in den Schoß zu fallen scheinen, sondern auch in der Beziehung zu Frauen.
So versiert und ausschweifend De Carlo allerdings die psychischen Mechanismen in dieser spirituell geprägten Gemeinschaft seziert, so vorhersehbar entwickelt sich leider auch der wenig originelle Plot, wenn Uto nach und nach auf den Grund der einzelnen Charaktere stößt und deren gar nicht so altruistischen und (gemein)wohlwollenden Wurzeln freilegt. So liegt die Stärke in „Uto“ eher in De Carlos sprachlicher Virtuosität und der Charakterisierung seines Protagonisten. Die Folettis wirken dagegen allesamt sehr flach und klischeehaft gezeichnet, so dass das Publikum nie den Eindruck bekommt, dass hier eine Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Uto und den einzelnen Mitgliedern der Foletti-Familie stattfindet. So wird „Uto“ allenfalls eine Leserschaft ansprechen, die ihre Einstellung gegen sektenähnliche Bewegungen auch in literarischer Hinsicht untermauern möchte.

Andrea De Carlo – „Die Laune eines Augenblicks“

Samstag, 2. November 2019

(Piper, 266 S., HC)
Seit fünf Jahren unterhält Luca mit seiner Lebensgefährtin Anna einen alternative angehauchten Reiterhof. Doch als er bei einem Ausritt Anfang März vom Pferd stürzt, wird ihm neben den schmerzhaften körperlichen Blessuren bewusst, dass sein Leben ganz und gar nicht so verläuft, wie er es sich vorgestellt hat. Als er sein Leben vor- und rückwärts an sich vorbeiziehen lässt, stellt er sogar fest, dass er noch nie glücklich war. Er lernt Alberta kennen, die ihn auf dem Weg zurück zum Reiterhof in ihrem Pick-up aufgabelt und ins Krankenhaus bringt. Luca ist fasziniert von der temperamentvollen Frau, küsst sie und will sie wiedersehen.
Doch als er sie das nächste Mal in Rom besucht, findet er sie – nach einem missglückten Selbstmordversuch - ohnmächtig, dem Tode nahe, auf dem Fußboden vor. Schnell wird ihm bewusst, dass er Albertas Schwester Maria Chiara noch interessanter findet. Mit ihr zusammen löst er sich von seiner Vergangenheit, von den Erinnerungen an seine früheren Beziehungen (aus der ein Sohn hervorgegangen ist) und seinen vorangegangenen Job als Verleiher internationaler Independent-Filme ebenso wie von seinem Leben mit Anna auf dem Reiterhof.
Langsam kommen sich die beiden näher. In vielen Gesprächen sezieren sie ihr jeweiliges Leben und werden sich bewusst, was sie vom Leben erwarten. Doch es dauert seine Zeit, bis sich Luca und Maria Chiara voll und ganz einander hingeben, aber dann gibt es kein Zurück …
„Wir schienen uns nicht mehr voneinander lösen zu können, wir schienen nicht aufhören zu können, den Druck unserer eng aneinander geschmiegten Körper zu spüren, das Gefühl des Gefundenhabens und der Zuflucht, das Gefühl, heimgekehrt, einer tödlichen Gefahr entronnen zu sein.“ (S. 157) 
Seit seinem 1981 veröffentlichten Debüt „Creamtrain“ hat der aus Mailand stammende Autor Andrea De Carlo das Gefühlsleben der Menschen seiner Generation analysiert. In seinem zehnten Roman, hierzulande 2001 veröffentlichten „Die Laune eines Augenblicks“ hat sein Protagonist bereits ganz unterschiedliche Karrieren und Beziehungen hinter sich. Das traumatische Erlebnis eines Reitunfalls, der in körperlicher Hinsicht zum Glück keine schwerwiegenden Folgen nach sich zieht, geht mit einer zunächst erschreckenden Bewusstseinsänderung einher, doch Luca zieht daraus sofort die Konsequenzen, trennt sich von seiner Existenzgrundlage und Freundin, lässt sich auf eine neue Frau ein, die er auf ganz neue, gemächliche Weise kennenlernt.
De Carlo bleibt seinem Erfolgskonzept treu und reflektiert sehr detailliert das Gefühlsleben seiner Figuren, die sich natürlich in aufregenden Liebesbeziehungen neu entdecken und erfinden. Das ist insofern immer wieder lesenswert, weil diese ausschweifenden Innenansichten jenseits oberflächlicher Personenbeschreibungen aufzeigen, wie empfindlich die Seelen der Menschen gestrickt sein können, und wie schwierig es ist, einen Partner zu finden, der sich auf all diese komplex ineinander verwobenen Eigenschaften einlassen mag.
Der Plot bleibt dabei sehr minimalistisch. Abgesehen von dem einleitenden Reitunfall und der Begegnung mit Alberta und Maria Chiara passiert eigentlich nicht viel. Stattdessen konzentriert sich De Carlo ganz auf die Gedanken und Gefühle, die Luca und Maria Chiara miteinander teilen und über wegweisende Ereignisse wie das Spielen einer Klaviermelodie, die beide so lieben, zu einem Liebespaar werden.
In dieser sukzessiv voranschreitenden Annäherung des Ich-Erzählers an die Frau, die ihm endlich die ersten Glücksmomente seines Lebens verschafft, erweist sich De Carlo wirklich als Meister der bildhaften Sprache und der feinsinnigen Psychologisierung seiner Figuren, die irgendwie auch immer Abbilder seines eigenen Lebens zu sein scheinen.

Andrea De Carlo – „Das wilde Herz“

Montag, 1. April 2019

(Diogenes, 456 S., Pb.)
Nach einem Gewitter begutachtet der prominente britische Anthropologe Craig Nolan das Dach des in die Jahre gekommenen Ferienhauses im ligurischen Dorf Canciale, an dem vor allem seine Frau, die italienische Bildhauerin Mara Abbiati, so sehr hängt, um die Stelle zu finden, an der es in das Schlafzimmer regnet, und stürzt durch das morsche Gebälk. Neben einigen Prellungen und einem Schleudertrauma wird dabei vor allem das rechte Bein verletzt. Während die Genesung seines Beins allmählich voranschreitet, gestaltet sich die Suche nach einem geeigneten Handwerker für die Reparatur des Daches schwierig.
Doch dann taucht ein muskulöser Typ mit sonnenverbranntem Gesicht, grauschwarzen, langen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haare auf einem schwarzen Motorrad auf, stellt sich als Ivo Zanovelli vor und bietet Mara an, das Dach innerhalb einer Woche für neuntausend Euro zu reparieren, die bar zu entrichten wären, die Hälfte sofort, der Rest nach Erledigung des Auftrags.
Während Mara sofort völlig begeistert einwilligt, sieht sich Craig durch den verwegenen Rivalen in seinem Revier bedroht. Da er selbst einst eine Affäre mit einer Studentin unterhielt, scheint nun von Maras Seite aus die Beziehung aus dem Gleichgewicht zu geraten. Während Craig sich in das Haus von Signora Launa zurückziehen kann, um in Ruhe an seinem längst überfälligen Artikel und seiner nächsten Fernsehsendung zu arbeiten, kommen sich Mara und Ivo über die Arbeit mit Tuffstein und Marmor schnell näher. Ein gemeinsamer Ausflug zu einem Steinbruch endet schließlich im Gästezimmer einer nahegelegenen Wirtschaft. Aber was folgt danach? So sehr Mara und Ivo voneinander fasziniert sind, sind sie sich jeweils sehr unschlüssig, was aus dieser Beziehung denn werden soll …
„Wann hat er so etwas zuletzt erlebt? Mit siebzehn, in einem anderen Jahrhundert? Ihn packt eine Mischung aus Angst und Wut. Ist sie denn tatsächlich so anders als alle anderen? Ist sie wirklich so viel interessanter? Intelligenter? Natürlicher? Authentischer? Hat sie wirklich ein größeres Herz?“ (S. 317) 
Einmal widmet sich der italienische Bestseller-Autor Andrea De Carlo („Creamtrain“, „Zwei von zwei“) einem seiner Lieblingssujets, der zwischenmenschlichen Beziehungen mit ihren oft amourösen Verwicklungen. In diesem Fall seziert er das Trio Infernale, in dessen Zentrum die attraktive Bildhauerin Mara steht, die nach über sieben Jahre Ehe nicht mehr nur von ihrem Mann begehrt wird, der sich längst von seiner Feldforschung als Anthropologe verabschiedet und sich ganz auf die akademische Laufbahn als Autor und Fernsehmoderator verlegt hat, sondern auch von dem zupackenden Handwerker Ivo, der mit seinem Trupp von Schwarzarbeiten aus dem Balkan von Baustelle zu Baustelle reist und sich dabei auch auf krumme Geschäfte einlässt, die ihm nun zum Verhängnis zu werden drohen.
Indem De Carlo die drei Figuren jeweils abwechselnd zu Wort kommen lässt, nutzt er den akademischen Hintergrund von Craig Nolan immer wieder dazu, wissenschaftliche Studien und Erkenntnisse in seine Beobachtungen und Gedanken einfließen zu lassen, während sich Maras und Ivos Perspektive ganz auf die emotionale Komponente fokussiert. Die Handlung gerät dabei fast zur Nebensache und verläuft auf geradezu vorhersehbaren Bahnen. Auf die leidenschaftliche Affäre folgt auch noch die unangenehme Begegnung mit einem von Ivos früheren Auftraggebern.
Vielmehr interessiert De Carlo das reichhaltige Spektrum an Leidenschaften, Beobachtungen, Deutungen, Fragen, Ängsten und Unsicherheiten, die Mara, Ivo und Craig jeweils in ihren inneren Monologen ausbreiten, womit der Autor seine ohnehin schon interessanten Figuren viel eindringlicher charakterisiert, als es ihm durch einen flott inszenierten Plot gelingen könnte. Dennoch schleichen sich gerade in der zweiten Hälfte so einige Längen ein, drehen sich die geäußerten Gedanken zunehmend im Kreis.
„Das wilde Herz“ zählt sicher nicht zu De Carlos besten Werken, demonstriert aber erneut, wie tief er in die Seele seiner Figuren einzutauchen und ihre Empfindungen in einer äußerst lebendigen Sprache auszudrücken versteht.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Das wilde Herz"

Andrea De Carlo – „Arcodamore“

Dienstag, 24. Juli 2018

(Diogenes, 349 S., HC)
Nachdem sich der in Mailand lebende Fotograf Leo Cernitori vor drei Jahren von seiner Frau getrennt hat, ist er oft bei seinem Cousin und seiner Frau Tiziana zu Gast. Auf dessen Geburtstagsüberraschungs-Party, die seine Frau organisiert hat, bittet er Leo, ihm ein Alibi zu verschaffen, da er noch eine Verabredung habe – mit der attraktiven Harfenistin Manuela Duini. Leo kommt mit ihr bei dem gemeinsamen Treffen ins Gespräch und trifft seinerseits Verabredungen mit ihr. Im Gegensatz zu seinem Cousin führt Leo nämlich ein ganz ungebundenes Leben, zu dem seine beiden Kinder und eine Freundin in Venedig gehören, aber bislang haben seine Beziehungen stets einen ganz unverbindlichen Charakter.
 
Als er jedoch Manuela mit Haut und Haaren verfällt, lernt Leo eine ganz neue Seite an sich kennen: Auf den Einbruch in Manuelas Wohnung reagiert er mit Wut und Eifersucht. Er entdeckt nämlich Tagebücher von ihr, in denen sie von einer immerhin zwei Jahre andauernden Mann berichtet, der sie gedemütigt, verletzt und erpresst hat. Als Leo Manuela daraufhin zur Rede stellt, reagiert die Musikerin ebenso wütend, das Band zwischen ihnen scheint für immer zerrissen. Und doch nähern sie sich wieder an, vorsichtig, dann leidenschaftlich, voller Ungewissheit über ihr Schicksal.
„Mit großer Willensanstrengung ging ich auf Manuela zu, als müsse ich gegen ein umgekehrtes Magnetfeld ankämpfen. Wir sahen uns aus einem halben Meter Abstand mit leicht geöffneten Lippen an, in unserem Blick vermischten sich Anziehung und Misstrauen, Eifersucht und Ungewissheit, Bitterkeit und Süße.“ (S. 208) 
In seinem siebten Roman (nach Werken wie „creamtrain“, „Macno“, „Techniken der Verführung“ und „Zwei von zwei“) geht der Mailänder Schriftsteller Andrea De Carlo einmal mehr den komplexen Mechanismen der Liebe und Leidenschaft nach. Die erste Romanhälfte ist dabei noch ganz interessant, wenn er Leo, den er aus die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählen lässt, und die Stationen seines Lebens ebenso kurz skizziert wie seine Arbeit als Fotograf von unbewegten Objekten wie Möbeln, wobei sich aus der Beziehung zu seinem verheirateten Cousin und zu Manuela, die er ihm schließlich vor der Nase wegschnappt, die eigentlich interessante Story entwickelt. Doch sobald es nur noch darum geht, wie sich Leo und Manuela ineinander verlieben, leidenschaftlich lieben und begehren, dann wütend anschreien, Besitzansprüche stellen und nicht verstehen wollen, was der andere überhaupt für ein Problem hat, wirkt die ja leider nur aus einer Perspektive erzählten Geschichte zunehmend konstruierter.
Dabei bemüht De Carlo auch noch die aktuellen Korruptionsskandale in Italien, in die auch Manuelas Ex-Geliebter als Leiter eines Therapiezentrums verwickelt zu sein scheint. Allerdings wird diese Komponente so nebensächlich behandelt, dass sie auch weggelassen hätte werden können.
Wie sich Leo und Manuela begehren, bekriegen und wieder die Kurve zu kriegen scheinen und somit den im Romantitel angedeuteten „Liebesbogen“ durchleben, ist zwar voller knisternder Erotik und interessanter Gespräche über die Natur der Liebe, wirkt aber nicht wie die überzeugende Auseinandersetzung eines Paares, sondern wie eine theoretische Diskussion darüber, ob der Liebesbogen nach Erreichen des Höhepunkt sich nicht zu einer Gerade entwickeln kann.
Dennoch lässt sich „Arcodamore“ wunderbar schnell und leicht lesen, verführt mit sprachlicher Finesse und purer sexueller Leidenschaft, die allerdings wie aus dem Nichts auch ins andere Extrem umkippt.

Andrea De Carlo – „Macno“

Sonntag, 22. April 2018

(Diogenes, 280 S., HC)
Gerade als Macno, charismatischer Diktator eines fiktiven südamerikanischen Staates, eine weitere Version der Rede zum Dritten Jahrestag aufgenommen hat, die in einigen Wochen ausgestrahlt werden soll, nehmen die Palastwachen zwei Eindringlinge fest, die zunächst für Terroristen gehalten werden. Doch die aus München stammende, nun in New York lebende Journalistin Liza Förster und Kameramann Ted Wesley wollen nur ein Interview mit dem Präsidenten, das ihnen Macno überraschenderweise auch gewähren will. Doch einen Termin zu finden, erweist sich als äußerst schwierig.
Macno lädt die beiden Journalisten ein, in seinem Palast zu wohnen. Während sich Liza und Macno vor allem persönlich näherkommen, rückt das angestrebte Interview zunehmend in die Ferne. Stattdessen unterhält sie sich mit dem Botaniker und Schriftsteller Henry Dunnell und Macnos rechter Hand, Ottavio Larici, der offensichtlich eigene Pläne mit Liza verfolgt. Er zeigt ihr alte Videos von Macnos legendär gewordener Talk-Show „Kollisionen“, in denen er vom abgesprochenen Konzept vorher abgesprochener Fragen abwich und so dem damaligen Ministerpräsidenten vom Thron stürzte.
Doch die populistische Kritik an Korruption und Unehrlichkeit der politischen Elite scheint Macno keine lange eigene politische Karriere zu bescheren. An eigenen konkreten Ideen und Konzepten zur Verbesserung des gesellschaftlichen Klimas hat es ihm schon immer gemangelt, aber nun scheint ihm auch sein medienwirksames Charisma verloren zu gehen …
„Ottavio sagt: ‚Macno war nie ein Politiker. Er hatte weder ein politisches Programm noch ein politisches Bezugssystem, noch die Fähigkeit zur politischen Analyse – so unglaublich es klingen mag. Ihn interessierte die Welt und das Leben, wie er selbst sagte. Er hatte diese utopische und wenn du willst kindliche Vision, wie die Dinge sein könnten, wie schön das Leben sein könnte, wenn wir alle anders wären und die Umwelt anders wäre, die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Rollen und so weiter.“ (S. 224) 
Mit seinem dritten Roman nach „cream train“ und „Vögel in Käfigen und Volieren“ kreierte der Mailänder Schriftsteller Andrea De Carlo eine Mediensatire, die über dreißig Jahre danach leider nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Dabei vermeidet De Carlo konkrete Hinweise auf den politischen Führungsstil seines fiktiven Diktators. Vielmehr geht es dem Autor darum, die Scheinheiligkeit politischer Führer und Parteien zu entblößen, die kollektive Heuchelei, das strikte Verfolgen eigener Interessen, während die Menschen im Land Opfer von Plünderungen, Gewalt und Betrug wurden.
Der Plot beschränkt sich dabei fast nur auf den einen Monat, den Liza und Ted im präsidialen Palast verbringen, ohne ihrem Interview näher zu kommen, was die Ohnmacht der Medien in quasi diktatorisch geführten Staaten veranschaulicht. Letztlich gelingt es Liza nicht, ein persönliches Portrait von Macno zu zeichnen. De Carlo überzeichnet das Leben in Macnos Palast auf fast comichafte Weise, wenn Macno von all den berühmten Künstlern, Schauspielern und Prominenten, die sich auf den Festen und Empfängen vergnügen, nur angewidert ist, doch einen Ausweg bietet der Autor auch nicht an. Ähnlich wie sein titelgebender Protagonist beschränkt sich De Carlo auf die wenig schmeichelhafte Beschreibung des Ist-Zustandes und sorgt mit der eingestreuten Affäre für noch mehr triviale Ablenkung, als es Macno und sein Gefolge im Palast für die Massen besorgen.

Andrea De Carlo – „Ein fast perfektes Wunder“

Sonntag, 1. Oktober 2017

(Diogenes, 400 S., HC)
Als ein Blackout, der den öffentlichen Verkehr, die Telekommunikation, Sicherheitssysteme und Computernetzwerke und die Stromversorgung im gesamten Stadtgebiet von Fayence in der Provence-Alpes-Côte d‘Azur lahmlegt, droht Milena Migliari auf ihren Eiskreationen sitzenzubleiben. Nachdem sie eher vergeblich versucht hat, das Eis an Passanten zu verschenken, kommt ihr der unerwartete Auftrag mehr als gelegen, zehn Kilo mit all ihren Eissorten nach Callian zu bringen. Dort versucht der Rockmusiker Nick Cruickshank, sich mit seiner Band Bebonkers auf ein Benefiz-Konzert im Aerodrom und seine Hochzeit mit der Anti-Leder-Designerin Aileen vorzubereiten, begleitet von Journalisten, einem Kameramann und einem Fotografen des „Star Life“-Magazins.
Als er von Milenas Eis kostet, ist er hin und weg, wenig später sucht der Bebonkers-Frontmann, der auf zwei gescheiterte Ehen und fünf Kinder zurückblickt, Milena in ihrer Eisdiele „La Merveille Imparfaite“.
Was in den wenigen Momenten der kurzen Begegnungen auf Nicks Anwesen in Les Vieux Oliviers und in Milenas Eisdiele mit ihnen geschieht, ist beiden Beteiligten ein Rätsel. Schließlich bereitet sich Milena mit ihrer Lebensgefährtin Viviane gerade auf die künstliche Befruchtung vor, doch ein Baby auszutragen kommt Milena momentan wenig erstrebenswert vor. Auch Nick ist sich im Unklaren über die Beziehung mit der selbstbewussten Aileen, die alles, was mit der Band zu tun hat, im Griff zu haben scheint. Überrascht von der merkwürdig intensiven Anziehung, die Milena und Nick füreinander empfinden, lassen sie sich auf etwas ein, das ihnen ebenso fremd wie selbstverständlich, aufregend und vertraut erscheint.
„Was war dieser Kuss? Ein Fluchtversuch? Ein Überrumpelungsversuch? Eine Verzweiflungstat? Er war jedenfalls etwas absolut Unerwartetes: Ihm schien, als erkenne er sie von wer weiß welchem Punkt in Zeit und Raum und erkenne auch sich selbst oder einen Teil von sich, den er verloren hatte. Oder längst nicht mehr suchte.“ (S. 304) 
Andrea De Carlo („Zwei von zwei“, „Creamtrain“) bringt in seinem neuen Roman „Ein fast perfektes Wunder“ zwei außergewöhnlich kreative Menschen zusammen, die jeder für sich in ihrem ganz eigenen Kosmos leben - Nick in der schimmernd-glitzernden Welt der Rockmusik, die ihm nicht nur viel Geld, sondern auch die Anbetung durch unzählige Fans beschert hat; Milena in ihrer Eisdiele, die sie nach ihrer Flucht vor enttäuschten Liebesbeziehungen aus Italien in die französische Provinz gegründet hat, wo sie so außergewöhnliche Eissorten wie Kaki und Brustbeere kreiert.
Minutiös schildert er abwechselnd aus Nicks und Milenas Perspektive, wie sie mit ihrem Alltag, ihren Mitmenschen und Herausforderungen umgehen, wie das Zusammentreffen zwischen ihnen etliche Fragen darüber aufwirft, ob die gegenwärtigen Lebens- und Liebesumstände so aufrechterhalten sollten.
Sprachlich präsentiert sich De Carlo einmal mehr als großer Fabulierkünstler, vor allem in der Beschreibung der Geschmacksempfindungen bei der Verkostung von Milenas Eis, aber auch in der Kartierung der Gefühlswelten und der Fragestellungen, die die Beziehung zwischen Nick und Milena begleiten. So manch ein Leser wird sich mit Freuden oder Stirnrunzeln selbst und sein (Gefühls-) Leben hinterfragen wollen. Ein größeres Lob kann man einem Autor kaum zollen. 
Leseprobe Andrea De Carlo - "Ein fast perfektes Wunder"

Andrea De Carlo – „Creamtrain“

Sonntag, 30. Juli 2017

(Diogenes, 256 S., HC)
Auf Einladung seiner Urlaubsbekanntschaften, des Drehbuchautors Ron und seiner Frau Tracy, reist der 25-jährige Mailänder Giovanni nach Los Angeles, doch das Zusammenleben ist zunehmend von einem gereizten Klima geprägt, da sich Rons aktuelles Treatment offenbar nicht an den Mann bringen lässt.
Um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, nimmt Giovanni einen Job als Kellner in einem italienischen Restaurant an und zieht bei seiner Kollegin Jill ein, die ohnehin nach einem neuen Mitbewohner gesucht hat.
Als auch das Zusammenleben mit Jill immer problematischer wird, schmeißt Giovanni den Kellnerjob und heuert bei einer Sprachschule an, wo er der bekannten Schauspielerin Marsha Mellows Italienisch beibringt. Durch sie lernt er die bessere Gesellschaft kennen, ist aber alles andere als fasziniert von der dort durchdringenden Oberflächlichkeit.
„Ich drängte mich in eine Gruppe von Leuten, die schwatzend und lachend warteten, dass ein Kellner in grüner Jacke ihnen Cocktails servierte. Ich wollte herausfinden, wer sie waren und was sie beruflich machten, aber schließlich erschien mir die Frage ganz irrelevant. Sie waren alle so unverkennbar erfolgreich: brillant und nervig, strotzend von ganz auf sich selbst gerichteter Energie.“ (S. 244) 
Mit seinem 1981 veröffentlichten Debütroman „Creamtrain“, der vier Jahre später auch in deutscher Übersetzung erschienen ist und mit dem Premio Comisso ausgezeichnet wurde, verarbeitete der Mailänder Schriftsteller Andrea De Carlo seine Erfahrungen mit Amerika und lässt seinen jungen Protagonisten seine etwas diffuse Suche nach Glück und Anerkennung in klarer, prägnanter Sprache und mit fotorealistischer Beobachtungsgabe reflektieren.
Was Giovanni vor allem irritiert, sind die Menschen, mit denen er während seiner unterschiedlichsten Jobs zu tun hat, mit den Frauen, die nicht wirklich attraktiv, aber schon auf unbestimmte Weise interessant sind, zu denen er aber keine enge Beziehung aufbauen kann. Vor allem seine prominente Italienisch-Schülerin Marsha Mellows, die er aus dem Film „Creamtrain“ kennt, bereitet ihm Kopfzerbrechen. Wirkliche Nähe kommt bei ihren Zusammentreffen aber nicht auf, selbst als Giovanni den Mut aufbringt, sie zum Essen zu sich nach Hause einzuladen, und der Abend auf einer Schickimicki-Party ausklingt, zu der sie ihn mitnimmt.
Bei aller Irritation, die Giovanni im Umgang mit den selbstherrlichen Reichen, Erfolgreichen Arroganten empfindet, weiß er aber auch selbst nicht, wie er sich verhalten, wo er in seinem Leben überhaupt hinwill. Seine Jobs öden ihn nach kurzer Zeit an, mit den Menschen kommt er nicht klar, seine beruflichen Ambitionen scheinen in Richtung Fotografie zu gehen, doch ernsthaft bemüht ist er auch in dieser Hinsicht nicht.
„Creamtrain“ liest sich wie die ernüchternde Sicht eines Außenstehenden auf die Reichen und Schönen in Hollywood, denen offenbar an nichts mehr gelegen ist, als einander in ihrem Erfolg und in ihren Statussymbolen vergleichbar zu sein. Großartige neue Erkenntnisse darf der Leser in dieser Hinsicht allerdings kaum erwarten.
Der kurze Roman wirkt wie das Portrait eines ziellos in den USA gestrandeten jungen Europäers, der nicht mal zu sich selbst findet, sondern nur nicht mit seiner jeweiligen Umgebung zurechtkommt. Das ist durchaus unterhaltsam geschrieben, entbehrt aber jeder Spannung oder auch nur Entwicklung.

Andrea De Carlo – „Vögel in Käfigen und Volieren“

Samstag, 27. Mai 2017

(Diogenes, 291 S., HC)
Ein Telegramm von seinem Vater bringt den Stein ins Rollen. Nachdem Fjodor Barna in Kalifornien mit seinem MG einen Autounfall verursacht hat, bei dem es zum Glück nur einen – wenn auch erheblichen – Sachschaden zu beklagen gibt, nimmt er eher ungerührt zur Kenntnis, dass er fünfzig Jahre brauchen würde bei dem, was er als Musiker verdient, um die Kosten bezahlen zu können. Als er seinen reichen Vater in Peru besucht, wo dieser seltene Vögel züchtet, wird der 21-Jährige nach New York geschickt, wo sein erfolgreicher Bruder ihn in dessen Unternehmen MultiCo eingliedern soll.
Fjodor lässt sich gleich nach Mailand versetzen, an den Ort seiner Kindheit, an die er nur noch verschwommene Erinnerungen besitzt. Fjodor wird mit einer ebenso uninteressanten wie gutbezahlten Arbeit betraut, die ihm nicht im Geringsten interessiert. Das ändert sich erst, als er den Maler Mario Oltena und seine geheimnisvolle Schwester Malaidina kennenlernt, der Fjodor sofort verfällt. Allerdings lebt sie mit einem Mann zusammen, ihr Wohnsitz ist aber selbst ihrem Bruder unbekannt. Für Fjodor beginnt eine Zeit voller Ungeduld und Ungewissheit, denn Malaidina scheint zwar auch an Fjodor interessiert, begibt sich aber immer wieder auf die Flucht, bis nach Korinth und Athen, wohin der junge Mann ihr atemlos nachreist …
„Ich habe Hunger, aber keine Lust zu essen; ich habe keine Lust zu denken, dass ich Hunger habe. Ich gehe, ohne die Füße sehr weit vom Boden zu heben, folge mit den Augen der Bordsteinkante. Ich gehe mechanisch, und meine Gedanken sind eingeschlossen in eine Art Käfig aus kondensierter Unruhe und Erregung, der mich hindert, weite Gesten oder Gesichtsausdrücke zu machen, auch wenn ich es wollte.“ (S. 287) 
Gleich mit seinem ersten, 1981 erschienenen Roman „Creamtrain“ ließ der Mailander Schriftsteller Andrea De Carlo aufhorchen. Sein ein Jahr darauf veröffentlichtes Werk „Vögel in Käfigen und Volieren“ folgt dem gerade erwachsen gewordenen Ich-Erzähler Fjodor, wie er aus der sonnigen Unbekümmertheit in Kalifornien, in der er dank seines wohlhabenden Vaters leben darf, in Europa endlich sein Leben in die Hand, etwas aus ihm machen soll.
Doch der bisher in den Tag hineinlebende Fjodor fühlt sich von Beginn an fremd in der Arbeitswelt, in der er keinen Sinn entdecken kann. Ihm ist das Künstlerleben, das die Geschwister Mario und Malaidina führen, weitaus sympathischer. De Carlo gelingt es bereits mit den ersten Seiten, seinen Protagonisten als orientierungslosen wie unbekümmerten Bohemien zu charakterisieren, der erst aus Liebe zu einer geheimnisvollen und undurchdringlichen Frau ein Ziel findet, das seinem bis dato sinnleeren Leben einen Ausweg bietet. Dass er sich dabei in durchaus lebensbedrohliche Situationen begibt, scheint seinem Antrieb nur noch mehr Feuer zu verleihen und seinen Willen zu stärken.
Die immer wieder thematisierten Vögel und Käfige stehen dabei offensichtlich für die Freiheit und ihre Einschränkungen, und Fjodor setzt alles daran, seinen eigenen Käfig zu verlassen und das Leben und die Liebe mit jeder Faser seines Körpers, seines Geistes zu spüren. Das Erzähltempo fängt gemächlich an und steigert sich bis zu einem atemlosen Finale, das bei allen Liebesdingen auch einen Hauch von Hitchcock-Spannung bereithält.

Andrea De Carlo – „Zwei von zwei“

Sonntag, 2. April 2017

(Diogenes, 449 S., HC)
Im November 1968 lernt Mario auf einem Gymnasium in Mailand Guido Laremi kennen, doch nach der ersten Begegnung, nach der Mario den ungefähr gleichaltrigen Jungen auf seinem Mofa nach Hause gebracht hat, sehen sich die beiden neun Monate lang nicht, in denen Mario sich in der niederdrückenden Stadt einfach nur langweilt und mit dumpfen Empfindungen ohne Antrieb und Interessen die Zeit an sich vorüberziehen lässt. Als Guido zu Beginn der Quinta allerdings in Marios Klasse versetzt wird und sich zu ihm an den Tisch setzt, freunden sich der schüchterne Mario und der von seinen Klassenkameraden so ganz verschiedene Guido schnell an.
Mit seinem außergewöhnlichen, romantischen Aussehen zieht Guido sofort die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich, Mario hofft in seinem Schlepptau auch auf die eine oder andere Liebelei. Gemeinsam erleben sie das Aufbegehren der Schüler und Studenten gegen das verkrustete Bildungswesen und gehen nach dem Abitur getrennte Wege. Mario studiert Philosophie und geht eine bürgerliche Beziehung ein, Guido lässt sich rastlos durch die Welt treiben, wechselt von einer Frau zur anderen und schreibt schließlich an seinem ersten Roman „Canemacchina“, in dem er voller Abscheu, Verzweiflung und Rachgier mit dem verhassten Mailand abrechnet.
Das Buch wird überraschenderweise ein voller Erfolg, von den Kritikern allerdings als Selbstportrait einer Lost Generation missverstanden. Nachdem sich Mario mit den Mitteln einer kleinen Erbschaft mit seiner Frau Martina auf dem Land eine autark lebende Gemeinschaft aufgebaut hat, treten die unterschiedlichen Lebensentwürfe der beiden Jugendfreunde immer deutlicher zutage.
„Zehn ganze Jahre lang waren Martina und ich in Le Due Case geblieben, hatten immer an ein und demselben Ort gearbeitet, Beziehungen hergestellt und Probleme gelöst, so sehr mit seiner Atmosphäre verwachsen, dass wir – abgesehen von der Stadt, aus der wir geflüchtet waren – ganz vergessen hatten, dass es auch noch andere Orte gab.“ (S. 369) 
Andrea De Carlo hat sich mit seinen ersten Büchern „Creamtrain“ und „Vögel in Käfigen und Volieren“ zum Sprachrohr seiner Generation gemacht und vor allem die sozialen und gesellschaftlichen Missstände in seiner Mailänder Heimatstadt seziert. Mit „Zwei von zwei“ knüpft er nahtlos an diese Thematik an, beschreibt zu Anfang minutiös die Bildungsmisere in der Stadt, die in lautstarken Protesten der Studenten mündete, und benutzt die zwei konträren Lebensentwürfe seiner Protagonisten Mario und Guido dazu, die Konsequenzen dieser zermürbenden Atmosphäre auf das Leben der Städter aufzuzeigen.
Während der Ich-Erzähler Mario sich radikal vom Stadtleben abwendet und eine Art selbstverwaltete Kommune auf dem Land ins Leben ruft, findet der rastlose Guido keinen Halt, weder in örtlicher noch persönlicher Hinsicht. Das Auseinanderdriften der beiden Freunde und ihrer Daseinsformen wirkt in der ersten Hälfte noch sehr interessant und spannend, reduziert sich dann aber zunehmend auf die allzu detaillierte Lebensweise auf dem Land, während Guidos Reisen durch die Welt und Entwicklung immer mehr in den Hintergrund geraten und nur noch durch seine sporadischen Briefe an seinen alten Freund thematisiert werden.
Die Lost Generation hat sich dann irgendwann auch auf dem Land verloren …

Andrea De Carlo – „Wir drei“

Freitag, 3. Februar 2017

(Diogenes, 662 S., HC)
Am 12. Februar 1978 hat Livio gerade so sein Examen in Geschichte des Mittelalters bestanden. Im Gegensatz zu seinem besten Freund und Kommilitonen Marco Traversi, der keine Veranlassung gesehen hat, den Unmut der Prüfungskommission etwas abzufedern, und konsequenterweise auf das Diplom verzichtete, gab Livio klein bei und machte mit seinem Diplom zumindest seine Mutter und Großmutter zufrieden. Am Abend lernt er nach einer Feier Misia Mistrani kennen, als er die junge Frau aus einer unerfreulichen Situation mit einem jungen Mann befreit, doch bis er Misia wiedersieht, vergeht die Zeit, in der Livio teils chaotisch, teils verschlafen und unbestimmt in seinem Mailänder 42-Quadratmeter-Apartment darüber nachsinnt, was er mit seinem Diplom und seiner Zukunft anfangen soll.
Erst als sein Freund Marco beginnt, auf seine ihm eigene ungestüme, impulsive Art und Weise einen Film zu machen, in dem Misia aus einer zufälligen Besucherin zur Hauptdarstellerin avanciert, entwickelt sich eine über alle Maße dynamische Freundschaft zwischen den drei Künstlern. Marcos Film wird dank der Schützenhilfe seines Freundes Settimio zu einem Independent-Festival-Erfolg, Misia zu einer begehrten Person des öffentlichen Lebens, die jedoch kein Interesse daran hat, weitere Filme zu machen, und Livio entwickelt sich – nach entsprechender Ermutigung durch Misia – zu einem respektablen Maler.
Doch über die Jahre verlieren sich Livio, Marco und Misia immer wieder aus den Augen, verraten ihre alten Ideale und gehen bürgerliche und andere Beziehungen ein, werden Großgrundbesitzer, selbstversorgende Kommunenmitglieder und kommerzieller Filmemacher, verstreuen sich auf die Balearen, nach London und Paris und Südamerika, doch immer wieder kreuzen sich hier und da die Wege von Livio und Marco auf der einen, von Livio und Misia auf der anderen Seite.
„Ich fragte mich, woran es lag, dass ich in ihr so lange mein Frauenideal gesehen und dieses Ideal, immer wenn ich eine neue Seite ihres komplexen Wesens entdeckte, um weitere Elemente bereichert hatte; ob ihr jemals bewusst geworden war, was sie mir wirklich bedeutete, ob sie es ausgenutzt hatte; ob sie wusste, dass ich alle anderen Frauen in meinem Leben ständig mit ihr verglichen hatte, nur um jedesmal festzustellen, wie schlecht sie dabei abschnitten; ob sie sich vorstellen konnte, welch schreckliches Gefühl des Mangels sie immer wieder in mir verursacht hatte.“ (S. 562) 
Livio, der Ich-Erzähler in De Carlos 1997 bzw. 1999 in deutscher Sprache veröffentlichten Roman „Wir drei“, wirkt ähnlich Philippe Djians Protagonisten wie ein Alter Ego des Mailänder Schriftstellers, der in einem Interview verkündete, er könne nur über die Gefühle schreiben, die er selbst empfunden habe. Ähnlich wie De Carlo, der sich in Mailand nie so recht heimisch gefühlt hat und sich stets dem gönnerhaften Literatur- und Kulturmarkt zu entziehen versuchte, der ihn vereinnahmen wollte, fühlen sich auch die drei Künstler in „Wir drei“ nirgends heimisch und wandeln eher orientierungslos zwischen eigenem hehren Anspruch und den gesellschaftlichen Konventionen und Gesetzen des Kulturmarkts umher, legen sich nie fest, lösen Verträge und persönliche Bindungen, wie es ihnen gerade in den Kram passt.
So spannend und interessant es ist, De Carlos lebendig gezeichnete Figuren durch ihre schillernden und abwechslungsreichen Leben zu verfolgen, so gelingt es dem Autor doch zu selten, echtes Mitgefühl für die jeweiligen Nöte und Leiden seiner Helden aufzubringen; zu rastlos und beliebig lassen sie sich durch die Jahrzehnte und vollkommen unterschiedliche Lebensentwürfe treiben. Nichtsdestotrotz bekommt der geduldige Leser im Rahmen des 660 Seiten dicken Epos Einblicke in die fundamentalsten Existenzfragen von Künstler-Persönlichkeiten und die Mechanismen und Fundamente von Freundschaften, die jenseits amouröser Verquickungen Jahrzehnte, Kontinente und unterschiedliche Ansichten überdauern.

Andrea De Carlo – „Wenn der Wind dreht“

Sonntag, 22. Januar 2017

(Diogenes, 427 S., HC)
Der erfolgreiche Immobilienmakler Alessio Cingaro wohnt zwar noch bei seiner Mutter, verfügt aber sonst über alle Annehmlichkeiten, die für Geld zu haben sind. Den nächsten großen Deal wähnt er bereits in der Tasche. An diesem Freitag fährt er nämlich mit vier miteinander befreundeten Klienten von Mailand ins umbrische Turigi, wo in absoluter Abgeschiedenheit ein traumhaftes Anwesen zum Verkauf steht. Doch wirklich entspannt gehen der Architekt Enrico Guardi, seine als Lektorin in einem renommierten Mailänder Verlag arbeitende Frau Luisa, die bekannte Fernsehshow-Moderatorin Margherita Novelli und der frisch geschiedene Arturo Vannucci, Vater zweier Kinder, die ihm seine Ex-Frau übers Wochenende kurzfristig aufs Auge drücken will, den Wochenendtrip nicht an.
Tatsächlich verfährt sich Alessio auf dem Weg zu den Häusern und gerät zu allem Überfluss mit dem Wagen in einen Graben, so dass der weitere Weg zu Fuß zurückgelegt werden muss. Als das Quintett sein Ziel endlich erreicht, muss die Reisegruppe erfahren, dass sich ihr Makler das Anwesen vorher gar nicht persönlich angesehen hat, dass er sich auch nicht der Tatsache bewusst gewesen ist, dass das Haupthaus noch immer bewohnt ist, und zwar von sehr ursprünglich lebenden Menschen, die den Tauschhandel längst aufgegeben haben und von dem leben, was sie selbst herstellen und sammeln.
Zunächst richten sich die Ressentiments der Kaufinteressenten gegen den Immobilienmakler, doch je mehr Zeit die vier vermeintlichen Freunde zwangsläufig miteinander in der Einöde ohne Funknetz und sonstiger Verbindung zur Außenwelt verbringen müssen, kommt ihre wahre Natur zum Vorschein.
„Margherita denkt, nur vor wenigen Jahren noch wäre das eine fantastische Gelegenheit gewesen, ihrer aller Kritikvermögen und Sinn für Ironie über sich und die Welt unter Beweis zu stellen, sie hätten spitzzüngige Bemerkungen und Witze gemacht und die ganze Nacht bis zum Morgengrauen wie verrückt gelacht. Jetzt hingegen sind sie vier Erfolgsmenschen, die infolge eines zeitweiligen Kontrollverlusts unter Schock stehen: Sie sind nur noch imstande, negative Daten zu registrieren und ihre restlichen Gedanken auf den morgigen Tag zu projizieren, an dem es ihnen auf die eine oder andere Weise gelingen wird, diesen Ort zu verlassen.“ (S. 117) 
Der italienische Bestseller-Autor Andrea De Carlo („Vögel in Käfigen und Volieren“, „Creamtrain“) beschreibt in seinem 2004 veröffentlichten und drei Jahre später auf Deutsch erschienenen Roman „Wenn der Wind dreht“ auf faszinierend eindringliche Weise das Zusammentreffen zweier ganz unterschiedlicher Lebensentwürfe.
Während die vier großstädtischen, mit allen Annehmlichkeiten der zivilisierten Konsumgesellschaft versorgten Erfolgsmenschen in den umbrischen Wäldern eine Oase der Ruhe und Entspannung suchen, streben Lauro, Mirta, Icaro, Gaia, Arup und Aria in ihrer selbstgewählten Kommune nach einem natürlicheren, komplett selbstbestimmten Leben. Jede Partei versucht der anderen die Vorzüge des eigenen Lebensstils schmackhaft zu machen, doch müssen alle Beteiligten im Verlauf ihrer erzwungenen Gesellschaft feststellen, dass sich jeder auch ordentlich in die Tasche lügt, um den Sinn und die Ausgestaltung seines Lebens zu rechtfertigen.
De Carlo entzieht sich dabei einer Bewertung, sondern macht in den lebendigen und pointierten Dialogen und inneren Einsichten seiner Protagonisten deutlich, dass das Leben nicht nur von selbstbestimmten Gewissheiten und Sicherheiten geprägt wird, sondern auch von Zweifeln und unerfüllten Sehnsüchten, die jedoch schwer einzugestehen sind. Das trifft in „Wenn der Wind dreht“ ebenso auf die in ihrem hektischen Alltag gefangenen Großstädter zu wie auf die ganz auf sich bezogenen Naturmenschen.
Faszinierend ist dabei vor allem zu verfolgen, wie jeder Einzelne nach dieser Reise eine persönliche Veränderung durchmacht, in der zumindest tief verwurzelte Gewissheiten zumindest angezweifelt werden.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Wenn der Wind dreht"