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Hari Kunzru – „Red Pill“

Samstag, 4. September 2021

(Liebeskind, 352 S., HC) 
Mit seinen Romanen „Götter ohne Menschen“ und „White Tears“ hat sich der britische Autor Hari Kunzru bereits als einer der interessantesten Stimmen innerhalb der Gegenwartsliteratur präsentiert. Nun legt er mit „Red Pill“ einen vielschichtigen Roman vor, der nicht von ungefähr auf die Wahl zwischen den Pillen im Science-Fiction-Klassiker „The Matrix“ verweist. 
In seinem neuen Roman schickt Kunzru seinen Protagonisten auf eine wilde Odyssee der Selbstfindung, die von Paranoia, Verschwörungstheorien und medialer Manipulation geprägt wird. Ein amerikanischer Schriftsteller in den mittleren Jahren, seit fünf Jahren mit der Menschenrechtsanwältin Rei verheiratet, mit der er und ihrer gemeinsamen dreijährigen Tochter in Brooklyn lebt, erhält ein dreimonatiges Stipendium für den Aufenthalt der in Berlin Wannsee Kulturstiftung Deuter Zentrum für Sozial- und Kulturforschung. Hier versucht er, nicht nur seine Schreibblockade zu durchbrechen, sondern auch seine Ehe zu retten, die – wie er glaubt - unter seiner mangelnden Inspiration und Produktivität leidet. 
Doch während die Akademie ihrem Gründer, einem ehemaligen Wehrmachtsoffizier, der als vermögender Industrieller das Ziel verfolgte, „das volle Potenzial des individuellen menschlichen Geistes“ zu fördern, Werte wie Offenheit und Transparenz proklamiert, sieht sich der US-Amerikaner gezwungen, in einem Arbeitsraum mit den anderen Stipendiaten zu schreiben und an gemeinsamen Abendessen teilzunehmen. Schließlich gewinnt er den Eindruck, dass sein Zimmer überwacht wird. Statt sich mit der unerwarteten Arbeitssituation zu arrangieren, unternimmt der Schriftsteller lange Spaziergänge in Wannsee, wo einst die Nazis die Vernichtung der Juden beschlossen haben, streamt in seinem Zimmer die Cop-Serie „Blue Lives“, dessen Showrunner er zufällig bei einer Gala anlässlich der Berlinale kennenlernt und der sich für den Stipendiaten als ultrarechter Verschwörer erweist, dessen Ambitionen er beim Durchforsten verschiedener Blogs und Foren zu entschlüsseln versucht. 
Als der Schriftsteller das Deuter-Zentrum verlassen muss, fliegt er jedoch nicht nach Hause, wo sich seine Frau zunehmend Sorgen um seine geistige Verfassung macht, sondern folgt Anton nach Paris und Schottland, fest dazu entschlossen, alles zu tun, um die Sicherheit seiner Familie zu gewährleisten. Denn wenn man Anton seine Pläne verwirklichen lässt, ist sich der Schriftsteller sicher, wird die Welt nicht mehr so sein wie zuvor … 
„Ich glaube, wir haben alle einen Ort, ein geistiges Labor, an dem wir mit Gedanken experimentieren, die zu fremd oder zu zerbrechlich sind, um offen gezeigt zu werden. Ich glaube, dass wir diesen Ort schützen müssen, um uns wie Menschen zu fühlen. Er schrumpft, sein Spielraum wird durch Techniken der Voraussage und Kontrolle eingeschränkt, durch das unheilvolle Gebot der sozialen Medien, Dinge zu teilen.“ (S. 322) 
Vordergründig erzählt Kunzru, der 2016 selbst zu Gast an der American Academy in Berlin Wannsee gewesen und wie sein Protagonist Sohn eines indischen Vaters und einer britischen Mutter ist, die Geschichte eines Mannes, der eine elementare Sinn- und Schaffenskrise zu bewältigen versucht, aber in dem geschichtsträchtigen Deuter-Zentrum schnell sein eigentliches Ziel aus den Augen verliert. Er ist von Heinrich von Kleists Selbstmord ebenso gefesselt wie von der brutalen Cop-Serie „Blue Lives“, wird durch die Bekanntschaft des faszinierenden und undurchschaubaren Anton aber zunehmend aus der Bahn geworfen. 
Kunzru beschreibt auf eindringliche Weise, wie leicht unsere wie selbstverständlich wirkenden liberalen, demokratischen Werte über Bord geworfen werden können. In einem eigenen Abschnitt erzählt der Autor die Geschichte von Monika, der Putzfrau im Deuter-Zentrum, die in der DDR aufgewachsen ist, sich der dortigen Punk-Bewegung angeschlossen hat und schließlich als mutmaßlicher Stasi-Spitzel denunziert wurde. Von den Gräueln des Nazi-Regimes über das Wirken der Stasi-Diktatur bis zu dem Abend, an dem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, entwickelt Kunzru das beunruhigende Bild einer Gesellschaft, in der die Menschen zunehmend bereit sind, sich vorschnell über die sozialen Medien manipulieren und instrumentalisieren zu lassen und so die liberale Werteordnung verraten, um rassistischen und nationalistischen Kräften das Feld zu überlassen. 
Zwar wirkt „Red Pill“ nicht sehr einheitlich in seiner Form, springt Kunzru doch sehr oft bei Ort und Zeit, Ton und Thema hin und her, aber die beunruhigende Botschaft des Romans wirkt lange nach. 

Hari Kunzru – „Götter ohne Menschen“

Dienstag, 3. März 2020

(Liebeskind, 414 S., HC)
Im Jahre 1947 ließ sich der ehemalige Flugzeugingenieur Schmidt in der kalifornischen Mojave-Wüste an einem Ort in der Nähe der drei Felssäulen der Pinnacles nieder, weil er dort mit Wünschelrute und Bodenmessgerät ein Kraftfeld entdeckt hat, eine natürliche Antenne, mit der er Kontakt zu Außerirdischen aufnehmen könnte. Er pachtete das gewünschte Gelände für zwanzig Jahre, kaufte sich einen gebrauchten Airstream-Trailer, entdeckte schließlich eine alte Goldgräberhöhle in den Felsen, legte eine Landepiste für Flugzeuge an und eröffnete ein kleines Café, in dem er Kaffee und Spiegeleier servierte, um nicht nur seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern vor allem seine Botschaft von Liebe und Brüderlichkeit zwischen allen Wesen im Universum zu verbreiten. Tatsächlich entdeckte er eines Abends ein helles Licht über dem Horizont, beobachtete die Landung eines Fahrzeugs und begrüßte zwei menschliche Gestalten in weißen Gewändern.
Elf Jahre später versuchte er die Botschaft des Weltfriedens durch den dort errichteten Ashtar Galactic Command an möglichst viele Menschen zu verbreiten. Bereits 1778 war dort dem Missionar Fray Francisco Hermenegildo Tomás Garcés ein Engel erschienen. Nun machen sich Jaz und Lisa Matharu mit ihrem autistischen Sohn Raj auf dem Weg in diese Wüste, wo sie hoffen, dem stressigen Alltag in New York zu entkommen und ihre Ehe zu kitten hoffen. Dass Jaz als Trader an der Wall Street für den Familienunterhalt aufkam und Lisa sich allein um die Erziehung ihres problematischen Sohnes kümmern musste, hat der Beziehung ebenso wenig gutgetan wie Jaz‘ familiärer Hintergrund. Obwohl er in Baltimore und nicht in Indien aufgewachsen ist, hängen ihm seine Eltern nach wie vor mit den Traditionen und Vorstellungen ihrer Heimat in den Ohren. Doch der Ausflug zu den Felsen endet in einem Fiasko. Nach einem lauten Knall ist Raj plötzlich spurlos verschwunden.
Die Suche nach Raj nimmt die Polizei und die Aufmerksamkeit der Medien voll in Anspruch. Je mehr Zeit vergeht, ohne dass der Junge wieder auftaucht, umso öfter tauchen im Internet Vermutungen auf, dass Jaz und Lisa für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich sind …
„Bald würde von Raj nichts mehr übrig sein als ein paar blanke Zettel an den Pinnwänden des Nationalparks. Wenn der letzte Journalist ihn vergessen hatte, würden Lisa und er ebenfalls verschwinden, ausgelöscht aus dem kollektiven Gedächtnis.“ (S. 351)
Seit seinem Debütroman „The Impressionist“, der 2002 in deutscher Übersetzung als „Die Wandlungen des Pran Nath“ erschien, zählt der britische Journalist („The Guardian“, „Daily Telegraph“, „Wired“) und Romanautor Hari Kunzru zu den interessanteren Stimmen der Gegenwartsliteratur und wurde 2003 sogar von der Literaturzeitschrift „Granta“ unter die zwanzig besten jungen britischen Romanautoren gewählt. Nach seinem Einstand bei Liebeskind mit „White Tears“ legt der Sohn einer Engländerin und eines Inders mit „Götter ohne Menschen“ einen Roman vor, der zwar auf unterschiedlichen Zeitebenen angelegt ist, im Grunde genommen aber über ein 230 Jahre auf einen Ort fokussiert ist, nämlich den Pinnacles-Nationalpark in Kalifornien.
Hier kommt es über all die Jahrzehnte zu ganz unterschiedlichen Ereignissen, die aber allesamt einen mystischen Kontext besitzen. Dem jeweiligen Zeitgeist angemessen kommt es hier zunächst zu göttlichen Erscheinungen, Begegnungen mit Außerirdischen und zu einer sektenähnlichen Verbindung, die ihre eigene Art findet, ihre Botschaft der Liebe und des Weltfriedens zu verbreiten. Anno 2008 ist von diesen Motiven wenig übriggeblieben. Das bekommen Kunzrus Protagonisten Jaz und Lisa besonders deutlich zu spüren, als ihr Sohn unter mysteriösen Umständen verschwindet. An ihrem Schicksal zeigt der Autor wunderschön auf, wie ein solch dramatisches Ereignis nicht mehr mit guten oder bösen Mächten in Verbindung gebracht wird, sondern einfach nur noch als Medienereignis zelebriert wird. Die Rolle wie auch immer gearteter göttlicher Wesen und Mächte haben längst die Foren, Blogs und Tweets im Internet übernommen, wo blitzschnell Meinungen gebildet, verbreitet und letztlich für bare Münze gehalten werden, was letztlich den Erfolg von Donald Trumps Regierungskonzept erklärt.
Doch Kunzru zeigt nicht nur den modernen Umgang mit unerklärlichen Ereignissen auf, sondern skizziert in den weitaus kürzeren Episoden, die sich seit 1778 bis in die jüngere Vergangenheit erstrecken, wie sich das Verhältnis des Menschen zu Gott entwickelt hat, wie sich im Zuge dessen die Strukturen von Selbstbetrachtung, Identität, Meinung, Glaube und Macht verschoben haben. Allerdings enthält sich Kunzru dabei einer Wertung, sondern beschränkt sich darauf, die Zeichen der jeweiligen Zeit in episodenhaften Geschichten zu thematisieren. Dabei gewinnen einzig Jaz und Lisa etwas an Persönlichkeits-Struktur mit Identifikations-Potential.
„Götter ohne Menschen“ überzeugt aber ohnehin weniger durch die Hauptgeschichte um das Schicksal einer Familie, die an dem Verschwinden des Kindes zu zerbrechen droht, sondern als akzentuierte Gegenüberstellung der Entwicklungsgeschichte menschlichen Glaubens.
Leseprobe Hari Kunzru - "Götter ohne Menschen"

Hari Kunzru – „White Tears“

Sonntag, 14. Januar 2018

(Liebeskind, 352 S., HC)
Mit einem unauffällig versteckten Aufnahmegerät und zwei kleinen Mikros in den Ohren macht sich der 25-jährige Seth regelmäßig auf den Weg, Menschen und Orte aufzunehmen, die Welt mit ihren Gewittern, dem Lärm auf den Straßen und in den U-Bahnen festzuhalten, das Knarren eines Schaukelstuhls auf der Veranda und das Zirpen der Grillen in den Bäumen am Abend. Eines Tages beobachtet Seth den Schachspieler PJ am Washington Square Park und nimmt dabei eher zufällig einen Blues-Song auf, den PJs aufgeweckter Gegner vor sich hinsingt.
Als Carter, sein bester und aus wohlhabender Familie stammende Freund und Geschäftspartner, die Aufnahme zu hören bekommt, ist dieser völlig begeistert und bastelt daraus den Song „Graveyard Blues“, den er – von Nebengeräuschen bereinigt und mit uraltem analogen Knistern versehen – dem fiktiven Blues-Sänger Charlie Shaw zuschreibt und der sich um Internet zu einem gesuchten Sammlerstück entwickelt. Der besonders hartnäckige Sammler JumpJim behauptet sogar, dass es Charlie Shaw tatsächlich gegeben habe.
Als Carter von einem Unbekannten ins Koma geprügelt wird, machen sich Seth und Carters attraktive Schwester Leonie auf den Weg in den Süden, um das Geheimnis des unter mysteriösen Umständen verschwundenen Sängers und des einzigen Songs zu lüften, den er je aufgenommen haben soll …
„Der Himmel wird langsam grau, und in diesem grauen Licht komme ich zu der Erkenntnis, dass ich es nie schaffen werde, mich bis zu Charlie Shaw durchzugraben. Was erwarte ich überhaupt? Eine Leiche? Einen lebenden Mann in einem Sarg? Einen Mann, der singt und Gitarre spielt, mit dem ich verhandeln kann, den ich um Gnade bitten kann? Ist es das, wonach ich grabe? Dass ich mein Leben zurückbekomme?“ (S. 295) 
Seit seinem Debütroman „Die Wandlungen des Pran Nath“ (2002) hat sich der britische Journalist und Schriftsteller Hari Kunzru zu einem der interessantesten jungen Autoren der Literaturszene entwickelt. Mit seinem neuen Roman greift er ein überaus aktuelles Thema auf, nämlich die Retromanie, mit der die Hipster der Generation Y ihre eigene Identität dadurch formen, dass sie sich gefällige Artefakte vergangener Epochen zu eigen machen und es als eigene Kreation präsentieren. In Kunzrus bereits fünften Roman „White Tears“ ist es vor allem Carter, der als Spross eines mächtigen Familienclans vor allem eine Leidenschaft für alte Blues-Platten entwickelt hat und sich dadurch eine legitime schwarze Identität zulegen will. Tatsächlich ist es aber sein weitaus weniger coole und wohlhabende Kumpel Seth, der auf seiner Reise in die Vergangenheit die Identität des gesuchten Blues-Musikers Charlie Shaw anzunehmen scheint und dabei seine eigene Persönlichkeit zu verlieren droht.
Kunzru erweist sich vor allem in der ersten Hälfte des Romans als begnadeter Erzähler, der die Stimmungen und Leidenschaften seiner jungen Protagonisten stimmungsvoll einfängt und dabei auch die neurotischen Züge der Sammler wunderbar beschreibt. Der Duktus der Erzählung verändert sich mit der Reise, die Seth in den Süden antritt, mal mit Carters Schwester Leonie, mal mit Chester Bly, Seths Kollegen vom „Herald Tribune“. Mit der Fahrt nach Mississippi verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, Fantasie und Realität, letztlich ganze Identitäten miteinander.
„White Tears“ erweist sich als psychologisch vielschichtiger, atmosphärisch dichter und spannender Road-Trip, der geschickt, rätselhaft und verstörend eine von fehlgeleiterter Leidenschaft geprägte Suche thematisiert, an deren Ende die vollkommene Selbstauflösung steht.
Leseprobe Hari Kunzru - "White Tears"