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Jonas T. Bengtsson – „Auf Bewährung“

Mittwoch, 1. Februar 2023

Jonas T. Bengtsson – „Auf Bewährung“ 
(Heyne Hardcore, 351 S., HC) 
Seit seinem 2005 veröffentlichten Romandebüt „Aminas breve“, das drei Jahre später in deutscher Übersetzung als „Aminas Briefe“ im Tropen Verlag veröffentlicht wurde, hat der dänische Autor Jonas T. Bengtsson eine erstaunliche Karriere hingelegt, wurde nicht nur mit dem Dänischen Debütantenpreis ausgezeichnet, sondern erhielt 2010 auch den Per-Olov-Enquist-Preis. Sein zweiter Roman „Submarino“ wurde vom dänischen Kultregisseur Thomas Vinterberg („Am grünen Rand der Welt“, „Der Rausch“) verfilmt. Nun legt Bengtsson mit „Auf Bewährung“ seinen vierten Roman und damit seinen Einstand im Wilhelm Heyne Verlag vor. 
Der letzte seiner vielen Gewaltausbrüche hat Danny acht Jahre Knast eingebracht. Nun hat ausgerechnet der alternde Kommissar Ivertssen, der für seine Inhaftierung verantwortlich war, dafür gesorgt, dass er zwei Jahre vor seiner eigentlichen Entlassung überraschend auf Bewährung freikommt. Dannys Jugendfreunde Christian und Malik haben ganz andere Karrieren eingeschlagen. Während der hochintelligente Äthiopier Malik ein Zahnmedizinstudium begonnen hat und alles dafür tut, das Restaurant seines Vaters vor dem Ruin zu retten, ist ausgerechnet Christian bei der Polizei gelandet und nimmt mit seinem Partner Thomas den Kampf gegen die Drogendealer auf. 
In Kopenhagen kommt er zunächst in einem Resozialisierungszentrum für Junkies unter und macht sich auf die Suche nach seinen Freunden. Im Restaurant von Maliks Vater erfährt er allerdings, dass Malik seit einigen Tagen verschwunden ist. Maliks Schwester Aisha verspricht er, ihn ausfindig zu machen. In dessen Wohnung stößt er allerdings auf keine nennenswerten Hinweise auf seinen Verbleib, stellt nur fest, dass Malik offensichtlich mit einer Frau zusammen gewesen ist. Malik soll sich allerdings auch 80.000 Kronen von einem rothaarigen Typen namens Erik geliehen haben. Leider weiß nicht mal Christian Näheres. 
Er verschafft Danny erst einmal eine eigene Wohnung und muss die erschütternde Einschätzung verarbeiten, dass das bei einer Versteigerung erstandene Haus, von dem seine Frau so geträumt hat, völlig marode ist. Danny freundet sich mit seiner Nachbarin aus der über ihm liegenden Wohnung an, muss bei seinen weiteren Nachforschungen aber feststellen, dass Malik offensichtlich in einen Bandenkrieg geraten ist… 
„Natürlich hat er sich verändert. Und vielleicht ist dieser Film doch nicht so schnulzig. Er bedient sich einiger billiger Effekte, daran besteht kein Zweifel. Er spielt mit Emotionen. Aber vielleicht ist es doch kein netter, schöner Film, der dem Zuschauer Tränen in die Augen treibt. Malik hat einen Bandenkrieg ausgelöst. Es gab Schießereien, ein paar Leute sind tot. Das waren Kriminelle. Sie hatten eine Wahl getroffen, die der Rest der Welt nicht verstehen kann. Nur die, die ihnen am nächsten standen, werden sie vermissen. Und keiner von ihnen war schlimmer als Danny.“ (S. 300f.) 
Es ist eine ungewöhnliche Freundschaft, die Bengtsson in seinem vierten Roman als Ausgangspunkt für eine triste Milieubeschreibung in einem von Armut, Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum und Kriminalität geprägten Stadtviertel von Kopenhagen nimmt. In einer klaren wie bildreichen Sprache begleitet Bengtsson seine drei Protagonisten durch ihren Alltag, wobei die Malik-Kapitel komplett in der Vergangenheit spielen und den Weg vorzeichnen, der zu seinem Verschwinden führt. 
Ganz nüchtern beschreibt der Autor den wenig erbaulichen Alltag von Danny und Christian, immer wieder liegt Gewalt in der Luft. Sympathieträger und Identifikationsfiguren findet man hier definitiv nicht. Aber Bengtsson enthält sich auch einer Verurteilung, macht den ständig gewaltbereiten Kriminellen Danny zum Ermittler und den Roman zu einem Neo-Noir, der sich für eine Verfilmung durch seinen Landsmann Nicolas Winding Refn („Pusher“, „The Neon Demon“) geradezu anbietet. 
Auch wenn die Geschichte selbst nicht besonders originell ist, funktioniert „Auf Bewährung“ als pointierte Milieustudie und als kurzweiliges, in bedächtigem Tempo inszeniertes Drama über drei Männer, die ungewöhnliche Entwicklungen während ihrer langjährigen Freundschaft durchgemacht haben und sich irgendwie durchzuschlagen versuchen. 

Bella Mackie – „How to kill your family“

Dienstag, 5. Juli 2022

(Heyne Hardcore, 432 S., HC) 
Wie heißt es so schön: Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie nicht! Die britische Journalistin Bella Mackie („Vogue“, „Guardian“) erzählt in ihrem Romandebüt „How to kill your family“ die Geschichte einer Londoner Frau, die sich der kompromisslosen Ausmerzung ihrer Familie verschrieben hat. Als die 28-jährige Grace Bernard erfährt, dass ihre arme Mutter Marie sich wortwörtlich zu Tode schuften musste, weil ihr Vater, der schwerreiche Simon Artemis, die Affäre mit ihrer Mutter verschwiegen hatte und ihr nicht die notwendige Unterstützung beim Aufziehen ihrer gemeinsamen Tochter zukommen ließ, schmiedet sie einen teuflischen Plan: Der gesamte Artemis-Plan soll für das schändliche Ignorieren von Simons Vaterschaft mit dem Tod bezahlen. 
 
Den Anfang macht Grace mit ihren Großeltern Jeremy und Kathleen, die ihren Lebensabend in einer exklusiven Wohngegend in Marbella verbringen. Also fliegt Grace nach Marbella, leiht sich von ihrem Flug-Nachbarn Amir einen protzigen Hummer und rammt damit ihre Großeltern mühelos von der Straße. Während Kathleen beim Aufprall in der Schlucht gleich der Kopf abgetrennt wird, ist Jeremy noch so lange am Leben, dass Grace ihm mitteilen kann, warum er sterben musste. Er hatte nämlich Jeremys Ansinnen, für Maria und Grace zu sorgen, von vornherein abgelehnt. 
Für ihre weiteren Pläne sind allerdings aufwendigere Vorbereitungen nötig. Da treibt sich Grace in Sexclubs herum, um eine Vorrichtung zu installieren, mit dem sie Simons Bruder Lee ins Jenseits befördern kann, und erfährt von einem exotischen Froschsekret, mit dem Lees Sohn Andrew in seiner Funktion als Naturschützer experimentiert. Während sich Grace allmählich durch den Artemis-Clan mordet, wird sie allerdings ausgerechnet für einen Mord angeklagt und verurteilt, den sie nicht begangen hat. Cora, die Verlobte ihres besten Freundes Jimmy, wurde nämlich nicht von Grace von der Balkonbrüstung in die Tiefe geschubst, sondern ist durch eigenes Verschulden zu Tode gekommen. Während sie im Gefängnis von Limehouse auf das Ergebnis ihres Berufungsverfahrens wartet und ihre nervige Zellennachbarin Kelly ertragen muss, lässt Grace ihre Geschichte Revue passieren… 
„Im Verlauf meiner Bemühungen, die Welt von dieser schrecklichen Familie zu erlösen, musste meine Würde einiges einstecken. Das Resultat würde das alles wert sein, da hatte ich keine Zweifel. Aber in Marbella rumhängen, in einem Umweltzentrum Unkraut ausrupfen und jetzt auch noch mit meinem Onkel über Sex reden … das waren echte Herausforderungen.“ (S. 155) 
Eventuell inspiriert von Israel Ranks „Autobiographie eines Serienkillers“, der im edwardianischen England seine Familie aus Rache ermordet hat, schickt Bella Mackie ihre 28-jährige Ich-Erzählerin Grace los, es ihm in der heutigen Zeit nachzutun. Akribisch beschreibt die Protagonistin nicht nur, wie sie die einzelnen Morde an ihren kaum bekannten Familienmitgliedern plant und ausführt, sondern gibt dazu auch sarkastische Kommentare zum Lifestyle neureicher Nichtsnutze, skrupelloser Geschäftemacher und verblödeter Influencer zum Besten. Dabei zeichnet sich allerdings weder eine Spannungskurve noch eine persönliche Entwicklung der nicht unbedingt sympathischen Serienkillerin ab, weshalb die Geschichte von „How to kill your family“ recht schnell ihren Reiz verliert. 
Die ungewöhnlichsten Rollenspiele und Tötungsszenarien sind teilweise recht amüsant zu lesen, aber eine besondere Raffinesse kommt dabei nicht zum Ausdruck, und erst am Ende wird der Story noch eine interessante Perspektive hinzugefügt, die immerhin für einen netten Überraschungseffekt sorgt. Doch insgesamt wird der Inhalt der außerordentlich gelungenen, aufmerksamkeitsheischenden Verpackung nicht gerecht.  

Alan Parks – (Harry McCoy: 3) „Bobby March Forever“

Freitag, 24. Dezember 2021

(Heyne Hardcore, 428 S., Pb.) 
Mit John Niven und Irvine Welsh hat Heyne Hardcore bereits zwei schottische Schriftsteller mit ganz eigener Stimme im Programm, über die ihr Landsmann Alan Parks mit seiner Reihe um den in Glasgow agierenden Cop Harry McCoy auf andere Weise verfügt. Während ihm zwar der derbe Humor seiner berühmten Kollegen abgeht, fesselt er mit atmosphärisch stimmigen und fesselnden Krimis. Nach „Blutiger Januar“ und „Tod im Februar“ folgt mit „Bobby March Forever“ nun der dritte Teil in der McCoy-Reihe. 
Für den damals 17-jährigen Bobby March ging ein Traum in Erfüllung, als er mit seiner Band The Beatkickers und ihrem Manager Tom im Februar 1964 im Zug nach London saß, um bei dem berühmten Parlophone-Label eine Aufnahmesession zu absolvieren. Knapp zehn Jahre später hat Bobby vor allem als Gitarrist Karriere gemacht und wurde sogar von den Rolling Stones gebucht. Doch nun wird seine Leiche mit einer Nadel im Arm in seinem Hotelzimmer in Glasgow entdeckt. Für Detective Harry McCoy von der Glasgower Police Force scheint der Fall schnell geklärt: Überdosis. Doch als er mit Bobbys heruntergekommenen Vater redet, erwähnt dieser eine beige Tasche, die sein Sohn immer in seiner Nähe hatte, doch im Hotelzimmer war sie nicht aufzufinden. 
McCoy hat aber dringendere Aufgaben zu erledigen. So wird seit fünfzehn Stunden die dreizehnjährige Alice Kelly vermisst, und der korrupte wie geschniegelte Detective Inspector Bernard „Bernie“ Raeburn schickt seinen verhassten ehemaligen Partner McCoy zunächst von Tür zu Tür für die Befragungen der Nachbarn, dann schanzt er ihm eine Reihe von ungelösten Raubüberfällen zu, nur damit er aus seinem Umfeld verschwindet. Als hätte der dreißigjährige Cop nicht schon genug zu tun, bekommt er von seinem ehemaligen Vorgesetzten Chief Inspector Hector Murray den inoffiziellen Auftrag, dessen fünfzehnjährige Nichte Laura wieder nach Hause zurückzubringen, nachdem sie offensichtlich mit dem berüchtigten Donny MacRae durchgebrannt ist. 
Als Raeburn einen psychisch labilen Jungen für den mutmaßlichen Mord an Alice einem brutalen Verhör unterzieht, kommt es zur Katastrophe, worauf Raeburn seinen Hass gegenüber McCoy offen auslebt. Der versucht mit Raeburns Partner Douglas „Wattie“ Watson Licht in die verschiedenen Fälle zu bekommen, wobei sich ihre Wege mit McCoys früheren Kumpel Steven Cooper kreuzen, der mit seinen Handlangern Billy Weir und Jumbo Mühe hat, die Zügel in Glasgows Unterwelt in der Hand zu behalten, ist er doch selbst von dem Stoff abhängig geworden, den er vertickt. Als McCoy zu einer Beerdigung nach Belfast fährt, gerät er auch noch mitten in die Konflikte mit der IRA. Aber auch wieder zurück in Glasgow erlebt McCoy einige böse Überraschungen … 
„Was ihn betraf, so hatte der einzige Mensch, dem er vertraute, gerade die Grenze überschritten. Und wenn dieser Mensch die Grenze überschritten hatte, dann war die Schlacht verloren. Dann konnte er genauso gut auch aufgeben. Wenn Murray die Grenze überschritten hatte, dann würde die Polizei bald nur noch aus Raeburns bestehen. Ignoranten Arschlöchern, die ihre Macht ausspielten, in die eigene Tasche wirtschafteten, das Gesetz auslegten, wie es ihnen am besten in den Kram passte. Und damit wollte er nichts zu tun haben.“ (S. 394) 
Offensichtlich plant Parks, mit seiner Reihe um Harry McCoy jeden Monat des Jahres abzudecken. Dabei trägt sein dritter Band den März nur im Namen des viel zu früh verstorbenen Rockstars, dessen Karriere Parks immer wieder in kurzen Rückblenden Revue passieren lässt. Hier demonstriert Parks ein ähnlich ausgeprägtes Gespür für Rockmusik und das Umfeld, in dem sie entsteht, wie er die Atmosphäre im an allen Ecken und Enden abgefuckten Glasgow wunderbar einzufangen versteht. Es ist allerdings eine dreckige Welt, in der Gewalt, Folter, Korruption, Entführungen, Überfälle, Drogenmissbrauch, Erpressung und Drohungen den Alltag bestimmen. Selbst McCoy muss einiges an Prügeln über sich ergehen lassen, schlägt aber auch mal zu, wenn es die Situation erfordert. 
McCoy bleibt kaum etwas anderes übrig, die Pubs abzuklappern und seine Kontakte zur Glasgower Unterwelt aufzufrischen, um all die vertrackten Fälle zu lösen, die ihm Raeburn auf den Tisch geknallt hat. Parks gelingt das Kunststück, durch die geschickte Verknüpfung der Spuren, die sein sympathischer Protagonist in den verschiedenen Fällen verfolgt, ein hohes Tempo beizubehalten und sukzessive die Spannung zu erhöhen. Dabei nimmt sich der Autor aber auch die Zeit, seine Figuren und die Umgebung, in der sie leben und arbeiten, so lebendig zu beschreiben, als wäre sein Roman ein Drehbuch für das Kino im Kopf des Lesers. Vor allem die authentisch wirkenden Dialoge und die Schilderung der Musik- und Pubszene machen „Bobby March Forever“ zu einem stimmungsvollen Pageturner, bei dem am Ende vielleicht etwas zu konstruiert alle Fälle gelöst werden. Auf jeden Fall hat Alan Parks mit Harry McCoy einen charismatischen, lebensecht wirkenden Cop geschaffen, der uns hoffentlich noch lange begleiten wird.  

William Lindsay Gresham – „Nightmare Alley“

Mittwoch, 15. Dezember 2021

(Heyne, 510 S., Pb.) 
Gleich mit seinem ersten, 1946 veröffentlichten Buch „Nightmare Alley“ wurde William Lindsay Gresham (1909-1962) weltberühmt, erwarb Hollywood doch für 60.000 $ die Filmrechte und machte 1951 unter dem deutschen Verleihtitel „Der Scharlatan“ mit Tyrone Power in der Hauptrolle einen Film daraus. An diesen Erfolg konnte Gresham Zeit seines Lebens nicht mehr anknüpfen. Zwar schrieb er anschließend noch vorwiegend non-fiktionale Bücher wie „Monster Midway: An Uninhibited Look at the Glittering World of the Carny“ (1954), „Houdini: The Man Who Walked Through Walls“ (1959) und „The Book of Strength: Body Building the Safe, Correct Way“ (1961), doch setzte er seinem Leben 1962 mit einer Überdosis Schlaftabletten vorzeitig ein Ende. 
Es ist Guillermo del Toro („Hellboy“, „Shape of Water“) zu verdanken, diesen Klassiker der amerikanischen Literatur wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückgeholt zu haben. Am 22.01.22 startet seine Neuverfilmung mit Bradley Cooper, Cate Blanchett und Toni Colette in den Hauptrollen in den deutschen Kinos, der Roman zum Film erschien nun einer Neuauflage bei Heyne Hardcore. 
In der Wanderzirkustruppe Ten-o-One präsentiert Clem Hoatley vor allem abnorme menschliche Kreaturen, die als sogenannte Geeks zum Gespött des Publikums werden, aber auch sein Interesse und seine Sensationslust ansprechen, z.B. mit Herculo den perfektesten Mann der Welt, mit Major Mosquito den kleinsten je gemessenen Menschen und mit Joe Plasky einen Halbmensch-Akrobaten. Stan Carlisle beginnt als Hellseher in der Show, wickelt das Publikum mit kleinen Tricks um den Finger und fängt eine Affäre mit der Wahrsagerin Zeena an, die mit dem alkoholkranken Pete verheiratet ist und bei der Stan als Assistent aushilft. Nachdem Stan Pete versehentlich mit Spiritus umgebracht hat (eigentlich wollte er ihm nur seinen ersehnten Alkohol besorgen), rückt Stan zu Zeenas Partner in ihrer Nummer auf und erfährt dabei, dass ihm größere Möglichkeiten offenstehen. 
Er macht sich mit der ebenfalls im Zirkus engagierten 15-jährigen Molly in die Stadt davon und beginnt dort erfolgreich, mit Mollys Hilfe die Reichen der Stadt auszunehmen, indem er als Spiritist Kontakt zu ihren geliebten Menschen im Jenseits aufnimmt. Als er dem anhänglichen Mädchen überdrüssig wird, hält sich Stan an die Psychologin Lilith Ritter, die allerdings gerissener ist, als Stan es für möglich gehalten hat. Als er den skeptischen Industriellen Grindle von seinen Fähigkeiten überzeugt hat, scheint nun das große Geld zu winken, doch dann beginnen die Dinge schiefzulaufen … 
„In Stanton Carlisle machte sich eine Angst ohne Gestalt oder Namen breit. Der Tod und Geschichten über das Sterben oder Brutalität gingen ihm unter die Haut wie Zecken und lösten Infektionen aus, die sich durch seinen Körper bis ins Gehirn vorarbeiteten und an ihm nagten.“ (S. 464) 
Im Alter von 29 Jahren wartete William Lindsay Gresham nach seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg auf seine Heimkehr in die Vereinigten Staaten, als er in einem Dorf nahe Valencia von die Geschichte eines Mannes erzählt bekam, der sogar die Köpfe von Hühnern und Schlangen abbiss, um an den ersehnten Alkohol zu kommen. 
Die Geschichte faszinierte den jungen Mann so sehr, dass er sie selbst in seinem ersten Roman verarbeitete. Dabei kam nicht nur seine Faszination für die Welt der Jahrmärkte und ihrer bunten Welt der Verführung und Täuschung zum Ausdruck, sondern auch sein Interesse an der Psychoanalyse, von der er hoffte, dass sie ihn von seinen inneren Dämonen befreien würde. Genau so wirkt „Nightmare Alley“ schließlich auch. Gresham beschreibt eindringlich die Atmosphäre, wie sie in den sensationsheischenden Jahrmärkten im 19. Jahrhundert herrschte, vor allem auch die Faszination, wie sein Protagonist immer deutlicher wahrnimmt, mit welchem Talent er gesegnet ist und wie er dieses gewinnbringend einsetzen kann. Es ist der altbekannte amerikanische Traum vom großen Glück, der Stan Carlisle seine Trickkiste auspacken lässt, wobei er immer skrupelloser vorgeht, um an das Vermögen seiner Klienten zu gelangen. Geschickt tarnt er seine Aktivitäten unter dem Deckmantel einer religiösen Vereinigung, gräbt besonders vertrauliche Informationen aus dem Lebenslauf seiner Opfer aus und überzeugt sie schließlich mit spektakulären Darbietungen, die jeden Zweifel an seiner Redlichkeit ausräumen. Allerdings wird er dabei von einem übersteigerten Ehrgeiz angetrieben, dass er nicht das größere Unheil wahrnimmt, das ihn in den Abgrund stürzt. 
Es kommt nicht von ungefähr, dass Gresham eine Psychologin ebenfalls in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt, war der Autor doch selbst von Persönlichkeiten wie Freud und Ouspensky fasziniert, benennt die Kapitel in seinem Roman nach der Großen Arkana im Tarot. Gresham gelingt es, die bewegende Odyssee seines Protagonisten mit einer lebendigen Sprache und einem guten Gespür für Atmosphäre, Tempo und Charakterisierungen zu schildern. Zum Finale hin schleichen sich zwar auch einige Längen ein, aber „Nightmare Alley“ stellt ein faszinierendes Werk dar, das Grand Guignol mit der Noir-Tradition ebenso verbindet wie mit Tod Brownings „Freaks“ und Ray Bradburys „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“

 

David Pfeifer – „Patong“

Mittwoch, 2. Juni 2021

(Heyne Hardcore, 350 S., Pb.) 
Mit „Schlag weiter, Herz“ präsentierte der 1970 in Österreich geborene, in München aufgewachsene und dann nach Hamburg umgezogene Journalist und Autor David Pfeifer („Tempo“, „Stern“, „Vanity Fair“, „Süddeutsche Zeitung“) 2013 bei Heyne Hardcore sein Romandebüt, das dort nun um ein Vorwort von Bela B Felsenheimer (Die Ärzte) ergänzt unter dem Titel „Patong“ neu aufgelegt worden ist. 
Der in Thailand auf der Touristeninsel Phuket als Thaiboxer lebende Deutschtürke Mert Schulz erinnert sich an die schwierige Beziehung mit der Liebe seines Lebens, die er im Bus der Hamburger Boxauswahl kennengelernt hat, die auf dem Weg nach Schwerin zu einem Vergleichskampf gegen die Ukraine unterwegs gewesen ist. Nadja ist die Schwester von Felix Borau und fasziniert den 182 Zentimeter großen Schwergewichtler augenblicklich, doch er trifft sie erst im folgenden Herbst bei den Vorentscheidungen zur Hamburger Meisterschaft wieder, als er sich in Halbschwergewicht gehungert hat und nun gegen Nadjas Bruder antreten muss. 
Sie kommen über das Buch, Patrick Süskinds „Das Parfum“, das Nadja damals im Bus gelesen hatte, ins Gespräch, verabreden sich fürs Kino, halten bei „Braveheart“ schließlich Händchen. Sie beendet die Beziehung zum Versicherungskaufmann Holger und lässt sich auf eine Beziehung mit Mert ein, doch das Zusammenleben in der gemeinsamen Wohnung gestaltet sich schwierig. Während Mert darauf hinarbeitet, Profikämpfe zu boxen, damit er den Türsteher-Job im Hamburger Eck aufzugeben und das große Geld zu verdienen, etwas von der Welt zu sehen, versteht sich Nadja kaum selbst, liegt nachts oft wach und sieht sich außerstande, das zu artikulieren, was sie bewegt. Mert rutscht durch seinen Kumpel Stefan in die zwielichtige Welt der Kokser ab, versucht die zwischenzeitliche Trennung von Nadja durch besonders häufig wechselnde Sex-Kontakte zu kompensieren, nur um frustriert festzustellen, wie sehr sie ihm fehlt. 
„Sie hatten Zeit verschwendet, die sie nie wiederbekommen würden, und litten an einem Verlustschmerz, den sie nur mit Nähe lindern konnten. Mit der andauernden Versicherung, dass der andere da war. Sie klammerten sich aneinander, als würde einer von ihnen untergehen, wenn sie den Griff lockerten.“ (S. 255) 
Wie sehr David Pfeifer dem Boxsport verbunden ist, lässt der in Bangkok lebende Süd-Ost-Asien-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in „Patong“ früh heraushängen. Ausführlich schildert der Autor den Werdegang von Mert Schulz und Felix Borau, beschreibt akkurat die Trainingsabläufe, Taktiken, Kämpfe und die anschließende Erholung von den Verletzungen, so dass Leser, die so gar nichts mit dem Boxen anfangen können, Schwierigkeiten haben werden, dazwischen Interesse an der vertrackten Liebesgeschichte von Mert und Nadja zu entwickeln und am Ball zu bleiben. 
Pfeifer gelingt es allerdings recht gut, die Waage zwischen den Wettkämpfen und den Beziehungsquerelen zu halten, auch wenn nie so recht deutlich wird, warum der Boxer und die in sich gekehrte Leserin weder mit- noch ohneeinander können und Mert schließlich nach Thailand auswandern muss (nun gut, hier spielen auch seine halbkriminellen Aktivitäten für Stefan mit den Albanern eine Rolle). Auch wenn „Patong“ kein großer Sport-Roman ist und auch keine besonders originelle Liebesgeschichte präsentiert, liest sich der Roman flüssig weg. Pfeifer ist dabei vor allem die Darstellung des Boxer-Milieus großartig gelungen, was sich auch auf die Glaubwürdigkeit der männlichen Figuren überträgt. Nadja bleibt dagegen – wie ihre Schönheit - schwer zu fassen, weil ihre offenbar von Depression geprägten Gefühle und Gedanken längst nicht so deutlich artikuliert werden wie Merts. David Pfeifer macht diese Undeutlichkeit allerdings durch ein rasantes Erzähltempo, Zeitsprünge und eine klare, fesselnde Sprache wieder wett.  

Tom Franklin & Beth Ann Fennelly – „Das Meer von Mississippi“

Samstag, 29. Mai 2021

(Heyne Hardcore, 384 S., HC)  
Tom Franklin ist hierzulande vor allem durch die in Frank Nowatzkis Verlag Pulp Master erschienen Werke „Wilderer“, „Smonk“ und das mit dem Deutschen Krimipreis 2019 ausgezeichnete „Krumme Type, krumme Type“ bekannt geworden, hat aber schon lange zuvor im Heyne Verlag 2005 seinen Roman „Die Gefürchteten“ veröffentlicht. Zusammen mit seiner Frau Beth Ann Fennelly, Autorin eines Sachbuchs und dreier Gedichtbände, legt er nun „Das Meer von Mississippi“ einen Roman vor, der vor dem realen Hintergrund einer fast vergessenen Naturkatastrophe aus dem Jahr 1927 eine temporeiche Abenteuer-, Krimi- und Liebesgeschichte erzählt. 
Damals ließ der titelgebende Mississippi mit einem Pegel von über sechzehn Metern etliche Dämme im gleichnamigen Bundesstaat brechen und überflutete siebzigtausend Quadratkilometer Hinterland. Im April 1927 werden die beiden Prohibitionsagenten Ham Johnson und Ted Ingersoll von ihrem ambitionierten Chef Herbert Hoover nach Hobnob Landing geschickt, wo sie zum einen die beiden seit zwei Wochen verschwundenen Kollegen Little und Wilkinson auffinden und zum anderen die dort ansässigen Schwarzbrenner entlarven. Getarnt als Ingenieure erschleichen sie sich das Vertrauen einiger Ortsansässiger und stellen schnell fest, dass Jess Holliver mehr als alle Offiziellen das Sagen in der Kleinstadt hat. Während Ingersoll das Baby von getöteten Plünderern in die Hände von Hollivers zweiundzwanzigjähriger Frau Dixie Clay übergeben will, die ihr eigenes Baby verloren hatte, bietet Johnson seine Unterstützung bei der Bewachung des Damms an, nachdem bekannt geworden ist, dass Saboteure sechsunddreißig Stangen Dynamik aus Armeebeständen entwendet haben. 
Die Dinge geraten außer Kontrolle, als sich Ingersoll und Dixie Clay ineinander verlieben und der Prohibitionsagent erfährt, dass Dixie und nicht wie vermutet ihr Mann die Destille führt, in der der beliebte Black Lightning Whiskey gebrannt wird. Johnson tötet einen der Saboteure lässt dessen Partner aber in einem Boot fliehen. Als Jesse Wind davon bekommt, dass seine Frau ihn offensichtlich mit einem anderen Mann betrügt, rastet er völlig aus und entführt mit seiner Geliebten Jeanette das Baby, das Dixie Clay so schnell in ihr Herz geschlossen hat. Für Ingersoll und Dixie Clay beginnt nun eine lebensgefährliche Odyssee über das überflutete Mississippi-Delta, auf der Suche nach dem Baby ebenso wie nach Ingersolls Partner … 
„(…) Ham war vielleicht tot. Ingersoll glaubte nicht daran, er war überzeugt, dass er es gespürt hätte – sicherlich würde die Welt sich anders anfühlen, irgendwie verarmt, wenn Ham Johnson nicht mehr darin lebte -, aber so oder so würde er diesen Ort nicht verlassen, ohne seinen Partner gefunden zu haben.“ (S. 360) 
Franklin und Fennelly haben für ihre Geschichte einen realen dramatischen Hintergrund aufgegriffen, dessen Flut die Handlung und die darin verwickelten Figuren unbarmherzig mit sich reißt und vorantreibt. In seiner eineinhalbseitigen Vorbemerkung fasst das Autorenduo kurz die erschütternden Fakten der Mississippi-Katastrophe von 1927 zusammen, bei der über dreihundertdreißigtausend Menschen von Dächern, Bäumen und Deichen gerettet werden mussten. Tatsächlich wird das Schriftstellerpaar seinem selbstgesteckten Anspruch mehr als gerecht, diese schreckliche Episode der amerikanischen Geschichte wieder ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen, da es eindringlich die bedrückende Atmosphäre in Worte fasst, in der die Dämme brachen und die schlammigen, riesigen Wassermengen des Mississippi den meist armen Menschen ihr Zuhause und ihre wenigen Habseligkeiten weggerissen haben. 
In diesem hochdramatischen Rahmen wirkt die eigentliche Geschichte fast schon nebensächlich. Franklin und Fennelly fokussieren sich von Beginn an auf wenige Figuren, deren Persönlichkeit sich zunächst in Rückblenden offenbart wird, wie Jesse Holliver als Pelzhändler die erst dreizehnjährige Dixie Clay kennengelernt und drei Jahre darauf gewartet hat, sie zu heiraten. Nun, mit zweiundzwanzig, hat die junge Frau die Destille ihre Mannes übernommen, während Jesse dafür sorgt, dass der Alkohol unter die Leute kommt. Und von den beiden Prohibitionsagenten erfahren wir, dass sie sich auf den Schlachtfeldern in Frankreich während des Ersten Weltkriegs kennengelernt haben und zu Freunden wurden. 
Doch obwohl das Figurenensemble sehr überschaubar bleibt, versäumen es die Autoren, ihren Protagonisten Tiefe zu verleihen. Stattdessen wirken sowohl Jesse mit seinen unterschiedlich farbigen Augen und seinen Temperamentsausbrüchen mit seiner schlampigen Geliebten ebenso wie Klischees wie Dixie Clay als junge Frau, der das Schicksal übel mitgespielt hat und nun eine zweite Chance erhält. Mit dem Zusammentreffen von Dixie Clay und Ingersoll entfaltet sich die Geschichte in absolut vorhersehbaren Bahnen ohne echte Überraschungsmomente. Selbst die Liebesszenen zwischen Dixie Clay und Ingersoll fehlt es an Inspiration. 
Auf der anderen Seite machen Franklin und Fennelly diese Schwächen durch die jederzeit stimmige Southern-Noir-Atmosphäre wett, die die Leserschaft von Beginn an in den Bann zieht. Eindringlich beschreiben sie, wie die Flutkatastrophe das Leben und die Lebensgrundlagen hunderttausender Menschen bedroht und zerstört hat. Damit bewegen sie sich durchaus in den Gefilden von gefeierten Kollegen wie Joe R. Lansdale und James Lee Burke.  

John Niven – „Die F*ck-It-Liste“

Dienstag, 13. Oktober 2020

(Heyne Hardcore, 320 S., HC) 
Amerika im Jahr 2026 ist fest in der Hand des Trump-Clans. Donald Trump hat zwei Amtsperioden durchregiert und durch einen geschickten Kniff seine Tochter Ivanka erst als Vizepräsidentin installiert und anschließend dafür gesorgt, dass seine Anhänger auch sie zur Präsidentin machen. Die USA haben mittlerweile die Ölreserven im Iran geplündert und Nordkorea in einer postnukleare Wüstenlandschaft verwandelt. Der NRA-Vorsitzende Beckerman hatte als Trumps neuer Mann für Waffenfragen ein Gesetz durchgebracht, das das offene Tragen von Schusswaffen überall in den USA erlaubt. 
Frank Brill, der sechzigjährige ehemaliger Chefredakteur der „Schilling Gazette“ in der 32.000-Einwohner-Stadt Schilling, Indiana, bekommt die fatale Diagnose, mit seinem Darmkrebs im Endstadium nur noch wenige Monate leben zu dürfen. Etwaige Möglichkeiten zur Behandlung interessieren ihn nicht, da es auch keine Verwandten gibt, die etwas von seinem leicht verlängerten Leben etwas haben könnten. Dafür hat Frank aber eine F*ck-It-Liste mit fünf Namen erstellt, die er persönlich auslöschen will, da sie für schmachvolle Erfahrungen in seinem Leben verantwortlich gewesen sind. Dazu zählt nicht nur der tragische Tod seines Highschool-Freundes Robbie, der sich im Alter von 28 Jahren umgebracht hatte, nachdem er von seinem Coach Hauser missbraucht worden war, sondern auch die Tatsache, dass seine Tochter an den Folgen einer illegalen Abtreibung gestorben war und seine erste Frau Grace, nachdem Frank sie mit Cheryl betrogen hatte, an einen Zahnarzt geraten war, der sie um all ihr Hab und Gut brachte. Es ist in diesen Zeiten überhaupt nicht schwierig, an Waffen zu kommen. 
Franks dritte Frau Pippa und ihr gemeinsamer Sohn Adam sind 2017 bei einem Amoklauf an der Grundschule in Schilling ums Leben gekommen. Es gibt für Frank also einige Rechnungen zu begleichen. Er fängt bei den ganz persönlichen Feinden an und wendet sich schließlich auch schwieriger zu erledigenden politischen Verantwortlichen zu … 
„Ihm war übel von dieser endlosen Gülleflut, die er sich zeit seines Lebens auf amerikanischen Golfplätzen anhören musste. Von all dem Dreck, den er dort selbst zum Besten gegeben hatte. America first … beschissene UNO … schaut euch doch an, was Putin für sein Land getan hat, die wischten sich die Ärsche mit der nackten Hand ab … verdammte Demokraten … ein bisschen globale Erwärmung tut uns ganz gut … was diese Menschen wollen, ist ein Holocaust am ungeborenen Leben.“ (S. 224) 
Der schottische Autor John Niven hat sich mit Romanen wie „Gott bewahre“, „Coma“, „Kill 'em all“ und „Alte Freunde“ in den Olymp der zeitgenössischen Literatur geschrieben. Mit seinem angriffslustigen Ton wendet er sich in seinem neuen Roman „Die F*ck-It-Liste“ einem erschreckend aktuellen und zunehmend globaleren Problem zu, nämlich der Art und Weise, wie Donald Trump als Präsident der mächtigsten Nation der Welt die Demokratie systematisch zersetzt. Um das zu veranschaulichen, hat Niven das Geschehen seines Romans in die nahe Zukunft verlegt, um eine gar nicht so unrealistische Vision davon zu entwickeln, wie sich Trumps Gebaren vor allem auf das gesellschaftliche Leben in den USA auswirkt. Das bedeutet konkret den Ausbau der „Mauer“, die Abschaffung der Pressefreiheit, weitreichende Kompetenzen bei der Verfolgung illegaler Einwanderer, rigorose Strafen bei illegalen Abtreibungen und die Erlaubnis, auch schwere Waffen besitzen zu dürfen. Da Amokläufe und Massaker nahezu an der Tagesordnung sind, fallen Franks Morde kaum ins Gewicht. Niven verknüpft eine sehr persönliche Rachemission à la „Kill Bill“ mit einer düsteren Zukunftsvision, die viel zu schnell bittere Realität werden könnte. Was die Story dabei so interessant macht, dass Nivens Protagonist – obgleich er es als langjähriger Zeitungsjournalist hätte besser wissen müssen – selbst Trump gewählt hat, aber aus dem Denkzettel, den er – wie viele Millionen anderer US-Bürger auch – der etablierten Politiker-Klasse verpassen wollte, ist ein zunehmend außer Kontrolle geratener Boomerang geworden. Doch im Gegensatz zu Frank Brill haben die meisten seiner Mitmenschen ihren fatalen Irrtum nicht eingesehen, und nun steuert das Land auf eine Art Polizeistaat zu, der immer mehr persönliche Rechte beschneidet. 
Es wäre zu wünschen, dass „Die F*ck-It-Liste“ zur Standard-Lektüre an US-amerikanischen Schulen wird, doch mag man angesichts der aktuellen Entwicklungen und der nach wie vor ungebrochen großen Unterstützung, die Trumps Politik bei seinen Anhängern erfährt, auch als Optimist nicht mehr so recht an eine Rückbesinnung zu den uramerikanischen Werten von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit glauben. „Die F*ck-It-Liste“ ist fraglos Nivens kompromisslosestes Werk, an dessen satirischem Ton man sich als Leser fast verschluckt, so beängstigend real wirken die hier aufgezeigten Szenarien. 

Alexander Kühne – „Kummer im Westen“

Donnerstag, 1. Oktober 2020

(Heyne Hardcore, 350 S., Pb.) 
Anton Kummers Traum, am Rande des Spreewaldes in seinem Heimatdorf Düsterbusch einen Szene-Club nach Vorbild westlicher Metropolen zu etablieren, endete im Krankenhaus. Am 11. November 1989, zwei Tage nach dem Fall der Mauer, hat Kummer das Berliner Krankenhaus mit einer krassen Narbe auf dem deformierten Schädel verlassen und sucht seine alte Freundin Rita in der Lychener Straße auf. Doch statt der superheißen Braut in Stilettos, Netzstrumpfhosen und mit schwarzen Pflasterstreifen auf den Brustwarzen, die Kummer in Erinnerung hat, erwartet ihn ein weiblicher Yeti mit verfilzten Haaren und in viel zu großen Cargohosen. 
Als Kummer am nächsten Morgen im Westen Berlins in der Schlange vor der Sparkasse steht, um sein Begrüßungsgeld zu empfangen, lernt er die hübsche Halbrussin Irina aus Kirchhausen kennen, die sogar einmal in seinem Club „Helden des Fortschritts“ gewesen ist. Davon abgesehen fällt der erste Besuch im Westen ernüchternd aus. Zwar ersteht Kummer wie erhofft einige schöne Platten, aber zwölf Mark für einen Southern Comfort in dem Club, in dem er Nirvana live erleben darf, drücken schon etwas aufs Gemüt. Irina verliert er zunächst aus den Augen, doch schließlich kommt Kummer zum Zug, steht aber nach seiner Kündigung durch VEB Kulturwaren vor der Herausforderung, seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, zumal unklar ist, ob seine kränkelnde Mutter ihre Rente bekommt und sein Vater nach der Auflösung der Firma, die Scheibenwischer für Wartburgs hergestellt hat, mit einem Wessi die Firma neu aufstellen kann oder in Frührente geht. 
Während Kummers alte Weggefährten den Club wieder mit Ossi-Charme wiederbeleben wollen, zieht er selbst das scheinbar große Los und wird Plattenvertreter für das in Minden ansässige Label Rock-Juwelen, dessen minderwertige Bootlegs auf farbigem Vinyl Kummer im Osten vertreiben soll. Das Interesse ist überraschend groß. Die Bestellungen in höheren Tausenderbereichen veranlassen Kummer zu ungeahnten Höhenflügen. Zwar ist seine Fahrerlaubnis noch für etliche Monate weg, trotzdem kauft er sich für 8000 Mark ein BMW-Cabrio. Doch der zunächst so traumhafte Job erweist sich schnell als Katastrophe, und auch die Beziehung zu Irina gerät in starke Schieflage. Kummer sehnt sich in seine Heimat zurück … 
„Eine heile Welt lag vor uns, mit Tchibo, Karstadt und Kochlöffel. Aber war diese Welt aus der Ferne, von einer Mauer getrennt, nicht viel interessanter gewesen? Ich spürte kurz eine gewisse Fremdheit gegenüber dieser Perfektion und hatte Sehnsucht nach dem, was ich kannte, obwohl ich die Zone eigentlich hasste wie die Pest. Ich verzehrte mich nach Baggerseen und den Liedern von Veronika Fischer, nach verkommenen Hausecken und wilden Müllkippen, nach Stille und dem DDR-Gefühl der Siebziger, irgendwie in Watte gepackt zu sein.“ (S. 168) 
Der in Meißen geborene und in Brandenburg aufgewachsene Fernsehjournalist Alexander Kühne hat mit seinem Debütroman „Düsterbusch City Lights“ (2016) wunderbar authentisch die Träume seines Protagonisten Anton Kummer beschrieben, innerhalb des politischen Systems der DDR einen Hauch von West-Feeling und Freiheit in der Dorfkneipe zu erzeugen, doch endete diese Utopie mit mehr als nur Kopfschmerzen. Sein Fortsetzungsroman „Kummer im Westen“ setzt kurz nach der Wiedervereinigung ein und beschreibt die (oft schnell begrabenen) Hoffnungen und Träume der ehemaligen DDR-Bürger, all die Privilegien genießen zu können, von denen die Menschen in der Ostzone immer geträumt haben. Doch mit dem Fall der Mauer kommt vor allem Unsicherheit ins Spiel. Am Schicksal seiner Eltern erlebt Kummer hautnah, dass die Menschen massenhaft von Arbeitslosigkeit bedroht sind, nachdem die Ost-Betriebe mangels Bedarf die Produktion einstellen mussten. Kühne beschreibt die Atmosphäre der deutschen Wiedervereinigung gekonnt als eine Konfrontation von ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen. Kummer muss schnell einsehen, dass im Westen längst nicht alles Gold ist, was glänzt, begegnet Vorurteilen und Herablassung, muss schließlich auch seinen Traum von Vertreter für Rock-Musikplatten begraben. 
„Kummer im Westen“ gefällt neben der wunderbar beobachteten und dargestellten Atmosphäre von Erwartung und Enttäuschung im Zuge des Mauerfalls vor allem durch die vielschichtigen, glaubwürdig gezeichneten Figuren und den komplizierten Beziehungen zwischen ihnen, wobei Humor und Tragik, Freude und Trauer entspannt die Waage halten. Der rührende Schluss lässt hoffen, dass Kühne uns weiterhin mit Anton Kummers turbulenten Überlebensstrategien im Spannungsfeld zwischen Ost und West unterhält. 

Jon Savage – „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere – Die Geschichte von Joy Division“

Sonntag, 26. April 2020

(Heyne Hardcore, 384 S., HC)
Die 1976 von Peter Hook, Bernard Sumner und Terry Mason gegründete und dann von Sänger Ian Curtis vervollständigte Band Joy Division nahm bis zu Ian Curtis‘ tragischen Selbstmord am 18. Mai 1980 zwar nur zwei Alben auf, doch avancierte sie nicht zuletzt durch die energiegeladenen Konzerte zum Aushängeschild eines Genres, das die Attitüde und Wildheit des Punk Rock zu den melodischeren Gefilden des Dark Wave und Gothic Rock überführte. Bekanntermaßen führten Bernard Sumner, der Ian Curtis als Sänger ersetzte, Bassist Peter Hook, Drummer Stephen Morris und Keyboarder Gillian Gilbert als New Order erfolgreich das Erbe von Joy Division fort, doch war die Geschichte von Joy Division seither immer wieder Thema für ausführliche Artikel, ganze Bücher und sogar Filme.
So sind nicht nur die Songtexte und Notizen von Ian Curtis („So This Is Permanence. Joy Division Lyrics and Notebooks“) und Erinnerungen seiner Frau Deborah Curtis („Touching From a Distance – Ian Curtis & Joy Division“), sondern auch verschiedene Bücher der Band-Mitglieder und -Involvierten Peter Hook („Unknown Pleasures: Inside Joy Division“), Paul Morley (Joy Division: Piece by Piece“) und Bernard Sumner („Chapter and Verse: New Order, Joy Division and Me“) veröffentlicht worden. Der bekannte britische Publizist Jon Savage, der bereits Bücher über The Kinks, die Sex Pistols und den Punk Rock geschrieben hat und zuletzt „Teenage: The Creation of Youth Culture“ (2007) veröffentlichte, wählte für sein neues Buch über Joy Division einen besonders interessanten Ansatz und lässt in „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ vor allem Zeitzeugen die Geschichte von Joy Division in chronologisch strukturierten Zitaten erzählen.
Als Grundlage dienten dem Autor vor allem die Interviews, die Grant Gee und er selbst für den 2016 entstandenen Dokumentarfilm „Joy Division“ führten, ergänzt durch Gespräche, die u.a. für einen Artikel im „Mojo“ (1994) und zu Savages Buch „England’s Dreaming“ aufgenommen wurden. Dabei beschreiben die Protagonisten und Zeitzeugen zunächst das besondere Lebensgefühl im Manchester Mitte der 1970er Jahre, wo der soziale Wohnungsbau seinen Anfang nahm, wo dank der Hafenanlagen unterschiedlichste Einflüsse und Stile die Stadt überschwemmten und die Manchester Free Trade Hall zu einem Epizentrum der psychogeografischen Energie wurde, in dem Gewerkschaftsveranstaltungen ebenso abgehalten wurden wie Konzerte von Louis Armstrong, Bob Dylan und die Sex Pistols stattfanden. Das Spannungsverhältnis zwischen Arm und Reich prägte die zunehmend von Zerfall geprägte Industrielandschaft, die Sehnsucht nach dem Schönen hinter all der Hässlichkeit. Diese postindustrielle Atmosphäre voller leerstehender Lagerhallen- und Fabrikruinen, in denen sich neue Slums bildeten, war der ideale Nährboden für eine bunt schillernde Club-Szene in den 1960er Jahren, als sich Terry Mason, Bernard Sumner und Peter Hook kennenlernten und sich alles Mögliche an Konzerten ansahen, AC/DC, Dr. Feelgood, Iggy Pop, David Bowie und schließlich die Sex Pistols.
In den nachfolgend aneinandergereihten sehr persönlicher Erinnerungen wird anschaulich geschildert, wie Joy Division ihre ersten Songs einspielten, Martin Hannett als Produzenten gewannen und schließlich mit Tony Wilson zusammentrafen, der eine eigene Musiksendung bei Granada TV hatte und schließlich mit Pete Saville das legendäre Factory Label gründete, auf dem Joy Division zunächst die beiden Songs „Digital“ und „Glass“ auf der Doppel-EP „A Factory Sample“ veröffentlichten, dann die beiden Alben „Unknown Pleasures“ (1979) und „Closer“ (1980).
Je mehr Live-Auftritte Joy Division allerdings absolvierten, je mehr Ian Curtis hin- und hergerissen war zwischen seiner Frau Deborah, mit der er ein gemeinsames Kind hatte, und der gut situierten und gebildeten Belgierin Annik Honoré, desto stärker machten sich seine epileptischen Anfälle und die durch die starken Medikamente verursachten Stimmungsschwankungen bemerkbar. Bei all diesen Schilderungen wird deutlich, wie unsicher und unreif die damals noch Anfang Zwanzigjährigen mit der Situation umgegangen sind, wie sehr sie sich auf Ians Beteuerungen verließen, dass alles gut sei. Jon Savage gelingt es, in der abwechslungsreichen wie intimen Zusammenstellung der Eindrücke und Erinnerungen ein sehr authentisch wirkendes Portrait der Zeit und der besonderen Umstände zu zeichnen, in der Joy Division gewirkt haben. Die „No City Fun“-Autorin Liz Naylor fasst schließlich zusammen:
Joy Division kamen aus einer bestimmten Zeit und von einem bestimmten Ort, und sobald man sie dort herausnimmt, verändert sich ihre Bedeutung. Als hätten sie kollektiv die damalige Aura von Manchester transportiert. Sie waren so, wie Manchester war. Folglich wurde diese Aura auch Ian als Einzelperson zugeschrieben, aber ich denke, das ist ein Missverständnis. Als Band waren sie sehr viel wichtiger denn als Individuen oder als seine Vision, weil ich nämlich nicht glaube, dass es seine Vision war. Ich glaube, es war die Atmosphäre von Manchester.“ (S. 202) 
Angereichert mit einigen schönen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Plakaten, Logos und Fotos bietet „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ einen faszinierenden Einblick in das Entstehen und Wirken einer ungewöhnlichen wie einflussreichen Band, die aus dem Geist des Post-Punk in intellektueller Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung darstellte und musikalisch gerade von deutschen Acts wie Kraftwerk, Neu! und Can zu ihrem einzigartigen Sound inspiriert wurde. Die Vielfalt der eingefangenen Stimmen machen das Portrait von Joy Division ebenso persönlich wie vielschichtig.
Leseprobe Jon Savage - "Sengendes Licht, die Sonne und alles andere"

Irvine Welsh – „Die Hosen der Toten“

Sonntag, 22. März 2020

(Heyne Hardcore, 474 S., HC)
1993 zeichnete der schottische Autor Irvine Welsh mit „Trainspotting“ das gelungene Portrait einer jungen Generation, für die es in der von Arbeitslosigkeit und Mietskasernen geprägten Post-Thatcher-Ära keinen Platz mehr in der Gesellschaft gab und die deshalb im Drogen- und Alkoholrausch versank. Mittlerweile, wir schreiben das Jahr 2015, sind die aus dem Edinburgher Stadtteil Leith stammenden Freunde Simon David „Sick Boy“ Williamson, Danny „Spud“ Murphy, Mark Renton und Francis James Begbie erwachsen geworden, doch nicht allen ergeht es so gut wie Mark, der als erfolgreicher DJ-Manager durch die Welt jettet, um seinen Klienten vor allem Drogen und Prostituierte zu beschaffen.
Als er auf einem Flug nach Los Angeles aber unerwartet seinem Erzfeind Franco/Frank/Francis Begbie begegnet, geht ihm ordentlich die Flatter, denn wie seine anderen ehemaligen Kumpel hat Renton auch Begbie damals um ein kleines Vermögen betrogen. Doch Begbie, der sich mittlerweile einen Namen als Künstler machen konnte und nun mit seiner Frau Melanie in Kalifornien, hegt überhaupt keine Rachegedanken.
Den anderen beiden Leith-Jungs ist es nicht so gut ergangen. Spud hat Rentons Rückzahlung der 15.000 Pfund gleich wieder in Drogen investiert und ist im illegalen Organhandel tätig. Dumm nur, dass sein Hund Toto die Niere anknabbert, die er nach Berlin transportieren soll. Dafür wird er selbst übel bluten müssen. Und Simon betreibt mit Colleagues einen exklusiven Escort-Service und wird Zeuge, wie sein sexsüchtiger Schwager Euan McCorkindale Ehebruch begeht, als das Video von seinem Seitensprung der ganzen Familie vorgeführt wird. Doch das ist nur der Anfang einer ganzen Reihe von schicksalhaften Begegnungen in ihrer alten Heimat Edinburgh, wo sich ein vertrauter Strudel aus Alkohol- und Drogenmissbrauch, ungeschützten, wilden Sex-Eskapaden und brutaler Gewalt entlädt und alte Ressentiments wieder aufbrechen lässt …
„Überall wimmelt es von alten Bekannten, wie zum Beispiel ,Trimmrad‘, die wir so genannt haben, weil sich jeder auf ihr abstrampelte, sie sich dabei aber kein Stück bewegte. Kaum erkennt sie mich, setzt sie diesen gleichzeitig nuttigen und unsicheren Gesichtsausdruck auf, den sie schon in den Leith-Academy-Tagen zur Schau gestellt hat. An ihrer Lippe klebt ne Zigarette. Ihr abwesender Blick und der durchgescheuerte Schulterriemen ihrer Handtasche lassen vermuten, dass Letztere am Ende des Tages nicht mehr in ihrem Besitz sein wird.“ (S. 305) 
Irvine Welsh hat es mit seiner „Trainspotting“-Reihe, zu der die Fortsetzung „Porno“ und das Prequel „Skagboys“ zählen, wie sein schottischer Kollege John Niven mit seiner trashigen Sprache und den humorvollen Szenarien voller abgefuckter Typen zum Kult-Autor gebracht.
Mit „Die Hosen der Toten“ bringt er die Reihe zu einem würdigen Abschluss, wobei es vor allem interessant zu verfolgen ist, was aus den damals so unterschiedlich veranlagten Versagern, die sich nur um Sex, Drugs und ebenso berauschende Tanzmusik kümmerten, nach über zwanzig Jahren so geworden ist. Dabei lässt Welsh seine rein männlichen Protagonisten abwechselnd die Erzählperspektive einnehmen, ohne ihnen allerdings eine eigene Stimme zu verleihen. Je mehr die einzelnen Handlungsstränge voranschreiten, um so mehr entsteht der Eindruck, als seien die Leith-Jungs, aus denen Begbie schließlich noch Büsten gießt, die für viel Geld den Besitzer wechseln, in ihrer Entwicklung nicht weiter vorangeschritten.
Zwar spielt die Musik nicht mehr so eine prägende Rolle in ihrem Leben, Sex und Drogen aber schon. Tatsächlich präsentiert sich Welsh in den Szenen, die von den merkwürdigsten – natürlich männlichen - Sex-Erlebnissen und -Phantasien handeln, am erfindungsreichsten, auch in sprachlicher Hinsicht. Stephan Glietsch hat hier großartige Arbeit bei der Übersetzung geleistet. Allerdings dürfte „Die Hosen der Toten“ mit seiner frauenfeindlichen Tonart tatsächlich nur ein männliches Publikum begeistern. Die Geschichte wirkt dabei seltsam zusammengestückelt, episodenhaft, die Figuren wenig konturiert, da sie nur von primitivsten Begierden getrieben werden.
Wer an den bisherigen „Trainspotting“-Büchern Gefallen fand, wird auch „Die Hoten der Toten“ unterhaltsam finden, doch ein ganz großes Finale stellt dieser Roman nicht dar. Dafür scheint Welsh zu sehr an oberflächlich zündenden Gags als an der Entwicklung seiner Figuren und der Beschreibung – selten vorkommender – familiärer Konzepte gelegen zu sein.
Leseprobe Irvine Welsh - "Die Hosen der Toten"

John Niven – „Kill ´em all“

Sonntag, 3. Februar 2019

(Heyne, 384 S., HC)
Seit Steven Stelfox 1994 seine Karriere als A&R-Scout bei Unigram begonnen hat und als ausführender Produzent der Talent-Show „American Pop Star“ seinen Reichtum vervielfachen konnte, genießt der 47-Jährige den beruhigenden Wohlstand, der mit einem 300-Millionen-Dollar-Vermögen einhergeht, und stellt sich nur noch sporadisch für fürstliche Honorare als Berater zur Verfügung. Gerade als Unigrams Aktien weiter zu fallen drohen, muss Stelfox seinem alten Freund James Trellick, mittlerweile CEO bei Unigram, aus der Patsche helfen. Sein erfolgreichster Künstler Lucius Du Pre, der gerade einen Marathon von zwanzig Konzerten im New Yorker Madison Square Garden und ebenso vielen in der Londoner O2-Arena vorbereitet, um seine immensen Schulden wieder einzuspielen, hat eine Vorliebe für kleine Jungs. Mit denen tobt er nicht nur in seinem Vergnügungspark herum und guckt mit ihnen seine Lieblings-DVD „Fantasia“, sondern stellt mit ihnen Sachen an, die besser nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Das denken sich auch die Eltern von Connor, als sie eine blutbefleckte Unterhose unter dem Bett ihres Sohnes finden, denn statt mit ihrem Verdacht zur Polizei zu gehen, verstecken sie eine Kamera in Connors Mütze und filmen so den nächsten sexuellen Übergriff des drogenverseuchten und abgehalfterten Pop-Stars.
Natürlich denken Stelfox und die Leute bei Unigram nicht daran, auf die absurd hohen Forderungen von Connors Eltern und ihrem Anwalt einzugehen. Stattdessen entwickelt Stelfox einen teuflischen Plan, bei dem zumindest er selbst am Ende als der große Gewinner dastehen wird. Aber da droht ihm ausgerechnet Du Prez einen Strich durch die Rechnung zu machen …
„Bis jetzt hatte ich nie wirklich verstanden, was es heißt, ,die Medikamente abgesetzt‘ zu haben. Fraglos erfüllten die atemberaubenden Mengen pharmazeutischer Aufputsch- und Beruhigungsmittel, die Lucius über Jahre genommen hat, die Funktion einer Art Sicherungsschraube … oder von einem Sperrkreis zur Unterdrückung störender Frequenzen. Von ihnen befreit, ist der Wichser durchgeknallter geworden als ein Plattenbau voller Scheißhausratten.“ (S. 311f.) 
Nach „Kill Your Friends“ und „Gott bewahre“ hält uns der schottische Schriftsteller John Niven einmal mehr in Gestalt des großkotzigen Selfmade-Arschlochs Steven Stelfox der Welt das ungetrübte Spiegelbild vor Augen, in dem Donald Trump wie eine Karikatur die Geschicke des mächtigsten Landes der Welt lenkt und junge Frauen, die sich für ihren Traum von einer Karriere in Hollywood als menschliche Toilette missbrauchen lassen, wie ein Hohn auf die #MeToo-Debatte wirken. Wer in diesem Roman eine sympathische Identifikationsfigur sucht, wird bitterlich enttäuscht, denn der Großteil von „Kill ´em all“ ist aus der Perspektive von Steven Stelfox geschrieben, der von Beginn keinen Hehl daraus macht, was er von den „Losern“ hält, die es in ihrem Leben zu nichts bringen. Aus der gesicherten Position seines Reichtums heraus hält es Stelfox wie Präsident Trump: Er versucht gar nicht erst, bei den Minderheiten zu punkten, sondern nur seine ureigenen Interessen durchzusetzen – weil er es kann, ohne für seine Rücksichtslosigkeit belangt werden zu können. Wer sich auf den sehr zynischen Blick auf eine Welt, in der Musikfans selbst den billigst produzierten Scheiß zu Hits machen, einlassen kann, wird auf höchst unterhaltsame Weise auch mit den Schattenseiten des Reichtums vertraut, wenn es immer nur noch darum geht, mehr Geld zu scheffeln, größere Yachten zu besitzen als David Geffen und seinen Fuhrpark um imposantere Luxus-Karossen zu erweitern. Das wirkt auf der einen Seite extrem oberflächlich und klischeebeladen, aber hinter den großkotzigen Sprüchen und Gedanken, die Stelfox hier reihenweise vom Stapel lässt, liegt immer mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.
Leseprobe John Niven - "Kill 'em all"

Larry Brown – „Joe“

Sonntag, 11. November 2018

(Heyne, 346 S., HC)
Ohne Ziel laufen der nichtsnutzige, alkoholabhängige Wade Jones, seine Frau, ihr ungefähr fünfzehnjähriger Sohn Gary und dessen beiden Schwestern Dorothy und die hochschwangere Fay eine wenig befahrene Straße entlang. Die drei verbeulten Dosen Budweiser, die der Vater im Graben findet, sind im Nu geleert, übernachtet wird an tristen Orten irgendwo in Mississippi, bis sie eine seit Jahren verlassene Blockhütte beziehen. Im Gegensatz zu seinem Vater will der für sein Alter etwas zu klein geratene Gary aus seinem Leben etwas machen und arbeiten. Für den ehemaligen Zuchthaus-Insassen Joe Ransom fängt Gary im Mai an, flächendeckend Bäume zu vergiften, damit dort Babykiefern gepflanzt werden können, doch sein Vater ist stets hinter dem Lohn her, den er nach Hause bringt, um Lebensmittel und vor allem Alkohol kaufen zu können.
Als Gary aber angeboten bekommt, Joes alten Pick-up für zweihundert Dollar zu kaufen, versteckt der Junge das Geld vor seinem Vater, der seine Wut auf Joe kaum noch zurückhalten kann. Aber ebenso wie Wade ist auch Joe von gewalttätiger Persönlichkeit, verfügt im Gegensatz zu dem Alten aber über ein gutes Herz. Er hängt mit Connie zusammen, die mit seiner Tochter zusammen zur Schule gegangen ist, und bemüht sich um ein gutes Verhältnis zu seiner Ex-Frau Charlotte, aber in Beziehungssachen lässt sich Joe einfach treiben.
Gary hängt immer öfter mit seinem Chef zusammen und hofft so, seinen Traum von einem besseren Leben verwirklichen zu können.
„Er hatte schon festgestellt, wie gut das kühle Bier schmeckte. Er begriff jetzt, worauf der Alte in all den Nächten, an den Wochenenden und manchmal auch wochentags aus war, worauf es ihm ankam und was er spüren wollte. Nichts spielte jetzt eine Rolle, das wusste er beim ersten Mal, als er damit Bekanntschaft machte.“ (S. 256) 
Der in Oxford, Mississippi, geborene Larry Brown (1951-2004) hat erst spät angefangen zu schreiben, wollte seinem Vorbild Stephen King nacheifern, kam aber zunächst über einige kaum beachtete Kurzgeschichten nicht hinaus. Erst mit seiner ersten Kurzgeschichten-Sammlung „Facing The Music“ (1988) konnte der Feuerwehrmann anfangen, von seiner Schreiberei zu leben, und veröffentlichte bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahre 2004 leider nur fünf Romane, die nun endlich sukzessive ins Deutsche übersetzt werden.
Nachdem der Heyne Verlag im vergangenen Jahr Larry Browns vierten und erfolgreichsten Roman „Fay“ als deutsche Erstveröffentlichung präsentierte, folgt mit „Joe“ nun dessen zweites Werk, das vor allem von den beiden eindringlich charakterisierten Figuren Gary und Joe geprägt wird, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch so eng miteinander verbandelt sind.
Joe ist als kleiner Unternehmer zwar sein eigener Herr und weiß sich gegen seine Arbeiter souverän zu behaupten, dabei hilft ihm aber auch sein Ruf als trinksüchtiger Raufbold, was ihm bereits eine längere Gefängnisstrafe eingebrockt hat. Davon abgesehen ist er eigentlich ein liebevoller Kerl, der sich um eine Annäherung zu seiner Ex-Frau und seiner Tochter bemüht, dem Geld so unwichtig ist, dass er es gern mal verspielt, und der auch sehr lockere Beziehungen zu den Frauen unterhält, denen er begegnet. Dagegen muss sich Gary erst einmal wie seine ältere Schwester Fay, der Larry Brown später seinen erfolgreichsten Roman widmet, von der völlig verkorksten Familie lösen, die unter der Fuchtel des ebenso brutalen wie alkoholsüchtigen Wade steht, der auch die einzige durch und durch unsympathische Figur im Roman verkörpert.
Dem Jungen ist durchaus bewusst, dass er nur durch harte Arbeit zu Anerkennung kommen kann, und so legt er sich nicht nur bei Joe, sondern später auch bei einem Farmer mächtig ins Zeug. In der Ausgestaltung der Beziehung zwischen Joe und Gary demonstriert der Autor seine wahre Meisterschaft, authentische Figuren am äußersten Rand der Gesellschaft im Süden der Vereinigten Staaten zu zeichnen und ihren schweren Kampf um einen Platz im Leben zu beschreiben. Nach fast 340 Seiten sind Gary und Joe dem Leser so ans Herz gewachsen, dass man das Ende der Geschichte nur noch hinauszögern möchte.
Leseprobe Larry Brown - "Joe"

James Lee Burke – (Aaron Holland Broussard: 1) „Dunkler Sommer“

Sonntag, 9. September 2018

(Heyne, 556 S., Pb.)
Aaron Holland Broussard steht im Frühling 1952 am Ende seines Junior-Jahrs an der Highschool in Houston, als er an einem Frühlingssamstag im fünfzig Kilometer entfernten Galveston mit seinen Freunden am Strand abhängt. Wenig später lernt er vor einem Drive-in die siebzehnjährige Valerie Epstein kennen und verliebt sich augenblicklich in sie.
Grady Harrelson, mit dem sie vor Aarons Augen gerade Schluss gemacht hat, ist von Aarons Benehmen alles andere als begeistert und setzt seinem Kontrahenten ordentlich zu. Schließlich ist sein Vater nicht nur fett im Ölgeschäft, sondern unterhält auch Beziehungen zur Mafia in Galveston.
Doch weder Aaron noch sein unbesonnener Freund Saber Bledsoe lassen sich von Grady, seinem Kumpel Vick Atlas und dessen Vater zur Raison bringen. Als erst eine mexikanische Prostituierte mit gebrochenem Genick aufgefunden wird und dann Gradys pinkfarbener Cadillac gestohlen wird, in dem sich fast eine Million Dollar Mafia-Kohle befindet, ist das erst der Anfang einer Reihe von gewalttätigen Auseinandersetzungen, Morddrohungen und Todesfällen.
Aaron lässt allerdings nicht locker, um die Hintergründe der Gräueltaten in Erfahrung zu bringen, muss aber auch um das Leben seiner Liebsten fürchten …
„Ich hatte geglaubt, dass die Menschen, die so viel Leid über uns gebracht hatten, irgendwann dafür zur Verantwortung gezogen würden. Tatsache war aber, dass Valerie beinahe bei lebendigem Leib verbrannt worden war, aber niemand deswegen im Gefängnis saß. Ich bezweifelte sogar, dass die Polizei die richtigen Personen befragt hatte, um die Tat aufklären zu können.“ (S. 330) 
Mit seinen Reihen um Dave Robicheaux, Hackberry Holland und Billy Bob Holland hat sich der aus Louisiana stammende Schriftsteller James Lee Burke in die Herzen anspruchsvoller Krimifans geschrieben. Mit seinem neuen Roman bewegt sich Burke weiterhin im Terrain des Holland-Clans, denn der mittlerweile verstorbene Hackberry Holland war der Vater von Aarons Mutter und hatte als Texas Ranger immerhin John Wesley Hardin hinter Schloss und Riegel gebracht.
Das familiäre Erbe aus dem gewalttätigen Potenzial und Bekanntschaften mit der Mafia ist auch an dem jungen Aaron nicht spurlos vorübergegangen. Mit dem rechten Herz am Fleck, viel Mut und jugendlichem Übermut begibt er sich immer wieder in Situationen, von dem ihm nicht nur seine Eltern und der krebskranke Detective Merton Jerks abraten, sondern auch die Leute, mit denen sich Aaron lieber nicht anlegen sollte.
Burke beschreibt dieses eindringliche, gewalttätige Coming-of-Drama vor dem Hintergrund des Koreakrieges und lässt in seinen Plot immer wieder die militärische Vergangenheit einiger Protagonisten einfließen, thematisiert aber vor allem die weiter aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich, den anhaltenden Rassismus und die undurchsichtigen Mafia-Geschäfte, die die Auflösung vor allem der jüngsten Morde so knifflig machen.
„Dunkler Sommer“ ist aber auch ein wunderbarer Roman über die Liebe und den unerschütterlichen Willen, das Richtige zu tun – auch wenn die Mittel dazu nicht immer christlicher Nächstenliebe entspringen. Dazu sorgen die atmosphärisch stimmige Gesellschaftsstudie und die fein gezeichneten Charakterisierungen auch der weiblichen Figuren dafür, dass „Dunkler Sommer“ zweifellos zu den besten Werken des preisgekrönten Autors zählt.

Leseprobe James Lee Burke - "Dunkler Sommer"

Marlon James – „Der Kult“

Samstag, 26. Mai 2018

(Heyne, 286 S., HC)
Hector Bligh ist seit 1951 Pastor der Heilig-Grab-und-Evangeliumskirche in dem kleinen jamaikanischen Dorf Gibbeah und wegen seines berüchtigten Alkoholkonsums vor allem als Rumprediger bekannt, und zwar nicht erst seit dem Vorfall mit der vom Teufel besessenen Lillamae Perkins, die ihrem Vater vor zwei Jahren in seinem Bett den Penis abgeschnitten hatte, das mit ihm gezeugte Kind durch den Verzehrt von grünen Papayas loswerden wollte und nicht mal von fünf Diakonen gebändigt werden konnte. Zwei Tage später wurde ihre Leiche im Two Virgin River gefunden.
Gerade als Pastor Bligh am Tiefpunkt seines Lebens zu sein scheint und mit entblößten Geschlechtsteilen bewusstlos am Straßenrand aufgefunden wird, trifft ein schwarz gekleideter Fremder auf seinem Motorrad in der Gemeinde ein. In der Sonntagsmorgenmesse fliegt ein John-Crow-Geier – der gemeinhin als Vorbote des Teufels betrachtet wird - durch das Buntglasfenster und landet tot auf der Kanzel. Wenige Minuten später konfrontiert der Fremde, der sich Apostel York nennt, Bligh mit dessen Sündhaftigkeit und übernimmt kurzerhand die Kontrolle über die Gemeinde und verspricht ihr den Beginn einer neuen Ära.
Tatsächlich sind Gibbeahs Bewohner ganz fasziniert von dem neuen Mann Gottes, der Wunder wirkt, aber auch Rache und Verdammnis predigt. Doch Pastor Bligh, der hinter dem Dorf und jenseits des Flusses bei der Witwe Greenfield Unterschlupf findet, lässt sich auf einen Glaubenskampf mit dem Apostel ein. Nach einem Monat kehrt Bligh in die Stadt zurück und macht die Menschen neugierig …
„Die Leute finden’s komisch, dass nach und nach immer mehr rausgegangen sind und dem Rumprediger zugehört haben. Er hat eigentlich nicht wirklich zu ihnen gepredigt. Er hat für die Straße und den Himmel und für Gott gepredigt. Jemand von denen, die gegangen sind, eine Frau, hat gesagt, wenn er mit ihr spricht, ist das, als würd er glatt durch sie hindurchsprechen. Die Leute sagen, dass der Apostel Hector Bligh nie und nimmer die Kirche überlässt, ganz gleich, wie weiß dessen Anzug zurzeit ist.“ (S. 119) 
Als erster Jamaikaner wurde der mittlerweile in Minneapolis, Minnesota, lebende Schriftsteller Marlon James 2015 für seinen epischen Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichnet, woraufhin Heyne Hardcore das Buch auf für den deutschen Markt veröffentlichte. Zuvor war sein 2005 erschienenes Debüt „John Crow’s Devil“ vom Verlag F. Stülten unter dem Titel „Tod und Teufel in Gibbeah“ als einziges von James‘ Werken auf Deutsch erhältlich gewesen und erfährt nach dem Erfolg des Romans über die geplanten Anschläge auf Bob Marley – unter dem neuen Titel „Der Kult“ - seine zweite Chance darauf, von der hiesigen literarischen Welt gewürdigt zu werden.
James entwirft in seinem ersten Roman das leider nach wie vor hochaktuelle Szenario des Kampfes von selbst ernannten Stellvertretern Gottes auf Erden, die den vermeintlich Ungläubigen die Worte der Bibel predigen, aber deren Bedeutung natürlich nach sehr persönlichen Vorlieben auslegen. Natürlich werden dabei die verschiedensten Dämonen und Hexen beschworen, Sünder werden verstümmelt und getötet, die Biografien der wichtigsten Protagonisten aufbereitet, worunter nicht nur der Pastor und der Apostel fallen, sondern auch die Witwe Greenfield und die Apostel-Gehilfin Lucinda, so dass deutlich wird, aus welchen Gründen die Menschen in Gibbeah der einen oder anderen Stimme Gottes folgen.
Der Autor bedient sich dabei ganz bewusst der furchteinflößenden Bilder und Geschichten aus der Bibel, spielt mit der Angst vor Dämonen, Hexen und schwarzer Magie, vor allem aber mit den ständigen Versuchungen des Fleisches, die Lucinda beispielsweise nur durch heftigste Selbstgeißelung zu bändigen hofft. „Der Kult“ ist ein wirklich packendes Buch, das mit alttestamentarischer Wucht die Verführungskünste des Teufels und die Vielfalt der göttlichen Strafen thematisiert, wobei Marlon James gerade die Fleischeslust in expliziten Bildern beschreibt.
Sein kraftvolles Debüt ist definitiv nichts für zarte Gemüter, macht so aber umso eindrucksvoller deutlich, wie leicht sich Menschen durch charismatische Führer mit verheerenden Folgen auf spirituelle Abwege begeben können. 
Leseprobe Marlon James - "Der Kult"

Richard Laymon – „Das Ende“

Montag, 30. April 2018

(Heyne, 304 S., Tb.)
Eigentlich würde Bass Paxton lieber mit Pac losziehen, aber da seine Traumfrau mit seinem besten Freund verheiratet ist, muss er sich vorerst mit Faye Everett begnügen. Bei einem Kanuausflug mit Picknick am Silver River stoßen sie auf ein Pärchen, das nur auf den ersten Blick verliebt am Ufer beieinanderliegt. Als sich der Mann erhebt, hat der den Kopf der fast nackten Frau unter dem Arm und flüchtet mit ihm ins Wasser. Rusty Hodges, Waffennarr und Sheriff von Sierra County, trommelt seine Leute zusammen, wobei seine Schwiegertochter Mary „Pac“ Hodges, als Erste am Tatort auftaucht.
Die Leiche wird als Alison Parkington identifiziert, Frau des Gastprofessors Grant Parkington am Sierra College, der sich die Schuld am Tod seiner Frau gibt und Selbstmord begeht. Der Professor wiederum soll wie wild hinter seinen Studentinnen her gewesen sein.
Als Faye nach der ersten Befragung durch die Cops spurlos verschwindet, sieht ihre Mitbewohnerin Ina sieht nun die Möglichkeit, endlich ihrem Schwarm Bass näherzukommen, der sich die Chance nicht nehmen lässt, eine weitere Eroberung zu machen.
„Ina beugte sich vor, um ihm das Glas zu reichen, und sah, wie seine Augen nach unten wanderten. Er sah in den Ausschnitt ihres Tops. Nachdem er das Glas genommen hatte, verharrte sie noch einen Moment in der Position und ließ ihn in Ruhe ihre Brüste ansehen, bevor sie sich neben ihn auf das Sofa setzte.“ (S. 170) 
Mit „Das Ende“ erscheint nun einer der letzten bislang noch nicht ins Deutsche übersetzten Titel aus dem umfangreichen Oeuvre des mittlerweile auch hierzulande äußerst populären Horror-Schriftstellers Ruichard Laymon, der auch von seinen Kollegen Stephen King und Jack Ketchum sehr geschätzt worden ist. Allerdings stellt sich Laymons Werk in seiner Qualität als sehr durchwachsen dar. Nach den ersten deutschen Veröffentlichungen wie „Rache“, „Das Spiel“, „Die Jagd“, „Das Treffen“ und „Die Insel“, die den Autor hierzulande populär gemacht haben, markieren vor allem die zuletzt erschienen Titel wie „Das Auge“, „Die Tür“ und „Das Ufer“ erschreckende Defizite in der Figurenzeichnung und Dramaturgie.
Auch in „Das Ende“ begnügt sich Laymon mit einigen bizarren Slasher-Szenen, die aber längst nicht so explizit wie in seinen früheren Werken ausgefallen sind, und übertrieben häufigen sexuellen Anspielungen, die alles andere als originell sind.
Dramaturgisch hat sich der Autor zwar einen interessanten Kniff einfallen lassen, dieser verpufft allerdings bei den eindimensionalen Figuren, von denen allein Pac annähernd eine Charakterisierung erfährt. Die sehr einfache Sprache, das flotte Erzähltempo und der dialoglastige Schreibstil sorgen zwar für rasante, aber leider auch sehr oberflächliche Unterhaltung. 
Leseprobe Richard Laymon - "Das Ende"

John Niven – „Alte Freunde“

Samstag, 11. November 2017

(Heyne, 352 S., HC)
Der renommierte Restaurantkritiker und Buchautor Alan Grainger ist am Nachmittag gerade auf der Suche nach einer ruhigen Ecke im Soho House oder Groucho, wo er die Rezension über den Pop-up-Store, den er gerade besucht hat, zu schreiben plant, als ihm an einer Straßenkreuzung ein Penner mit schottischem Akzent anspricht. Wie sich nach einem kurzen Wortwechsel herausstellt, sitzt da ausgerechnet sein alter Schulfreund Craig Carmichael auf einem Stück Pappkarton. Bei einem Bierchen in einem nicht so noblen Laden tauschen sie Erinnerungen und Lebensgeschichten aus. Zuletzt hatten sich Alan und Craig bei einem Konzert von Craigs Band The Rakes im Jahre 1993 gesehen, nachdem die Band von einer erfolgreichen Tour durch Amerika zurückgekehrt war, und als Headliner im QM in Glasgow den Start ihrer UK-Tour absolvierte.
Alan hatte zu Jugendzeiten immer zu dem teuflisch talentierten Gitarristen Craig aufgesehen, durfte in der Anfangszeit der Band auch mal den Bass zupfen, doch als Craig ein echter Star im Rockzirkus wurde, hatte er ihn aus den Augen verloren. In der Zwischenzeit ist Craig allerdings fürchterlich abgestürzt: schon das zweite Album floppte, Craig ging pleite und verfing sich im Drogensumpf und kehrte nach London zurück.
Währenddessen lernte Alan die aus wohlhabendem Hause stammende Katie kennen, mit der er zwei Töchter und einen Sohn hat und in einem großen Haus außerhalb Londons lebt. Alan quartiert seinen alten Freund zunächst im Gästezimmer ein, will ihm wieder auf die Beine helfen. Tatsächlich erreicht er, dass Craig noch 32.000 Pfund an Tantiemen ausgezahlt bekommt, sich eine eigene Wohnung und neue Zähne leisten kann, ja sogar seine musikalische Karriere wieder in Schwung bringt. Dagegen häufen sich bei Alan die Unglücksfälle. Zunächst erhält Katie ein Handyvideo, auf dem zu sehen ist, wie Alan von einer Unbekannten im eigenen Haus einen Blowjob genießt, so dass er ausziehen muss, dann sitzt ihm das Finanzamt mit einer Untersuchung im Nacken und sperrt ihm die Konten und Kreditkarten. In wenigen Wochen befindet sich Alan genau dort, wo er Craig vor einigen Monaten gefunden hatte …
„Was war passiert? Eben noch hatte er eine wundervolle Frau, eine wundervolle Familie und ein wundervolles Zuhause, und nur eine Minute später war er mittellos und hauste in einem beschissenen Billighotel. Sein Leben war wie eines dieser GIFs auf Hold My Beer. Er war der Typ, der im Lagerhaus einen Gabelstapler wendet. Erst ist alles bestens, aber dann stößt er gegen ein Regal, und zwei Sekunden später sieht es aus, als hätte jemand eine Bombe gezündet. Wie Ground Zero.“ (S. 296) 
Der schottische Bestsellerautor John Niven („Old School“, „Gott bewahre“) erweist sich auch in seinem neuen Werk als feiner Kenner der Materie, über die er schreibt. Als ehemaliger A&R-Manager bei einer Plattenfirma fällt es ihm nicht schwer, den rasanten Auf- und ebenso schnellen Abstieg von Alans Freund Craig authentisch zu skizzieren. Humorvoll ist aber vor allem Alans Alltag und Lebensumfeld beschrieben. Dabei gelingt es ihm, Alan zwar nicht als Supersympathisant zu zeichnen, aber eben als aufrechten Mann, der seine Berufung in dem Schreiben von Kochbüchern mit ausgefallenen Themen und Restaurantkritiken gefunden hat und durch seine wohlhabende Frau keine finanziellen Sorgen kennt, ohne aber auf dicke Hose zu machen.
Niven hat sichtlich Spaß daran, den Hype um neue Restaurants mit überteuerten Gerichten und langen Wartezeiten durch den Kakao zu ziehen, aber auch die Kolumnentätigkeit seiner Frau wird in einer herrlichen Persiflage auf den Wohlfühl- und Gesundheitswahn wunderbar kommentiert. So richtig derben Humor präsentiert Niven seinen Fans in einer seitenlang beschriebenen Episode darüber, wie Alan mit seinem problematischen Stuhlgang der Sanitäranlage in dem uralten Landsitz von Katies Eltern den Rest gibt und damit die feine Gesellschaft im Speisesaal in die Flucht schlägt. Überhaupt zählen die Szenen, in denen die High Society auf das Elend trifft, das zunächst Craig, dann auch Alain verkörpern, zu den gelungensten in „Alte Freunde“, weil Niven auf ebenso humorvolle wie pointiert treffsichere Weise die dem Roman vorangestellten Sprichwort „Keine gute Tat bleibt ungesühnt“ und F. Scott Fitzgeralds Zitat „Nichts ist widerwärtiger als das Glück anderer Leute“ auf literarische Weise zum Leben erweckt. Dabei berührt er auch Fragen nach dem Ursprung und dem Wesen von (Männer-)Freundschaften, nach Glück, Dankbarkeit und Neid sowie der Bedeutung von materiellem Reichtum. Selten wurde eine Achterbahnfahrt durch das Leben so leichtfüßig, gut beobachtet und dabei so unglaublich witzig beschrieben. 
Leseprobe John Niven - "Alte Freunde"