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Ian McEwan – „Lektionen“

Montag, 3. Oktober 2022

(Diogenes, 720 S., HC) 
Seit seiner 1975 veröffentlichten Geschichtensammlung „First Love, Last Rites“, die 1982 in der Übersetzung von Harry Rowohlt im deutschen Sprachraum als „Erste Liebe, letzte Riten“ erschienen ist, hat sich der Brite Ian McEwan als einer der bekanntesten europäischen Schriftsteller etabliert, dessen Werke regelmäßig auch verfilmt werden. 2017 gelangten mit „Kindeswohl“, „Am Strand“ und „Ein Kind zur Zeit“ sogar gleich drei McEwan-Adaptionen in die Kinos. Auch in seinem neuen Werk, der auf über 700 Seiten episch angelegten Familiengeschichte „Lektionen“, berührt McEwan wieder Themen, die sich auf die eine oder andere Weise in jedermanns Leben wiederfinden, vor allem die Frage, was den individuellen Menschen ausmacht. 
Für Roland Baines bricht eine Welt zusammen, als er im Frühjahr 1986 mit Mitte dreißig von seiner Frau Alissa verlassen wird und im Zuge ihres spurlosen Verschwindens sogar von der Polizei mit dem Verdacht konfrontiert wird, ein Verbrechen begangen zu haben. Die Postkarten, die Alissa ihm und ihrem gemeinsamen Sohn Lawrence regelmäßig mit dem gleichen Wortlaut aus Dover, Paris, Straßburg und München geschickt hat, werden mit Handschriftenproben verglichen. Monate nach ihrem Verschwinden, das sie nur mit einer kurzen Notiz kommentiert hat („Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst.“), rekapituliert Baines, wie es dazu kommen konnte, und erzählt seine Geschichte. 
In Libyen als Sohn eines Armeeoffiziers aufgewachsen, kommt im Spätsommer 1959 mit seinen Eltern nach England, wird Zeuge eines Motorradunfalls mit Todesopfern und wird er im Alter von elf Jahren in ein Internat gesteckt. Ihm ist noch nicht klar, dass er die nächsten sieben Jahre dort verbringen und anschließend erwachsen sein wird. Was ihn allerdings am meisten prägt, sind die Klavierstunden bei der Mitte zwanzigjährigen Miriam Cornell, die den dann vierzehnjährigen Jungen verführt und sogar zu seinem sechzehnten Geburtstag in Schottland zu heiraten beabsichtigt. Roland kann sich gerade noch rechtzeitig aus dieser Abhängigkeit und Umklammerung befreien, treibt dann aber recht ziellos durchs Leben. Seine anfänglich so vielversprechende Karriere am Klavier verfolgt er nicht weiter. Stattdessen hält er sich als Tennislehrer, Teilzeit-Journalist und Bar-Pianist über Wasser, bis er beim Deutschunterricht am Goethe-Institut Alissa Eberhardt kennen- und lieben lernt. Doch die angehende Schriftstellerin fühlt sich in der Ehe eingeengt und hat erst dann den ersehnten Erfolg, als sie nach Deutschland zurückkehrt, wo sie sogar als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Roland heiratet schließlich seine alte Freundin Daphne, nachdem er zuvor fast wahllos von einer Affäre zur nächsten gesprungen war. 
Als Daphne viel zu früh an Krebs stirbt, macht er sich daran, sowohl Alissa aufzusuchen als auch seine frühere Klavierlehrerin, die sich für den begangenen Missbrauch nun der Strafverfolgung ausgesetzt sieht… 
„Alissas Verschwinden hatte eine Schneise in die Vergangenheit geöffnet. Fast, als wären Bäume gefällt worden für einen besseren Blick. In seltenen Momenten wie diesem sah er, als scharf umrissenen Lichtpunkt, den Ursprung all dessen, was ihm zusetzte, und all denen, die ihm nahekamen. Die Klavierlehrerin, die ihn in jener ersten Nacht heimgesucht hatte, spukte ihm oft im Kopf herum.“ (S. 310) 
Ian McEwans „Lektionen“ ist weit mehr als die Geschichte eines Lebens. In seinem umfangreichsten Roman holt der versierte Schriftsteller weit aus, lässt die Lebensgeschichte seiner Eltern, seiner beiden Halbgeschwister Henry und Susan und anderer mit gesellschafts- und geopolitischen Ereignissen wie die Widerstandsbewegung Weiße Rose, die Suez- und Kuba-Krise, die nukleare Bedrohung nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl, der Falkland-Krieg, Margaret Thatchers Regierungszeit, der Aufschwung der Labour-Party, Gorbatschow und der Fall der Berliner Mauer bis hin zum Klimawandel, Brexit und Umgang mit der Corona-Pandemie. 
Die Einbettung in den historischen Kontext hätte McEwan, der einige biografische Verweise wie das Alter, die Kindheit in Libyen und die Halbgeschwister in seinen Roman hat einfließen lassen, allerdings etwas kürzen können, denn die tatsächlich entscheidenden Momente in Roland Baines‘ Leben spielen sich auf rein persönlicher Ebene ab. 
Wenn der Autor die Beziehungen und Konflikte mit der Klavierlehrerin und Alissa beschreibt, hat „Lektionen“ seine stärksten Momente, denn hier fährt alles auf, was zwischenmenschliche Beziehungen ausmacht, mit allen Höhen und Tiefen, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und Konflikten. Dabei rückt die Rücksichtslosigkeit von Künstlern, die im Dienste ihrer Kunst alles andere vernachlässigen, ebenso in den Vordergrund wie die Frage nach Lust und Schuld in dem Missbrauchsfall, mit dem Roland seine Klavierlehrerin nach Jahrzehnten konfrontiert. 
Es sind keine „Lektionen“ mit ausgestrecktem Zeigefinger, McEwan bietet keine Antworten auf die komplexen moralischen Fragen, die sich Roland Baines am Wendepunkt seines Lebens zu stellen beginnt und denen er bis ins hohe Alter folgt, sondern präsentiert schon eine altersmilde Gelassenheit gegenüber den geschichtlichen Ereignissen, die man nicht beeinflussen kann, gegenüber den Menschen, die man geliebt und die einen verletzt haben. 
Am Ende ist „Lektionen“ eine reflektierte Lektion über die Unwägbarkeiten des Lebens schlechthin. 

Ian McEwan – „Die Kakerlake“

Sonntag, 1. Dezember 2019

(Diogenes, 134 S., HC)
In seinem früheren Leben war Jim Sams eine verhasste Kakerlake, die hinter der Täfelung im Westminster-Palast ihr Unwesen trieb, doch dann erwacht er eines Morgens aus unruhigen Träumen und findet sich in ungewohnter Umgebung wieder. Eine Frau, die sich offenbar als seine persönliche Referentin erweist, spricht ihn als Premierminister an und erinnert ihn an die Kabinettssitzung um neun und die anschließende Beantwortung von Fragen des Oppositionsführers. Zwar hegt er noch kurz Bedenken, ob er am Rednerpult auch mit nur zwei statt sechs Beinen so souverän stehen und wirken würde, doch den bevorstehenden Fragen sieht er äußerst gelassen entgegen, schließlich kennt er das Gebaren seiner früheren Artgenossen nur zu gut. Von seiner Mission, den Willen des Volkes durchzusetzen, will er sich partout nicht abbringen lassen.
Dafür bewirbt er ein Instrument, das „Reversalismus“ bezeichnet wird, wohinter sich eine Umkehr des Geldflusses verbirgt. Wer einen Job ausüben will, muss dafür bezahlen, wobei bessere Jobs auch höhere Entgeltzahlungen bedeuten. Beim Einkaufen erhält man den monetären Gegenwert für die Waren im Einkaufskorb, so dass man viel einkaufen muss, um sich einen besseren Job leisten zu können. Einzahlungen auf Geldkonten werden mit Negativzinsen belastet, so dass allen damit gedient ist, möglichst immer mehr Geld in Umlauf zu bringen. Das ambitionierte Projekt kann aber nur funktionieren, wenn auch außerhalb Großbritanniens Verbündete gewonnen werden können, weshalb Sams den Schulterschluss mit dem US-amerikanischen Präsident Tupper sucht. Der scheint angesichts einer Zahlung von über siebenhundert Milliarden Dollar auf sein privates Offshore-Konto auf den Cayman-Inseln nicht abgeneigt. Schwieriger gestaltet sich der Austausch mit der deutschen Bundeskanzlerin, der die Argumentation ihres britischen Kollegen nicht einleuchten will.
Warum? Weil. Weil wir das nun mal tun. Weil es das ist, woran wir glauben. Weil wir uns an unser Wort halten. Weil das Volk es so will. Weil ich als Retter aufgetaucht bin. Weil. So lautete letztlich die einzige Antwort: weil.“ (S. 116) 
Bereits mit seinen letzten Werken wie „Kindeswohl“ und „Maschinen wie ich“ setzte sich der preisgekrönte britische Schriftsteller Ian McEwan („Abbitte“, „Der Trost von Fremden“, „Liebeswahn“) mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinander, aber so nah am Puls der Zeit wie mit „Die Kakerlake“ war McEwan bislang noch nicht. Denn die gerade mal gut 130 Seiten umfassende Geschichte präsentiert sich als bitterböse Satire auf den vom Autor gehassten Brexit, wobei er sich ganz ungeschminkt auf Kafkas berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ beruft, in der Gregor Samsa eines Morgens als Kakerlake erwacht. McEwan kehrt nicht nur Kafkas Idee auf den Kopf, sondern entlarvt mit der ungewöhnlichen Metamorphose seines Protagonisten, der gleichermaßen als Verkörperung sowohl von Theresa May als auch Boris Johnson dient, die argumentativ schwach unterfütterten Brexit-Pläne der britischen Regierung. Mit dieser Satire rennt McEwan bei den Brexit-Gegnern natürlich offene Türen ein. In die Tiefe geht der Autor mit seinem kurzweiligen und humorvollen Werk dabei nicht, so als würde es sich bei diesem absurden Szenario auch nicht lohnen. Dafür bekommt natürlich auch der amerikanische Präsident sein Fett weg und es wird kurz demonstriert, wie die ebenfalls aktuelle „MeToo“-Debatte auch genutzt wird, um politische Gegner wie den eigenen Außenminister auszubooten. Das ist bei aller Kürze witzig auf den Punkt gebracht, doch kann sich „Die Kakerlake“ nicht in die Reihe von Meisterwerken einreihen, die wir von McEwan gewohnt sind.
Leseprobe Ian McEwan - "Die Kakerlake"

Ian McEwan – „Solar“

Donnerstag, 1. August 2019

(Diogenes, 405 S., HC)
Bereits in seinen frühen akademischen Jahren wurde Michael Beard für seine Arbeit zum besseren Verständnis der komplexen Interaktionen zwischen Materie und elektromagnetischer Strahlung der Nobelpreis für Physik verliehen. Mittlerweile ist der Naturwissenschaftler bereits 53 Jahre alt und mit seiner kleinen und dicken Statur keine wirklich attraktive Erscheinung. Dennoch hat er fünfmal geheiratet und es innerhalb der fünf Ehen mit Maisie, Ruth, Eleanor, Karen und Patrice auf elf Affären gebracht.
Momentan zahlt es ihm Patrice heim, indem sie eine Affäre mit dem im Vergleich zu Beard zwanzig Zentimeter größeren und zwanzig Jahre jüngeren Bauhandwerker Rodney Tarpin unterhält. Während er noch immer von seinem akademischen Ruhm zehrt, hat Beard seit seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis kaum Nennenswertes hervorgebracht. Immerhin schmückt sein Name Briefbögen, eine Vortragsreihe über Quantenfeldtheorie in der Royal Geographic Society und Diskussionsrunden im Radio und Fernsehen. Schließlich leitet er ein Institut für die Erforschung erneuerbarer Energien. Doch erst als er einen weiteren von Patrice Geliebten, ausgerechnet seinen eigenen Mitarbeiter Tom Aldous, im eigenen Haus tötet und den Mord Tarpin anhängen kann, der dafür in den Knast wandert, scheint Beards Karriere wieder an Schwung zu gewinnen. Denn bevor Aldous unglücklich mit dem Kopf an die Ecke des Wohnzimmertisches stößt, hat er seinen Mentor auf eine Mappe mit seinen Arbeiten zur Quantenkohärenz in der Photosynthese hingewiesen. Da niemand sonst von diesen Arbeiten weiß, macht sich Beard die Erkenntnisse des Toten zunutze …
„Er fand, er sei ein Durchschnittstyp, nicht grausamer, nicht besser oder schlechter als die meisten. Gewiss war er manchmal, wenn er sich anders nicht zu helfen wusste, gierig, egoistisch, berechnend und verlogen, aber das waren alle anderen auch.“ (S. 244) 
Mit seinem 2010 veröffentlichten Roman „Solar“ hat sich der britische Bestseller-Autor Ian McEwan („Am Strand“, „Abbitte“) vordergründig des globalen Klimawandels und der Suche nach erneuerbaren Energien gewidmet, im Grunde genommen zeichnet er aber das umfassende Portrait eines ganz und gar unsympathischen Mannes, der seinen in den Endzwanzigern erworbenen akademischen Ruhm ausnutzt, um seine Pfründe zu stopfen.
Wie skrupellos er seine eigenen Interessen verfolgt, lässt sich nicht nur an der Vielzahl der Ehen und Affären ablesen, die er ohne jede Verpflichtungen eingeht, sondern auch im Berufsleben. Dabei wird leider nicht deutlich, was die Frauen und die Wissenschaftswelt an Beard eigentlich so attraktiv finden. So scheint es McEwan gar nicht so sehr darum zu gehen, einen Gedankenanstoß zum Kampf gegen die Erderwärmung zu vermitteln oder das psychologisch tiefgründige Portrait eines außergewöhnlichen Menschen zu präsentieren.
Die lakonische und schelmenhaft Art, wie er Beard beschreibt, legt eher nahe, dass Beard als Synonym für das Problem der Menschheit an sich steht, der sich selbst im Wege steht, weil er nur an sich denkt und nicht das große Ganze im Sinn hat. Das ist vor allem im ersten der drei Teile durchaus unterhaltsam geschrieben, verliert aber zum Ende hin mit seinem vorhersehbaren Clou an Überzeugungskraft. Dafür ist „Solar“ fraglos das bislang witzigste Werk im Schaffen des Briten geworden.
Leseprobe Ian McEwan - "Solar"

Ian McEwan – „Maschinen wie ich“

Donnerstag, 30. Mai 2019

(Diogenes, 406 S., HC)
Anfang der 1980er Jahre in London: Der 32-jährige Online-Trader Charlie gönnt sich nach dem Verkauf des Familienhauses für 86000 Pfund einen der ersten von insgesamt fünfundzwanzig voll funktionsfähigen künstlichen Menschen. Adam sieht lebensecht aus wie ein türkischer Hafenarbeiter, findet Charlie, und mit seiner überschäumenden Intelligenz, lebensechter Motorik (die ihn auch zu einem guten Sex-Partner avancieren lässt) wird Adam für Charlie nicht nur ein unentbehrlicher Helfer im Haushalt, sondern vor allem zum besseren Trader.
Charlie sieht in seiner neuen Errungenschaft die ideale Möglichkeit, seiner Nachbarin im Stockwerk über ihm, der zehn Jahre jüngeren Studentin Miranda, näherzukommen. Bei der Programmierung seiner Persönlichkeit lässt Charlie Miranda nämlich jede zweite Frage beantworten, doch mit den Fortschritten, die Adam in kürzester Zeit beim Lernen macht, hat Charlie nicht gerechnet. Zwar freut sich Charlie, dass Adam ihm durch seine analytischen Fähigkeiten viel mehr Geld durch den Online-Handel einbringt, als er es selbst je schaffen würde, auf der anderen Seite muss er mitanhören, wie Adam Gefühle für Miranda entwickelt und sie sogar zu ekstatischen Lustschreien animiert, die er selbst von ihr nie zu hören bekam. Doch bevor Charlie so richtig eifersüchtig auf Adam werden kann, der ihn zudem vor Mirandas Lügen gewarnt hat, kommt schon das nächste Großprojekt auf ihn zu: die von Miranda so sehr ersehnte Adoption des Pflegekindes Mark und die Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel aus Mirandas Vergangenheit. Adam hat die Liebe zu Miranda derweil zu neuen Höchstleistungen angetrieben. Er macht sich nicht nur mit der ganzen Weltliteratur vertraut, sondern verfasst in kürzester Zeit auch 2000 Haikus.
„Niemand wusste, was wir da geschaffen hatten. Was Adam und seinesgleichen an subjektivem Leben besaßen, konnte unsereins nicht verifizieren. Wenn das stimmte, dann war er, was man heutzutage gern eine black box nannte – von außen gesehen schien sie zu funktionieren. Viel mehr ließ sich darüber nicht sagen.“ (S. 223f.) 
Mit seinem neuen Roman wagt sich der britische Bestseller-Autor Ian McEwan („Abbitte“, „Kindeswohl“) in den Bereich der Science-Fiction vor und setzt sich - auf gewohnt kluge Weise - mit dem Thema der künstlichen Intelligenz auseinander. Interessanterweise schildert McEwan seine britische Heimat mit dem Beginn des Falkland-Krieg-Desasters in den 1980er Jahren mit großzügiger schriftstellerischer Freiheit. So führt der Falkland-Krieg zum unmittelbaren Ende der Thatcher-Herrschaft, ihr Nachfolger Tony Benn wird aber gleich Opfer eines IRA-Bombenattentats, und die Beatles nehmen noch einmal ein verkitschtes Reunion-Album auf, das auch durch ein imponierendes Sinfonieorchester nicht an Qualität gewinnt. Der britische Mathematiker und Informatiker Alan Turing ist hier nicht 1954 durch Selbstmord von der Welt gegangen, sondern weilt noch unter den Lebenden und hat seinen elementaren Beitrag zur Entwicklung der ersten überzeugenden Generation von Androiden geleistet.
Beeindruckender gerät jedoch die Schilderung, wie Adam es gelingt, sich selbst weiterzubilden und seine Persönlichkeit zu formen, sich nicht nur unbegrenztes Wissen anzueignen und jederzeit abzurufen, sondern auch echte Gefühle und schöpferische Qualitäten zu entwickeln. Damit stiehlt er seinen allzu menschlichen Besitzern zunehmend die Show, führt deren Beziehung durch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn (oder Rachebedürfnis?) in eine folgenschwere Krise. Der Autor gibt so einen interessanten Einblick in ein wahrscheinlich gar nicht allzu fern erscheinendes Szenario, das das Genre der Science-Fiction seit jeher fasziniert hat und vor allem viele Fragen aufwirft – nicht nur zum Verhältnis von Mensch und Maschine, sondern auch der Menschen untereinander.
Leseprobe Ian McEwan - "Maschinen wie ich"

Ian McEwan – „Kindeswohl“

Mittwoch, 5. April 2017

(Diogenes, 224 S., HC)
Die 59-jährige Fiona Maye ist eine angesehene Familienrichterin am High Court in London und seit dreißig Jahren mit dem 50-jährigen Geschichtsprofessor Jack verheiratet. Weil er noch einmal die große Leidenschaft und Ekstase erleben will, bahnt er eine Affäre mit der 29-jährigen Statistikerin Melanie an, will seiner Ehe aber zuvor noch die Chance geben, das alte Feuer wiederzubeleben. Fiona fühlt sich durch diese Konfrontation nur gedemütigt und stürzt sich umso mehr in ihre Arbeit. Insofern trifft es sich ganz gut, dass sie mit einem außerordentlich dringenden Fall betraut wird.
Der 17-jährige Adam Henry ist schwer an Leukämie erkrankt und könnte gerettet werden, wenn er neben der obligatorischen Medikamenteneinnahme auch eine Bluttransfusion bekäme.
Doch das lehnen seine Eltern aus religiösen Gründen streng ab. Bei den Zeugen Jehovas ist es verboten, fremdes Blut „in den Körper aufzunehmen“, wie es ihrer Meinung im griechischen und hebräischen Originaltext der Bibel heißt.
Zwar kann Adam in drei Monaten, wenn er 18 wird, selbst über seine ärztliche Behandlung entscheiden, doch bis dahin liegt es an Fiona, eine Entscheidung zu fällen, ob den Eltern gestattet werden darf, ihren Sohn aus religiösen Gründen qualvoll sterben zu lassen, oder ob dem Krankenhaus als klagende Partei gestattet werden darf, die erforderlichen lebensrettenden Maßnahmen einzuleiten.
„Entweder, dachte Fiona, während ihr Taxi auf der Waterloo Bridge im Stau stand, geht es hier um eine Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs, die sich von ihren Gefühlen zu einer beruflichen Fehlentscheidung hinreißen lässt, oder darum, ob ein Junge durch das Einschreiten eines weltlichen Gerichts dem Glaubenssystem seiner Sekte entrissen wird oder nicht. Beides zugleich schien ihr nicht möglich.“ (S. 99) 
Um sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, ob sich der junge Mann der Konsequenzen seiner Entscheidung (und damit auch der Eltern) in Gänze bewusst ist, besucht Fiona den Patienten im Krankenhaus …
Wie gewissenhaft Fiona Maye mit den Scheidungen, Unterhalts- und Sorgerechtsfällen umgeht, die sie zu verhandeln hat, macht der in London lebende Bestseller-Autor Ian McEwan („Abbitte“, „Am Strand“) in seinem kurzen Roman „Kindeswohl“ mit vielen eindrucksvollen Beispielen deutlich, die die renommierte Juristin in der Vergangenheit verhandelt hat.
Besonders knifflig sowohl in juristischer als auch moralischer Hinsicht gestaltet sich die zeitlich drängende Entscheidung zum Kindeswohl bei dem Zeugen Jehovas Adam, bei dem die gewissenhafte Richterin sogar selbst mit dem todkranken Patienten spricht, um herauszufinden, wie sehr seine Einstellung von der religiösen Erziehung seiner Eltern abhängt, auch wenn sie sein eigenes Todesurteil bedeutet. Fiona fällt schließlich eine Entscheidung, die ungeahnte Konsequenzen mit sich bringt.
Die Stärken von „Kindeswohl“ liegen vor allem in der umfassenden Darstellung der Frage, wie zwischen säkularem und kirchlichem Recht entschieden werden soll, vor allem die minutiös beschriebene Gerichtsverhandlung mit der Argumentation beider Parteien stellt einen außergewöhnlichen Höhepunkt des Romans dar. Dagegen erscheint die weniger tiefgehende Ehekrise eher nebensächlich und weicht die Intensität des lebensbedrohlichen Dramas auf.
Auch die scheinbar wahllose Aneinanderreihung anderer an sich interessanter Fälle aus Fionas Gerichtspraxis wirkt der Dramaturgie der Erzählung etwas entgegen, aber ohne dieses aufbauschende Begleitmaterial wäre „Kindeswohl“ eben nur eine Kurzgeschichte geworden.
Leseprobe Ian McEwan - "Kindeswohl"

Ian McEwan – „Am Strand“

Sonntag, 25. Dezember 2016

(Diogenes, 208 S., HC)
Nach ihrer Trauung in der Kirche St. Mary in Oxford stehen Florence und Edward kurz vor dem Vollzug ihrer Ehe. Noch sitzen sie in der Hochzeitssuite eines georgianischen Landhauses am Strand von Chesil Beach beim Abendessen, doch durch die offene Tür lässt sich bereits ein Blick auf das schmale Himmelsbett erhaschen, auf dem sich Edward am Ziel seiner Träume sieht. Im Jahr 1962 liegt die sexuelle Revolution noch in einiger Ferne, sowohl Edward und Florence können in dieser Hinsicht keine nennenswerten Erfahrungen aufweisen. Während Edward zumindest exzessiv masturbiert, ist seine junge Frau vor allem von Angst und Ekel erfüllt, wenn sie an den bevorstehenden Geschlechtsverkehr denkt.
Für Edward ist es die Erfüllung seiner Träume, endlich mit seiner geliebten Florence auf die intimste Weise vereint zu sein, für Florence dagegen eine mehr als lästige Pflichterfüllung, ein Preis, den sie dafür bezahlen muss, mit Edward zusammen sein zu dürfen. Die Katastrophe ist natürlich vorprogrammiert.
„Und was stand ihnen im Weg? Ihr Charakter und ihre Vergangenheit, Unwissen und Furcht, Schüchternheit und Prüderie, innere Verbote, mangelnde Erfahrung und fehlende Lockerheit, und dann noch der Rattenschwanz religiöser Verbote, ihre englische Herkunft, ihre Klassenzugehörigkeit und die Geschichte selbst. Also nicht gerade wenig.“ (S. 122) 
Bevor es überhaupt zu der von vornherein problembeladenen Vereinigung kommt, spritzt Edward seinen Samen über Florences Leib, die daraufhin von Ekel gepeinigt fluchtartig die Suite verlässt und zum Strand läuft. Edward, selbst zutiefst frustriert von dieser blamablen Episode, eilt ihr hinterher und stellt seine Frau zur Rede, die ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag unterbreitet …
Ian McEwan hat sich bereits mit seinem Debüt, der Kurzgeschichtensammlung „Erste Liebe – letzte Riten“ (1975), als Meister der kurzen Erzählform erwiesen, die er für die meisten seiner Romane nahezu übernommen hat. Mit seinem 2007 veröffentlichten Roman „Am Strand“ erzählt er auf gerade mal 200 Seiten die Geschichte einer desillusionierenden Hochzeitsnacht.
Im Vorfrühling der sexuellen Revolution prallen zwei vollkommen unterschiedliche Erwartungshaltungen zusammen, mit denen ein junges Ehepaar sein „erstes Mal“ miteinander vollzieht, ohne dass vorher darüber gesprochen worden ist. Meisterhaft dringt McEwan in die jeweilige Psyche von Mann und Frau ein, rekapituliert die unausgesprochenen Ängste, Frustrationen und Glücksgefühle, und während der Leser mit Spannung mitfiebert, wie Edward und Florence in dieser prüden Atmosphäre zusammenkommen, unterbricht er die detaillierte Erzählung immer wieder mit Rückblicken aus der persönlichen Entwicklungsgeschichte der beiden Protagonisten, die sich am Ende unversöhnlich gegenüberstehen, wütend mit den Konsequenzen hadernd, mit denen sie sich nun nach ihrer vorhergegangenen Sprachlosigkeit und Unsicherheit auseinandersetzen müssen.
Auch wenn uns in der heutigen aufgeklärten und so offenen Zeit die thematisierte Unbeholfenheit in Sachen Sex merkwürdig und fremd anmutet, gelingt es McEwan souverän, seine Leser mit großem Einfühlungsvermögen in dieses außergewöhnliche Kammerspiel einzuführen und seine durchaus gebildeten Figuren ihr vermeintliches Glück an die Wand zu fahren, weil sie einfach nicht in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu artikulieren.
Leseprobe Ian McEwan - "Am Strand"

Ian McEwan – „Nussschale“

Sonntag, 30. Oktober 2016

(Diogenes, 288 S., HC)
Die achtundzwanzigjährige Trudy ist im achten Monat schwanger, lebt aber von ihrem Noch-Ehemann, dem erfolglosen Dichter und Verleger John, schon seit einiger Zeit getrennt. Dafür liebt sie Johns drei Jahre jüngeren, intellektuell nicht ganz so potenten, dafür aber sexuell umso agileren Bruder Claude. Während John nach wie vor vergeblich versucht, Trudy mit rezitierten Gedichten zurückzugewinnen, reift in ihr und ihrem Geliebten der Plan, den Störenfried aus dem Weg zu räumen, damit ihnen Johns wertvolles, wenn auch heruntergekommenes Haus in bester Londoner Innenstadtlage eine sorgenfreie Zukunft bescheren kann.
Es muss nur ein wenig Glykol in seine so geliebten Smoothies gemischt werden. An einem Selbstmord dürfte in Johns verzweifelter Lage dann niemand zweifeln.
Beobachtet und erzählt wird dieses Komplott aus der Perspektive des ungeborenen Kindes, das sich durch die unzähligen Radiosendungen (mit Vorliebe Reportagen, weniger Musiksendungen), Hörbücher und Podcasts in den schlaflosen Nächten der Mutter ein nahezu akademisch profundes Wissen angeeignet hat, das von Ratgebern („Werde Weinkenner“), Biographien von Dramatikern des 17. Jahrhunderts bis zu Klassikern der Weltliteratur reicht.
Es macht aber auch immer wieder unliebsame Bekanntschaft mit dem Penis des Liebhabers der Mutter, der stets gefährlich dicht an den Schädel des Fötus vordringt, und mit erlesenen Weinen, mit denen sich das Paar abfüllt. Am liebsten möchte das ungeborene Kind seiner Mutter von dem mörderischen Plan abraten.
„Denk doch, möchte ich ihr zurufen, wenn schon nicht an die Moral, dann an die Unannehmlichkeiten: Gefängnis oder Schuldgefühle, möglicherweise auch beides. Überstunden, Wochenend-, Nachtschichten, dein Leben lang. Keine Bezahlung, keine Vergünstigungen, keine Rente, nur Reue. Sie macht einen Riesenfehler.“ (S. 117) 
Ian McEwan ist zwar durch die erfolgreiche Verfilmung seines Romans „Abbitte“ weltberühmt geworden, der mehrfach preisgekrönte britische Autor hat sich aber schon in ebenfalls verfilmten Werken wie „Der Trost von Fremden“ und „Der Zementgarten“ als versierter Erzähler mit psychologischen Scharfsinn erwiesen.
Sein neuer Roman „Nussschale“ steht ganz offen in der Tradition von Shakespeares Drama „Hamlet“, aus dem er eingangs zitiert, schließlich sind auch die beiden Ehebrecher Trudy und Claude Hamlets Figuren Gertrude und Claudius nachempfunden. Interessanter als die Geschichte der mörderischen Intrige ist die Perspektive, aus der das Geschehen erzählt und interpretiert wird. Sieht der Leser von der Unmöglichkeit ab, dass ein ungeborenes Kind solch feinsinnige Beobachtungen und Analysen tätigt, wird er unmittelbarer und stets unerkannter Zeuge eines Verbrechens, dessen gnadenlose Effizienz ebenso erstaunt wie McEwans erzählerische Brillanz.
Dabei spricht aus dem analytisch brillanten, aber letztlich hilflosen Fötus natürlich der Autor selbst, der die Möglichkeit dieser ungewöhnlichen Erzählperspektive nutzt, seinen Kommentar zu den Krisen der Welt (Flüchtlinge, Umwelt, Armut) beizusteuern. Und so funktioniert „Nussschale“ ebenso als eigenwillige Variation des bekannten Brudermord-Themas wie als geschickt inszeniertes literarisches Experiment, dem ein wenig Gesellschaftskritik beigemengt wird.
Leseprobe Ian McEwan - "Nussschale"

Ian McEwan – „Honig“

Sonntag, 17. November 2013

(Diogenes, 463 S., HC.)
Eigentlich wollte die hübsche wie kluge Bischofstochter Serena Frome bei ihrer Vorliebe für das Lesen von Romanen ein gemächliches Englischstudium an irgendeiner Provinzuniversität absolvieren, doch ihr ausgeprägtes Talent für die Mathematik ließ sie nach Cambridge aufs Newnham College gehen, wo sie nur noch ein kleines Licht auf diesem Gebiet war. Während ihrer wenig aufregenden Studienzeit, in der sie immerhin ihre Unschuld verlor und eine Reihe von Liebhabern hatte, las sie weiterhin Bücher und begann für die Wochenzeitschrift „?Quis?“, die ihre Freundin Rona Kemp ins Leben rief, regelmäßige Kolumnen zu schreiben, zunächst Zusammenfassungen der von ihr verschlungenen Romane mit selbstparodierenden Urteilen, dann – als sie mit einem russischen Schriftsteller liiert war – zunehmend ernsthafte antikommunistische Artikel.
Mit Tony Canning tritt schließlich 1972 der Geschichtstutor ihres aktuellen Freundes Jeremy auf den Plan und rekrutiert Serena für den MI5, wo sie allerdings langweiligen Dienst als Büroangestellte der untersten Dienststufe leistet. Doch dann initiiert der MI5 analog zur CIA, die jahrelang kulturelle Projekte in Europa förderte, das Unternehmen „Honig“. Unter dem Tarnnamen und über den Umweg verschiedener vom britischen Geheimdienst finanzierten Stiftungen sollen junge Schriftsteller und Journalisten gefördert werden, die sich öffentlich für die freie Welt engagieren. Serena bekommt den Auftrag, für dieses Projekt Thomas Haley zu begutachten und schließlich zu rekrutieren.
„Ich hatte seinen Hunger nach Anerkennung freigelegt, nach Lob, nach allem, was ich ihm geben konnte. Daran lag ihm wohl am meisten. Seine Erzählungen waren vermutlich, abgesehen vom routinemäßigen Dank und Schulterklopfen irgendeines Redakteurs, sang- und klanglos untergegangen. Wahrscheinlich hatte keiner, zumindest kein Fremder, ihm jemals gesagt, wie phantastisch seine Prosa war. Jetzt hörte er es und erkannte, dass er das schon immer vermutet hatte. Ich hatte ihm eine umwerfende Nachricht überbracht. Wie konnte er wissen, dass er etwas taugte, wenn niemand es ihm bestätigte? Und jetzt wusste er es, es stimmte tatsächlich, und er war dankbar.“ (S. 207) 
Der Coup gelingt, doch indem sie eine leidenschaftliche Affäre mit dem vielversprechenden Autor beginnt, setzt sie einiges aufs Spiel …
Ian McEwan („Abbitte“) hat die interessante Zeit des Kalten Krieges, in der sowohl der demokratische Westen als auch der kommunistische Osten nichts unversucht ließen, die Überlegenheit ihrer Ideologien zu propagieren, als Szenario für eine außergewöhnliche Love- und Agentenstory gewählt und dabei weniger das Spionieren an sich als vielmehr die emotionalen Verquickungen ins Zentrum seines Romans „Honig“ gestellt. Fachkundig bekommt der Leser zwar einen wunderbar unterhaltsam geschilderten Einblick in die politischen Machenschaften und undurchsichtigen Geheimdienst-Praktiken der damaligen Zeit, aber dem britischen Meistererzähler geht es wie immer vor allem darum, wie sich seine Protagonisten in ihrem jeweiligen Umfeld bewegen und was sie zu ihrem Tun antreibt. Mit Serena Frome beschreibt er eine durchweg sympathische Heldin mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die sie durchaus gewinnbringend einzusetzen versteht.
Was „Honig“ dabei auszeichnet, ist nicht nur die sprachliche Geschliffenheit, mit der McEwan minutiös Geschehen und Befindlichkeiten beschreibt, sondern die elegante Verquickung von Realität und Fiktion, wie sie vor allem in den Zusammenfassungen von Haleys Erzählungen und Serenas Interpretationen und Übertragungen auf den Autor zum Ausdruck kommen. Aber auch die fein gesponnene Symbiose aus Spionage-Roman und Liebes-Drama, der immer wieder durchblitzende feine Humor und die überraschenden Wendungen machen „Honig“ zu einem kurzweiligen, tiefsinnigen und amüsanten Lesegenuss.
Leseprobe Ian McEwan - "Honig"