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J. Paul Henderson – „Daisy“

Sonntag, 24. März 2024

(Diogenes, 336 S., HC) 
Mit „Der Vater, der vom Himmel fiel“ und „Letzter Bus nach Coffeeville“ hat der britische Schriftsteller J. Paul Henderson bereits zwei eindrucksvolle Belege seiner Fähigkeiten präsentiert, mit viel Wärme und Feingefühl die Lebensgeschichten einfacher, aber doch irgendwie besonderer Menschen zu erzählen, die der Leserschaft bereits nach wenigen Seiten ans Herz wachsen. Mit seinem neuen Roman „Daisy“ ist Henderson ein weiterer äußerst liebenswerter Wurf gelungen. 
Dass Herod S. Pinkey nach dem Kindermörder Herodes benannt worden ist, stellt nur eine von vielen Kuriositäten und Demütigungen dar, die Herod durch seinen Vater im Leben erleiden musste. Dazu zählt auch der Umstand, dass Herod nach seinem Schulabschluss zwar in der Firma seines Vaters arbeiten durfte, aber nie über einfache Tätigkeiten in der Poststelle oder im Facility Management hinaus gefordert wurde. 
Nach dem Tod seines Vaters und dem Selbstmord seiner Mutter ist Herod, der lieber Rod genannt werden will, ein reicher Mann, der völlig überfordert damit gewesen wäre, die Firma seines Vaters weiterzuführen, und stattdessen praktisch umsonst in einer Galerie zu arbeiten anfängt, um neue Freunde zu finden. Rod kommt auf diese Weise auch an ein paar Dates, doch erst als er seinen Freunden Donald und Edmundo den neuen Fernseher vorführen will, verliebt er sich in Daisy, die in der Gerichtsshow „Judge Judy“ ihren Ex-Freund auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt hat. Rod schaut sich am folgenden Tag wiederholt die Aufzeichnung der Sendung an, wobei er sich nicht daran stört, dass diese selbst bereits vor dreizehn Jahren ausgestrahlt worden ist. 
„Der größte Haken dabei war, dass ich nun zwar Daisy kannte, ganz gleich wie virtuell, sie aber noch nicht einmal ahnte, dass es mich überhaupt gab. Ich wiederum wusste nichts von ihren derzeitigen Umständen: wo sie wohnte, ob sie alleinstehend oder verheiratet war, am Leben oder – Gott bewahre – tot. All dass musste ich natürlich erst in Erfahrung bringen, bevor ich in ein Flugzeug stieg und mich in einem Land, in das ich nie wieder einen Fuß zu setzen geschworen hatte, auf die Suche nach ihr machte.“ (S. 159) 
Tatsächlich engagiert Rod eine Detektei, die wiederum in den USA einen Detektiv auf die Suche nach Daisy Lamprich ansetzt. Zusammen mit seinen beiden Freunden unternimmt Rod schließlich eine abenteuerliche Odyssee in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten… 
Obwohl der Ich-Erzähler Herod „Rod“ S. (für Solomon) Pinkey gleich zu Beginn konstatiert, dass er zu der Sorte Mensch zähle, die nicht gern von sich reden, und in eine Daisy Lamprich verliebt sei, erweist sich Herod auf den folgenden 330 Seiten als sehr eloquenter, humorvoller Chronist seines ungewöhnlichen Lebens. 
Bereits in der Beschreibung seines komplizierten Verhältnisses zu seinen Eltern lässt sich erahnen, dass Herods Biografie einige Stolpersteine bereithält, und Henderson beweist großes Geschick darin, seinen Protagonisten als einen sich selbst nicht allzu ernst nehmenden Lebenskünstler zu portraitieren, der trotz leichter Legasthenie und Schwierigkeiten, Freunde und Anerkennung zu finden, seinen Weg macht und bereit ist, auch unorthodoxe Wege zu seinem Glück einzuschlagen. 
Henderson nimmt sich viel Zeit, um nicht nur Herod mit all seinen liebenswert erscheinenden Schrullen zu charakterisieren, sondern auch dessen Beziehungen zu den Menschen, die ihm am nächsten stehen und die ihn schließlich von England aus auf die Odyssee in den USA begleiten. 
Mit „Daisy“ ist Henderson eine sehr kurzweilige Geschichte über das ungewöhnliche Leben eines Mannes mit einigen Handicaps gelungen, wobei diese immer wieder durch kursiv gedruckte Kapitel umrahmt wird, in denen sich Rod mit seinem Verleger Ric darüber unterhält, wie er die Liebesgeschichte rund um die titelgebende Daisy am besten verpackt. Es ist ein Roman voller liebenswürdiger Charaktere und skurriler Abenteuer, ein Roman voller Fantasie und Mut, seine Träume zu verwirklichen, so unmöglich sie auch erscheinen mögen. Das macht einem vor allem die grandiose Pointe vor Augen. 

J. Paul Henderson – „Letzter Bus nach Coffeeville“

Mittwoch, 4. Mai 2016

(Diogenes, 521 S., HC)
An seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag lässt Eugene Chaney wie jedes Jahr seit seinem Renteneintritt vor sieben Jahren sein Leben Revue passieren und fragt sich, warum er mittlerweile die Einsamkeit der Gesellschaft anderer Menschen bevorzugt. Er denkt aber auch über den Sinn des Lebens, den Tod und den Verlust von geliebten Menschen nach. Doc, wie Gene liebevoll von seinen Patienten und Freunden genannt wurde, trauert noch immer seiner Frau Beth und seiner Tochter Esther nach, die von einem riesigen Donut getötet wurden, erinnert sich an seine verstorbenen Eltern und die beiden Bürgerrechtler Bob und Nancy, die seine besten Freunde werden sollte.
Nancy hatte ihm ganz zu Beginn ihrer Beziehung Gene davon erzählt, dass ihre Mutter und auch schon ihre Grandma an Alzheimer erkrankt waren und sie selbst keine Kinder haben wolle, damit sie die Krankheit nicht weitervererben kann. Schwerer wiegt allerdings das Versprechen, das sie Gene in ihrer ersten Liebesnacht in North Carolina abnimmt: Wenn sie auch die „Krankheit des Vergessens“ bekommen sollte, bringt Doc sie zurück nach Mississippi und leistet ihr Sterbehilfe.
Nachdem Nancy am Morgen darauf spurlos verschwunden war, hört Gene erst über vierzig Jahre später wieder von ihr. Es sei an der Zeit, das Versprechen einzulösen.
„Doc war der Meinung, jeder unheilbar kranke Mensch, dessen Lebensqualität auf dem Nullpunkt angekommen war, habe das Recht, die Umstände seines eigenen Todes selbst zu bestimmen – wann und wie es passieren sollte. Er sah keinerlei Sinn darin, dass Menschen gegen ihren Willen weiterleben mussten. Dazu kam, dass Doc kein gläubiger Mensch und somit auch nicht davon überzeugt war, es würde allein Gott obliegen, wie lange ein Mensch lebte und wie er sein Ende fand.“ (S. 94) 
Nancy will in Coffeeville sterben und ihr Vermögen zu gleichen Teilen an die Schule, an der sie Lehrerin gewesen ist, und an die Alzheimerforschung gehen. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Freund Bob machen sich Doc und Nancy in einem alten Bus auf eine abenteuerliche Reise, die das Trio von Hershey über Nashville, Waltons Mountain und Memphis bis nach Coffeeville führt, wobei noch einige Verwandte und Anhalter der Reise abenteuerliche Momente bescheren.
Der in Amerikanistik promovierte Amerikaner J. Paul Henderson hat sich in seinem Debütroman eines Themas angenommen, von dem er selbst betroffen gewesen ist, da seine eigene Mutter an Alzheimer erkrankt und gestorben war. Doch statt Trübsal zu blasen und über den bedauernswerten geistigen Verfall und den zunehmenden Verlust der eigenen Identität im Verlauf der unheilbaren Krankheit zu lamentieren, nimmt Henderson die Krankheit als Ausgangspunkt für einen Road Trip der besonderen Art.
Hier werden nicht nur die Lebensgeschichten der drei Protagonisten erzählt, sondern viele weitere nahe und entfernte Verwandte und Waisen sorgen für interessante Zwischenstationen und Zwischentöne, die dem ernsten Zweck der Reise meist ganz humorvolle Anekdoten verleihen. So liest sich „Letzter Bus nach Coffeeville“ nicht wie die Heimreise einer Todgeweihten, sondern in leicht fließender Sprache eher wie ein Loblied auf das Leben, auf die Liebe und die Freundschaft.
Leseprobe J. Paul Henderson - "Letzter Bus nach Coffeeville"