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J. R. Moehringer – „Tender Bar“

Samstag, 4. Oktober 2014

(S. Fischer, 459 S., HC)
Seit Steve 1970 die Bar im Herzen der idyllischen Vorstadt Manhasset, siebenundzwanzig Kilometer südöstlich von Manhatten liegend, kaufte und sie nach dem englischen Schriftsteller Charles Dickens in „Dickens“ umbenannte, gibt er seinen Gästen nicht nur den Schutz und den Glanz, den sie wie jeder Amerikaner suchen, sondern lässt sie an diesem egalitären Ort vor allem ihre Einsamkeit vergessen. Es soll einen Gegenpol zu der Welt draußen darstellen, ein Wohnzimmer jener Bilderbuchfamilie, die es nicht gibt. Der siebenjährige John Joseph Moehringer, Jr. wurde nach seinem erfolgreich als Radio-DJ arbeitenden Vater benannt, den seine Mutter verlassen hatte, als er gerade sieben Monate alt war, und der Verlust schmerzt den Jungen so sehr, dass er eine tiefe Verbundenheit zu den Männern entwickelt, die sich regelmäßig im „Dickens“ einfinden. Hier empfängt JR, wie er sich nennt, um nicht mit dem Namen seines Vaters verbunden zu sein, die Geborgenheit und die Ratschläge, die Jungen eigentlich von ihren Vätern bekommen sollten.
JR lernt, woher Smelly, Sooty, Joey D, No-Drip, Bob the Cop und Cager ihre Spitznamen bekommen haben, folgt ihren Diskussionen um Baseballstars und Frauengeschichten. Mit seiner alleinerziehenden Mutter versucht JR immer wieder, aus der Tristesse auszubrechen, die das Leben unter dem Dach seiner Großeltern mit all den Cousinen bedeutet, aber da seine Mutter nie genug verdient, um eine eigene Wohnung auf Dauer zu finanzieren, kehren sie immer wieder zurück. Als JR älter wird, bekommt er ein Stipendium für Yale, doch fühlt er sich im elitären Zirkel all der wohlhabenden Kommilitonen aus gutem Hause wie ein Underdog. Er lernt mit Sidney seine große erste Liebe kennen, die ihn immer wieder wegen anderer Männer sitzenlässt, aber im „Publicans“, wie die Bar nun heißt, findet der nun volljährige JR immer wieder den Mut und die Zuversicht, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen.
„Ich mauserte mich von einem verschwommenen Wesen zu einer wirklichen Person. Onkel Charlie fuhr nicht mehr erschrocken in die Höhe, wenn er mich neben sich stehen sah, und die anderen Männer nahmen mich bewusster wahr, redeten mit mir, brachten mir Dinge bei. Sie brachten mir den richtigen Griff für einen Curveball bei, den richtigen Schwung für ein Neuner-Eisen, die richtige Drehung beim Footballwurf, die Tricks beim Seven-Card Szud-Poker. Sie brachten mir bei, wie man mit den Schultern zuckt, wie man die Stirn in Falten legt, wie man seinen Mann steht. Sie brachten mir Haltung bei und versicherten mir, das Auftreten eines Mannes sei seine Philosophie. Sie brachten mir bei, wie man das Wort ‚fuck‘ benutzt, schenkten mir das Wort wie ein Taschenmesser oder ein gutes Kleidungsstück, wie etwas, das jeder Junge haben sollte.“ (S. 117). 
Der 1964 in New York geborene J. R. Moehringer studierte tatsächlich in Yale und wurde Reporter bei der Los Angeles Times, gewann 2000 sogar den Pulitzer-Preis und veröffentlichte 2005 mit „Tender Bar“ seinen international gefeierten Debüt-Roman. Mit lakonischem, stets selbstironischen Humor und tiefsinnig bewegendem Ton beschreibt Moehringer, wie er den frühen Verlust seines Vaters, den er immer nur als „Die Stimme“ bezeichnet, kompensiert, indem er auf die Stärke seiner Mutter ebenso bauen kann wie auf die weisen Ratschläge all der Männer im „Publicans“.
Wir erfahren, wie der junge JR durch seine „Worte“ den Respekt der Männer erwirbt, wie er durch einen Nebenjob skurrile Buchhändler kennenlernt, die ihn für Yale vorbereiten, wie seine Initialen mit Punkten versehen werden und warum Frank Sinatra eine so große Rolle in seinem Leben spielt. In all diesen biografischen Sequenzen lernen wir nicht nur, wie J. R. Moehringer zu dem Mann geworden ist, der uns schließlich mit diesem wundervollen Roman beglückt, sondern werden auch echten Männern vorgestellt, die auf ihre jeweils einzigartige Weise einen besonderen Einfluss auf das Leben des jungen Mannes genommen haben.
Mit diesem Entwicklungsprozess sind so einige schmerzhafte, aber auch erleuchtende Erkenntnisse verbunden, die „Tender Bar“ bei allem Humor und manchmal tragischen Episoden eine fundamentale Tiefe verleihen, die das Lesen auch zu einem philosophischen Vergnügen macht. Leseprobe J. R. Moehringer - "Tender Bar"

J. R. Moehringer – „Knapp am Herz vorbei“

Sonntag, 4. Mai 2014

(S. Fischer, 444 S., HC)
Nach siebzehn Jahren im Gefängnis kommt der berühmte Bankräuber Willie Sutton an Weihnachten 1969 aus dem Gefängnis frei. Vor den Gefängnistoren tauschen Dutzende von Journalisten Fakten und Geschichten aus der vier Jahrzehnte umfassenden Karriere des Volkshelden aus, der bei seinen Überfällen nie einen Schuss abgab und seine Verbrechen mit der Leidenschaft eines Künstlers ausführte. Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen und spielte Katz und Maus mit Polizisten und FBI-Agenten. Sutton war für seine elegante Kleidung, seine Leidenschaft für gute Bücher und sein schelmisches Lächeln bekannt.
Ungeklärt blieb nur die Frage, ob der für seine Gewaltlosigkeit bekannte Willie the Actor an dem brutalen Mord an Arnold Schuster beteiligt gewesen ist, nachdem sich der meistgesuchte Mann Amerikas und der vierundzwanzigjährige Küstenwachenveteran drei Wochen zuvor in der U-Bahn begegnet waren. Bevor Sutton seine Freiheit so richtig genießen kann, hat er allerdings eine Verpflichtung zu erledigen. Mit dem Flugzeug reist er von Attica nach New York, wo einen Tag lang einen Journalisten und einen Fotografen exklusiv an entscheidende Wegpunkte seines Lebens führt. Schreiber und Knipser sind natürlich vor allem an Suttons möglicher Beteiligung an dem Schuster-Mord interessiert, doch Sutton hat seine eigene Karte mit Punkten skizziert, die es vorher zu besuchen gilt. In der Gold Street in Brooklyn beginnend, wo Sutton am 30. Juni 1901 zur Welt gekommen ist, begleiten die beiden Zeitungsleute Sutton zur Schule, wo er seine beiden Freunde Happy Johnston und Edward Buster Wilson kennenlernte, mit denen er 1919 bzw. 1923 verhaftet worden ist, zu Banken und Geschäften, die er ausgeraubt hat, und zur Promenade auf Coney Island, wo er schließlich seiner großen Liebe Bess begegnete.
„Willie betrachtet Bess. Ihre Augen – Teiche aus Blau und Gold. Er spürt, wie sich die Erde zum Mond neigt. Er beugt sich vor, küsst sie sanft auf die Lippen. Seine Haut kitzelt, sein Blut fängt Feuer. In dieser Sekunde, das weiß er, in diesem unvorhergesehenen Geschenk von einem Augenblick wird seine Zukunft neu geschrieben. Das hier war nicht vorgesehen. Aber es geschieht. Ist wirklich.“ (S. 104) 
Wie schon in seinem gefeierten Debütroman „Tender Bar“ hat Pulitzer-Preisträger J. R. Moehringer auch in seinem zweiten Roman eine wahre Begebenheit als Ausgangspunkt für eine packende Geschichte genommen, deren Lücken er fantasievoll mit Leben gefüllt hat. Während Willie the Actor den beiden namenlosen Zeitungsfritzen seine Lebensgeschichte erzählt, wird die Erzählung immer wieder von Willies Erinnerungen an die rekapitulierte Zeit durchbrochen und ergänzt, so dass Seite für Seite das Portrait eines faszinierenden Mannes entsteht, dessen Dasein letztlich ganz auf die unerfüllte Liebe zu Bess ausgerichtet war.
Suttons Erzählungen wirken dabei so lebendig, dass weder Schreiber noch der Leser an der Wahrheit dessen zweifeln, was Sutton zum Besten gibt. Erst zum Ende hin, als es um den ungeklärten Mord an Arnold Schuster geht, fängt diese Gewissheit zu bröckeln an. Doch ungeachtet dessen, was an dieser farbenfrohen Geschichte wahr oder erfunden sein mag, gefällt „Knapp am Herz vorbei“ vor allem durch die sympathische Hauptfigur, der man leicht abnimmt, dass sie eine Art moderner Robin Hood gewesen ist, vor allem aber ein verzweifelt Liebender, der stets ein großes Faible für die große Literatur hegte.  
Moehringers „Knapp am Herz vorbei“ erweist sich als ein eindringlich geschriebenes Biopic mit toller Beobachtung für die damalige Zeit und feinem Gespür für die sympathischen Figuren.
Leseprobe J. R. Moehringer - „Knapp am Herz vorbei“