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Jonathan Franzen – „Crossroads“

Dienstag, 19. Oktober 2021

(Rowohlt, 826 S., HC) 
Mit schwergewichtigen Romanen wie „Die Korrekturen“, „Schweres Beben“, „Freiheit“ und „Unschuld“ hat sich der US-amerikanische Schriftsteller und Essayist Jonathan Franzen als einer der wichtigsten Stimmen der Gegenwartsliteratur etabliert. Nun legt er mit seinem neuen Roman „Crossroads“ erneut einen imponierend ausschweifenden Familienroman vor – und das ist nur der Anfang seiner „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“ genannten Trilogie. 
Am 23. Dezember 1971 steckt die Familie des protestantischen Pastors Russ Hildebrandt ganz in den Vorbereitungen des Weihnachtsfestes, doch eigentlich sind Russ, seine Frau Marion und ihre Kinder Perry, Clem und Becky mit ihren jeweils eigenen und zwischenmenschlichen Problemen beschäftigt. Das Familienoberhaupt hat es beispielsweise noch immer nicht verwunden, dass ihm der der beliebte Rick Ambrose als Leiter des Jugendprogramms „Crossroads“ den Rang bei den jüngeren Mitgliedern der Gemeinde in New Prospect abgelaufen hat. 
Während Russ in seiner – übrigens von seiner Frau verfassten – Predigten eher von Vietnam und den Navajos redet, bringt sein jüngerer und empathischerer Kollege die Jugendlichen dazu, auf eine durchaus schmerzlich ehrliche, aber auch spirituell bereichernde Weise miteinander umzugehen. Perry, der schon als Jugendlicher Drogen an der Schule vertickte, versackt zunehmend selbst im Drogenrausch und führt das fragile Familiengefüge bis an die Belastungsgrenze. Mittlerweile hat sich Becky nämlich mit dem Musiker Tanner Evans eingelassen, mit dem sie unbedingt nach Europa will, wofür ihre jüngst verstorbene Tante ihr eine großzügige Summe in ihrem Testament hinterlassen hat. Clem wiederum will die moralische Ungerechtigkeit wieder wettmachen, dass er wegen seines begonnenen Studiums nicht nach Vietnam musste, während vor allem weniger privilegierte Schwarze eingezogen wurden. Als Russ einer Siebzehnjährigen anvertraut, dass es in seiner Ehe nicht gut laufe, kommt es fast zum Eklat, wird dieses unangemessen wirkende Geständnis doch fast als sexuelle Belästigung betrachtet. Die Demütigung, die Russ durch diese Ausgrenzung erfährt, schlägt sich auch in seiner Ehe nieder. Während er seiner zunehmend dickeren Frau kaum noch Beachtung schenkt, flüchtet er sich in die Phantasie, mit der zehn Jahre jüngeren Witwe Frances Cottrell anzubandeln, die Russ nur zu gern von ihren rassistischen Vorurteilen befreien möchte, ihr seine liebsten Blues-Platten ausleiht und sie zur Arbeitsfreizeit ins Najavo-Reservat mitnimmt. 
Als Marion von der sich anbahnenden oder schon vollzogenen Affäre erfährt, sehnt sie sich nach ihrer Jugendliebe Bradley zurück, den sie durch ein gedankenloses Manöver vertrieben hatte, macht Diät und sucht ihn nach über dreißig Jahren wieder auf. 
„Sie war nie über Bradley hinweggekommen. Der Mann, in den sie ihr Leben investiert hatte, war zweite Wahl gewesen – so unsicher, wie Bradley selbstbewusst war, so unbeholfen beim Schreiben und zögerlich beim Sex, wie sich Bradley in beidem als großartig erwiesen hatte. Vielleicht hatte sie damals in Arizona einen Mann gebraucht, den sie führen und übertrumpfen konnte, aber die Ehe war längst zu einem bloßen Arrangement verkommen: Als Gegenleistung für ihre Dienste warf Russ sie den Wölfen nicht zum Fraß vor.“ (S. 401) 
Jonathan Franzen legt mit „Crossroads“ nicht nur einen umfangreichen Familienroman über drei Generationen vor. Vielmehr macht er durch die seelischen Nöte einer christlich geprägten Familien Anfang der 1970er in einem fiktiven Vorwort von Chicago die moralischen Konflikte transparent, die jedes einzelne Familienmitglied daran hindern, glücklich zu werden. Stets scheint das, was ein gottgefälliges Leben vermeintlich ausmacht, im Gegensatz zu dem zu stehen, was sich die Protagonisten für sich selbst wünschen. 
So steht für Russ Hildebrandt bei seiner Gemeindefreizeit im Navajo-Reservat auf einmal weniger die Mission im Mittelpunkt, die Teilnehmer einen anderen Blick auf die Ureinwohner zu gewinnen, als die Möglichkeit, möglichst viel Zeit mit der attraktiven Witwe Frances zu verbringen. Und Becky muss als Alleinerbin des Vermögens ihrer Tante entscheiden, ob sie das Geld christlich unter den anderen Familienmitgliedern aufteilen oder wie von ihrer Tante gewünscht einen Trip nach Europa finanzieren soll, wobei immer noch genügend Geld für die ersten Jahre ihrer College-Ausbildung übrigbleiben würde. 
Franzen überlässt es seinen Lesern, sich ein eigenes Bild von diesen Überlegungen und letztlich getroffenen Entscheidungen zu machen. Er selbst agiert als parteiloser, detailliebender Chronist, der tief in das innerste Wesen seiner Figuren eintaucht und so ein wunderbar lebendiges Epos über Liebe und Lügen, Selbstverwirklichung, Sündhaftigkeit und Pflichtbewusstsein, Geheimnisse, Erwartungen und Enttäuschungen erschafft, das man nicht mehr aus den Händen legen mag und dessen Fortsetzung sehnlichst erwartet wird.  

Jonathan Franzen – „Die Korrekturen“

Sonntag, 29. März 2020

(Rowohlt, 782 S., HC)
Der 39-jährige Chip Lambert holt seine Eltern vom LaGuardia Airport in New York City ab, damit sie mit Nordic Pleasurelines eine weitere Kreuzfahrt antreten können, vielleicht die letzte in ihrem Leben, denn Chips Vater Alfred leidet zunehmend unter Parkinson. Dabei sitzen sie noch immer dem Missverständnis auf, dass Chip beim Wall Street Journal arbeitet. Stattdessen liefert Chip, der vor fast zwei Jahren seine Stelle als Assistenzprofessor im Fachbereich Text-Artefakte an einem College in Connecticut wegen eines Vergehens verloren hatte, in das eine seiner Studentinnen involviert gewesen war, nicht honorierte Beiträge für das Magazin Warren Street Journal: Monatsschrift der Transgressiven Künste ab. Seinen Lebensunterhalt verdient er durch einen Teilzeitjob als Korrektor bei einer Anwaltskanzlei, während sein gerade fertiggestelltes – von vor Phallusängsten und Brüsten triefendes - Drehbuch keinen Abnehmer findet. So bleibt ihm nur seine Wohnung in Manhattan und seine hübsche – leider verheirateten - Freundin Julia. Die hat natürlich von seiner Sexsucht bald genug und sucht das Weite. Interessanterweise erhält Chip ausgerechnet von Julias Mann, den litauischen Diplomaten Gitanas, das Angebot, ihn nach Litauen zu begleiten und bei seinem neuen Projekt zu unterstützen, bei dem es um die Gewinnung internationaler Investoren für die – natürlich betrügerische - „Parteigesellschaft Freier Markt“ geht.
Doch auch seine Geschwister haben ihre Probleme. Gary war erfolgreicher Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank, leidet aber unter Depressionen und dem Gefühl, dass sich seine Frau Caroline und seine drei Kinder gegen ihn verschworen haben. Denise scheint es mit ihren 32 Jahren zunächst gut getroffen zu haben, macht als Spitzenköchin Karriere, doch die Ehe mit dem fast doppelt so alten Emile Berger hält nicht. Denise lässt sich von Brian Callahan engagieren, in den Räumen eines alten Kohlekraftwerks ein eigenes Restaurant zu leiten. Doch als sie sowohl mit Brian als auch seiner Frau Robin eine Affäre beginnt und beide davon erfahren, löst sich ihre Karriere in Luft auf. Von all diesen Problemen bekommen Alfred und Enid Lambert auf ihrem Kreuzfahrtschiff nichts mit. Enid ist nur noch von dem innigen Wunsch getrieben, ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest in St. Jude zu feiern …
„Die letzten acht Weihnachten hatte sie im Exil, im fremden Osten, verbracht, und nun fühlte sie sich endlich zu Hause. Sie stellte sich vor, in dieser Landschaft begraben zu werden. Sie war glücklich bei dem Gedanken, dass ihre Gebeine einst an einem Hang wie diesem ruhen würden.“ (S. 665) 
Jonathan Franzen legte 2002 mit „Die Korrekturen“ seinen dritten Roman vor. Seine ersten beiden Werke „The Twenty-Seventh City“ (1988) und „Strong Motion“ (1992) wurden erst nach dem internationalen Erfolg seines dritten Romans in Deutschland veröffentlicht und untermauerten die erzählerische Qualität des 1959 in Western Springs, Illinois, geborenen und nun in New York lebenden Autors. In „Die Korrekturen“ entwirft er ein Familienportrait, das als Querschnitt der amerikanischen Mittelschicht gelesen werden kann. Während Alfred auf eine erfolgreiche Karriere als Bahningenieur zurückblickt, aber seiner Frau nach zwei Jahre zu früh in Pension gegangen ist, kam seiner Frau die Erziehung der Kinder zu, auf die sie keinen Einfluss mehr ausüben, da sie im ganzen Land verstreut ihren eigenen Lebensentwürfen folgen.
Franzen gibt sich viel Mühe, die einzelnen Biografien minutiös und überzeugend auszugestalten. Dabei bildet Chip das unstete Leben im Kreativ-Bereich ab, wirkt durch seine sexuelle Promiskuität, vor allem aber auch durch sein Engagement in Litauen wie eine Karikatur. Weitaus glaubwürdiger ist der Erzählstrang um den Banker Gary ausgefallen, der nicht wie sein Vater allein für das Aufkommen des Familienunterhalts zuständig ist und sich damit gewisse Rechte bei der Ausgestaltung des familiären Lebens herausnehmen könnte, sondern mit Caroline eine selbstbewusste, finanziell unabhängige Frau an seiner Seite hat, die souverän ihre eigenen Interessen zu vertreten versteht und für den größten Widerstand bei den Weihnachtsplänen ihrer Schwiegermutter sorgt.
Denise wiederum reibt sich zunächst im Beruf auf, trifft aber unglückliche Entscheidungen im Bereich ihrer persönlichen Beziehungen, was nicht ohne Folge auf ihre Karriere bleibt. Sie erweist sich allerdings am Ende als die gute Tochter, die sich im Gegensatz zu ihrem Bruder Gary am meisten darum sorgt, wie es mit ihren Eltern weitergeht. All diese Einzelschicksale verwebt Franzen zu einem großen Familienroman, der einerseits den Wechsel im Umgang mit Traditionen von einer Generation zur nächsten nachvollzieht, zum anderen aber auch die Probleme zunehmend individualisierter Lebensentwürfe in einer post-modernen Welt aufzeigt.
Franzen bezieht dabei die Probleme der „New Economy“ ebenso mit ein wie die Schwierigkeit, bei der grenzenlos erscheinenden Auswahl an geschlechtlichen und gesellschaftlichen Rollen seinen eigenen Weg zu finden, ohne die eigenen Eltern mit ihren festen Moralvorstellungen zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Dabei bedient sich der Autor einer wunderbar fließenden, bildgewaltigen Sprache, die viel Humor und Sympathie für die Figuren erkennen lässt.

Jonathan Franzen – „Unschuld“

Dienstag, 29. Mai 2018

(Rowohlt, 830 S., HC)
Die junge Purity „Pip“ Tyler fühlt sich von ihren Studienschulden erdrückt, lebt in einem besetzten Haus in Oakland und hasst ihren Job bei Renewable Solutions, wo sie seit fast zwei als Telefonverkäuferin regelmäßig die wenigsten Kontaktpunkte erzielt und ebenso regelmäßig von dort aus mit ihrer Mutter Anabel telefoniert, die ihr partout nicht verraten will, wer Pips Vater ist.
Als ihre deutsche Mitbewohnerin Annagret ihr ein Praktikum bei der renommierten Enthüllungsplattform Sunlight Project des charismatischen Dissidenten Andreas Wolf vermittelt, reist sie tatsächlich nach Bolivien, weil sie hofft, durch die technischen Möglichkeiten des Projekts die Identität ihres Vaters herauszufinden.
Zwar grenzt sich Andreas Wolf mit dem Sunlight Project von Wikileaks ab, weil er bei seinen Enthüllungen einen moralischen Maßstab verwende, doch seine eigene Vita ist auch nicht frei von Verfehlungen: Der 1960 in der DDR geborene Sohn eines Politbüromitglieds hat nämlich mitgeholfen, den Stiefvater der damals 15-jährigen Annagret zu ermorden, und wird die Erinnerung an diese Tat nie los. Er schickt Pip schließlich zu seinem alten Freund Tom Aberant, dem Gründer und Chefredakteur des Denver Independent, wo sie ein Recherchepraktikum absolviert und eine Zeitlang auch in dem Haus ihres Chefs lebt.
Aberant war einer der ersten Journalisten, der den prominenten DDR-Dissidenten und Systemkritiker Andreas Wolf in Berlin interviewen durfte und sein Vertrauen soweit gewann, dass dieser ihm von seiner unrühmlichen Tat erzählte. Nachdem sich ihre Wege damals getrennt hatten, findet Andreas nun heraus, dass Puritys Mutter eine millionenschwere Erbin des Unternehmers McCaskill ist, aber nichts von dem Geld wissen will und auch ihrer Tochter nichts davon erzählt.
„Das Geld interessierte Andreas nur in dem Maße, als es ihm das Leben erleichtert hätte, etwas davon in die Hände zu bekommen. Aber es war nicht der Grund, warum er weiter durch die Fotos klickte, die er von Purity Tyler fand. Auch ihr Aussehen, obwohl ansprechend genug, erklärte nicht, warum er ein so mörderisches Verlangen nach ihr verspürte.“ (S. 737) 
Jonathan Franzen hat nach seinem Weltbestseller „Die Korrekturen“, der 2001 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, auch mit den nachfolgenden Schwergewichten „Die 27ste Stadt“, „Schweres Beben“ und „Freiheit“ vor allem vielschichtige Familienromane abgeliefert. Mit seinem neuen, wiederum mehr als 800 Seiten umfassenden Roman „Unschuld“ zelebriert der gefeierte amerikanische Romancier dagegen die Zersetzung von familiären Strukturen.
In gewohnt meisterhafter Manier portraitiert Franzen akribisch die schillernden Biografien seiner Figuren, führt über mehr als fünf Jahrzehnte die Fäden zwischen den Personen zusammen, springt zwischen den Zeiten ebenso hin und her wie zwischen Berlin, Bolivien, Texas, Kalifornien und New York, wobei viel von Reinheit – im amerikanischen Original heißt der Roman auch entsprechend wie seine sympathische Heldin „Purity“ – geschrieben wird, aber irgendwie jeder seine moralischen Unzulänglichkeiten mit sich herumschleppt.
Sex und Affären spielen dabei die offensichtlich wesentlichste Rolle, aber auch Spionage-Tätigkeiten, Verrat und Manipulation zählen zu den großen Themen, mit denen sich Franzens Figuren auseinandersetzen müssen. Der Autor nimmt sich viel Zeit für all die komplexen Charaktere, die früher oder später aufeinandertreffen, und beschreibt eindringlich, was das Leben in der DDR oder in den Zeiten der digitalen Revolution mit ihnen gemacht hat, wie die Beziehungen zu ihren Eltern und Geliebten sie geprägt und letztlich die gelegentlich verwerflichen Taten mitverantwortet haben. Trotz einiger Längen ist dieses Psychogramm des modernen gehetzten Menschen so spannend wie ein Thriller zu lesen, die Dialoge einfach filmreif gelungen. Zwar wirkt die harte Abrechnung mit dem DDR-Regime etwas überzogen und die Konstellation der Figuren zueinander etwas sehr konstruiert, aber Franzen erweist sich als brillanter Schöpfer glaubwürdig komplexer Charaktere, die jeweils ihren eigenen, schwierigen Weg finden, ihr Leben zu meistern.
 Leseprobe Jonathan Franzen - "Unschuld"

Jonathan Franzen – „Freiheit“

Dienstag, 19. Dezember 2017

(Rowohlt, 731 S., HC)
Seit Jonathan Franzen mit seinem Familienepos „Die Korrekturen“ 2001 zum internationalen Bestseller-Autor und Liebling der Kritiker wurde, sind in Deutschland seine früheren Werke „Schweres Beben“ und „Die 27ste Stadt“ nachgereicht worden, aber erst 2010 erschien mit „Freiheit“ das mit Spannung langerwartete neue Werk. Unter dem plakativ erscheinenden, weiträumig interpretierbaren Titel präsentiert der gefeierte amerikanische Romancier vor allem eine umfassende Familienchronik, die ihren Ausgang in dem Ehepaar Walter und Patty Berglund nimmt, das vor zwei Jahren von Washington in das St. Paul-Viertel Ramsey Hills gezogen ist. Der Leser erfährt von Pattys erfolgreicher Karriere als Basketballspielerin an der University of Minnesota und Walters Anstellung bei 3M, von den Kindern Joey und Jessica, von denen sich das Mädchen als folgsam und unkompliziert, der Junge als so rebellisch präsentiert, dass er glatt zu den Monaghans in der Nachbarschaft zieht und mit der Tochter Carol eine an sich heiratsfähige, doch auch komplizierte Beziehung eingeht.
Im weiteren Verlauf des Romans lernen wir die einzelnen Familienmitglieder näher kennen, jeden aus seiner eigenen Perspektive, wobei Walter und Patty mit ihrer schwierigen Beziehung definitiv im Mittelpunkt stehen. Denn ausgerechnet Walters bester Freund, der Rockmusiker Richard Katz, lässt sich auf eine Affäre mit seiner Frau ein, die später auf Anraten ihres Therapeuten ihre Erfahrungen in der Autobiographie „Es wurden Fehler gemacht“ niederschreibt und von sich in der dritten Person erzählt. Durch die Affäre und die darauffolgende Trennung verändert sich auch die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, die längst ihren eigenen Weg gehen, Jessica auf unspektakuläre, unkomplizierte Weise, Joey durchaus mit Hang zum unternehmerischen Risiko. Doch vor allem Walter und Patty selbst haben trotz neuer Partner unter ihrer Trennung zu leiden.
„Sie hatte sich unter allen Männern auf der Welt in den einen verliebt, der Walter genauso zugetan war, der genauso auf Walters Wohl bedacht war wie sie; jeder andere hätte versuchen können, sie gegen ihn aufzubringen. Und womöglich schlimmer noch war ihr Gefühl der Verantwortung für Richard, weil sie wusste, dass er in seinem Leben sonst niemanden wie Walter hatte und dass seine Loyalität gegenüber Walter, neben seiner Musik, zu den wenigen Dingen gehörte, die ihn in seinen eigenen Augen als Mensch retteten. All dies hatte sie, in ihrem Schlaf und ihrer Selbstsucht, aufs Spiel gesetzt.“ (S. 234) 
Franzen zeichnet die Lebensgeschichten seiner Figuren sehr akribisch nach, nicht chronologisch, sondern in Zeitsprüngen, die die psychische Konstitution der jeweiligen Persönlichkeit verdeutlichen, immer abwechselnd, so dass keine Figur zu lange aus dem Fokus des Lesers verschwindet.  
„Freiheit“ bedeutet im Kontext der Berglund-Familie vor allem die Freiheit, Fehler zu machen, unter den Konsequenzen jahrelang zu leiden und auch in vielen anderen Belangen, vor allem in beruflicher Hinsicht, zu scheitern. Franzen bringt dem Leser die Figuren dabei so nahe, dass sie Teil der eigenen Familie, der eigenen Lebensgeschichte zu werden scheinen, und auf diese Weise regt der Autor zur Selbstreflexion an. Der familiäre Mikrokosmos, den der Roman so detailliert beschreibt, wird so zur Blaupause der Familienstruktur nach 9/11. Menschen machen schlimme Fehler, geraten auf die schiefe Bahn, bereuen und leisten Abbitte, jeder der Berglunds auf seine Art. Dabei hebt Franzen aber nicht den moralisierenden Zeigefinger, denn er weiß ebenso wie seine Leser, dass Irren allzu menschlich ist. Und so wird auch der Leser geneigt sein, den Figuren ihre Fehler nachzusehen. Nach 730 Seiten ist man so vertraut mit den Berglunds, dass der Abschied schwerfällt. Das gelingt nur den ganz großen Romanen. 
Leseprobe Jonathan Franzen - "Freiheit"

Jonathan Franzen - „Die 27ste Stadt“

Freitag, 4. September 2009

(Rowohlt, 670 S., HC)
Mit seinem letzten Roman „Die Korrekturen“ ist dem amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen eine allseits gefeierte literarische Sensation gelungen, so dass jetzt auch endlich sein 1988 veröffentlichtes Debüt „Die 27ste Stadt“ endlich in deutscher Übersetzung erschienen ist, das bereits Zeugnis von Franzens außergewöhnlicher Erzählkraft ablegt. Er erzählt darin von den besonderen politischen und wirtschaftlichen Konflikten und Intrigen in St. Louis, jener einstmals vielversprechenden Metropole, die noch im Jahre 1870 die viertgrößte Stadt Amerikas war und aufgrund der Abwanderungen der Eliten und des wirtschaftlichen Abstiegs in den 80er Jahren nur noch auf Platz 27 rangierte.
Die Geschichte beginnt mit dem Amtsende von Polizeichef William O’Connell, dessen Nachfolger die 35-jährige Frau S. Jammu antritt, einer zwar in Amerika geborenen, aber lange Zeit der Polizei von Bombay vorstehenden Inderin, deren Auftritt in St. Louis mit großer Skepsis von Medien und Wirtschaftselite beobachtet wird. Unruhen machen sich schnell breit, als erst eine Autobombe explodiert, die beinahe Mr. Hutchinson, den Generalintendanten der Sendeanstalt KSLX das Leben gekostet hätte, dann eine Bombendrohung gegen das gefüllte Footballstadion im Stadtzentrum bei der Evakuierung mehrere Schwerverletzte fordert. Die Polizei ist jedoch ungewöhnlich schnell bei den Krisenherden und löst die Probleme souverän. Schon vermuten einige führende Köpfe der Stadt ein Komplott, und tatsächlich treibt Jammu ebenso ihre Machtspielchen wie die verschiedenen Immobilien-Spekulanten und Bauherren der Stadt. Franzen schildert nicht nur minutiös, amüsant und scharfsinnig die Intrigen, die eine amerikanische Metropole allmählich zugrunde richten, sondern auch das Schicksal der weißen amerikanischen Mittelschicht, die ihrer Träume beraubt wird.

Jonathan Franzen - „Schweres Beben“

(Rowohlt, 685 S., HC)
Seitdem Jonathan Franzen mit seinem Roman „Die Korrekturen“ für eine mittlere literarische Sensation auch hierzulande gesorgt hat, sind zunächst sein Erstling „Die 27ste Stadt“ und nun auch der 1992 verfasste Nachfolger „Schweres Beben“ ins Deutsche übersetzt worden. Der sehr üppige, detaillierte und verschachtelte Roman beginnt mit der Professorenfamilie Holland, die in Evanston, Illinois, aufwuchs, wo der Vater von Louis und Eileen als Professor für Geschichte an der Northwestern University beschäftigt war.
Mittlerweile hat es Eileen nach Cambridge gezogen und Louis gerade erst von Houston nach Somerville, einen ärmlichen Nachbarort von Cambridge, wo er als Radiomoderator jobbt. Da erhält er auch schon einen Anruf von seiner Großmutter Rita, die sich als Esoterikautorin einen Namen gemacht hat und mit der er sich gleich verabredet. Doch da erschüttert Boston ein Erdbeben und tötet Louis’ Großmutter. Was folgt, sind wütende Auseinandersetzungen über das Erbe und problematische Beziehungen zwischen Louis und Lauren einerseits und Louis und der durch das Erdbeben in die Stadt gekommene Seismologin Renée andererseits. Renée macht bald einen Chemiekonzern aus, der für die Erdbeben verantwortlich zu sein scheint, womit die Handlung des vielschichtigen Familienromans durch Krimi-Aspekte erweitert wird und auch eine komplizierte Liebesgeschichte und Weltuntergangsszenarien bereithält. Franzen erweist sich als stilsicherer Erzähler, der es mit seiner Gründlichkeit manchmal etwas zu genau nimmt.