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Marlon James – „Der Kult“

Samstag, 26. Mai 2018

(Heyne, 286 S., HC)
Hector Bligh ist seit 1951 Pastor der Heilig-Grab-und-Evangeliumskirche in dem kleinen jamaikanischen Dorf Gibbeah und wegen seines berüchtigten Alkoholkonsums vor allem als Rumprediger bekannt, und zwar nicht erst seit dem Vorfall mit der vom Teufel besessenen Lillamae Perkins, die ihrem Vater vor zwei Jahren in seinem Bett den Penis abgeschnitten hatte, das mit ihm gezeugte Kind durch den Verzehrt von grünen Papayas loswerden wollte und nicht mal von fünf Diakonen gebändigt werden konnte. Zwei Tage später wurde ihre Leiche im Two Virgin River gefunden.
Gerade als Pastor Bligh am Tiefpunkt seines Lebens zu sein scheint und mit entblößten Geschlechtsteilen bewusstlos am Straßenrand aufgefunden wird, trifft ein schwarz gekleideter Fremder auf seinem Motorrad in der Gemeinde ein. In der Sonntagsmorgenmesse fliegt ein John-Crow-Geier – der gemeinhin als Vorbote des Teufels betrachtet wird - durch das Buntglasfenster und landet tot auf der Kanzel. Wenige Minuten später konfrontiert der Fremde, der sich Apostel York nennt, Bligh mit dessen Sündhaftigkeit und übernimmt kurzerhand die Kontrolle über die Gemeinde und verspricht ihr den Beginn einer neuen Ära.
Tatsächlich sind Gibbeahs Bewohner ganz fasziniert von dem neuen Mann Gottes, der Wunder wirkt, aber auch Rache und Verdammnis predigt. Doch Pastor Bligh, der hinter dem Dorf und jenseits des Flusses bei der Witwe Greenfield Unterschlupf findet, lässt sich auf einen Glaubenskampf mit dem Apostel ein. Nach einem Monat kehrt Bligh in die Stadt zurück und macht die Menschen neugierig …
„Die Leute finden’s komisch, dass nach und nach immer mehr rausgegangen sind und dem Rumprediger zugehört haben. Er hat eigentlich nicht wirklich zu ihnen gepredigt. Er hat für die Straße und den Himmel und für Gott gepredigt. Jemand von denen, die gegangen sind, eine Frau, hat gesagt, wenn er mit ihr spricht, ist das, als würd er glatt durch sie hindurchsprechen. Die Leute sagen, dass der Apostel Hector Bligh nie und nimmer die Kirche überlässt, ganz gleich, wie weiß dessen Anzug zurzeit ist.“ (S. 119) 
Als erster Jamaikaner wurde der mittlerweile in Minneapolis, Minnesota, lebende Schriftsteller Marlon James 2015 für seinen epischen Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichnet, woraufhin Heyne Hardcore das Buch auf für den deutschen Markt veröffentlichte. Zuvor war sein 2005 erschienenes Debüt „John Crow’s Devil“ vom Verlag F. Stülten unter dem Titel „Tod und Teufel in Gibbeah“ als einziges von James‘ Werken auf Deutsch erhältlich gewesen und erfährt nach dem Erfolg des Romans über die geplanten Anschläge auf Bob Marley – unter dem neuen Titel „Der Kult“ - seine zweite Chance darauf, von der hiesigen literarischen Welt gewürdigt zu werden.
James entwirft in seinem ersten Roman das leider nach wie vor hochaktuelle Szenario des Kampfes von selbst ernannten Stellvertretern Gottes auf Erden, die den vermeintlich Ungläubigen die Worte der Bibel predigen, aber deren Bedeutung natürlich nach sehr persönlichen Vorlieben auslegen. Natürlich werden dabei die verschiedensten Dämonen und Hexen beschworen, Sünder werden verstümmelt und getötet, die Biografien der wichtigsten Protagonisten aufbereitet, worunter nicht nur der Pastor und der Apostel fallen, sondern auch die Witwe Greenfield und die Apostel-Gehilfin Lucinda, so dass deutlich wird, aus welchen Gründen die Menschen in Gibbeah der einen oder anderen Stimme Gottes folgen.
Der Autor bedient sich dabei ganz bewusst der furchteinflößenden Bilder und Geschichten aus der Bibel, spielt mit der Angst vor Dämonen, Hexen und schwarzer Magie, vor allem aber mit den ständigen Versuchungen des Fleisches, die Lucinda beispielsweise nur durch heftigste Selbstgeißelung zu bändigen hofft. „Der Kult“ ist ein wirklich packendes Buch, das mit alttestamentarischer Wucht die Verführungskünste des Teufels und die Vielfalt der göttlichen Strafen thematisiert, wobei Marlon James gerade die Fleischeslust in expliziten Bildern beschreibt.
Sein kraftvolles Debüt ist definitiv nichts für zarte Gemüter, macht so aber umso eindrucksvoller deutlich, wie leicht sich Menschen durch charismatische Führer mit verheerenden Folgen auf spirituelle Abwege begeben können. 
Leseprobe Marlon James - "Der Kult"

Marlon James – „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“

Dienstag, 11. April 2017

(Heyne, 858 S., HC)
Am 3. Dezember 1976 stürmen sieben bewaffnete Männer in der Hope Road das Haus des jamaikanischen Reggae-Stars Bob Marley, das im noblen Viertel von Kingston liegt, und eröffnen das Feuer. Während Marleys Manager und Frau jeweils schwer verwundet werden, erleidet der Musiker selbst nur leichte Wunden an Arm und Brust. Scheinbar völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen nimmt er wenige Tage später an einem Friedenskonzert der PNP (People’s National Party) teil.
Die Attentäter selbst und die Hintergründe der Tat konnten bis heute nicht aufgeklärt werden.
Mit seinem dritten, 1985 sogar mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ hat der aus Jamaika stammende und von Schriftstellern wie William Faulkner und James Ellroy beeinflusste Marlon James einen epischen Krimi inszeniert, der aufgehängt an dem Attentat auf Bob Marley vor allem über mehrere Jahrzehnte die komplexen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf der karibischen Insel vor Augen führt.
Allerdings bedient er sich dabei nicht der chronologischen Schilderung eines allwissenden Erzählers, sondern der sehr subjektiven Ich-Perspektive von gut siebzig fiktiven Zeitzeugen, die jeweils verschiedene Puzzlestücke zum Gesamtbild beitragen.
Interessanterweise wird Bob Marley stets nur als „der Sänger“ bezeichnet, auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld, das Jamaika in den 1970er Jahren und danach geprägt hat, wird nicht eingehend beschrieben, sondern erschließt sich nur im Gesamtkontext durch hier und da eingestreute Bemerkungen, in denen es um den Konflikt zwischen der kommunistisch orientierten PNP und der pro-westlichen, ultrakonservativen rechten und von US-Präsident Ronald Reagan unterstützten Jamaican Labor Party (JLP).
Es geht aber auch um Drogen und den Einfluss der CIA, so dass Drogenkuriere, Gangsterbosse, Ghetto-Kids, Prostituierte, Agenten, ein Journalist vom „Rolling Stone“ und Auftragsmörder zu Wort kommen.
Bob Marley wird in diesem Kontext einerseits mythisch als Volksheld überhöht, andererseits als Mischling diffamiert, der sein Volk verraten, an gefälschten Pferdewetten beteiligt gewesen und nur nach Reichtum und Ruhm gestrebt haben soll.
„Da haben wir also den Sänger und zwei Gangster von einer politischen Partei, die er angeblich nicht unterstützt, und sie scheinen so dick befreundet zu sein wie alte Schulkumpel. In den nächsten Tagen wird er gesehen, wie er mit Shotta Sherrif herumhängt, dem Paten der Eight Lanes, der für die andere Partei arbeitet, die andere Seite. Die beiden Oberbosse in einer Woche, zwei Männer, die mehr oder weniger die sich bekämpfenden Hälften von Downtown-Kingston kontrollieren. Vielleicht gibt er ja einfach den Friedensstifter, schließlich ist er bloß ein Sänger. Aber so langsam versteh ich, dass in Jamaika niemand einfach nur irgendwas ist. Da ist was im Busch, ich kann’s schon riechen. Hab ich bereits erwähnt, dass in zwei Wochen gewählt wird?“, lässt beispielsweise der „Rolling Stone“-Journalist Alex Pierce verlauten, der vor allem im 1991 angesiedelten abschließenden Kapitel „Sound Boy Killing“ die Zusammenhänge etwas deutlicher werden lässt. (S. 92)
Bis dahin erlebt der Leser eine wahre Tour de Force an Grausamkeiten jeder Art, an derben Sprüchen und deftigem Humor, an (homo)sexuellen Fantasien und Praktiken, den unterschiedlichsten Sprechweisen und Slang-Ausdrücken wie Bombocloth, Battyman, Brethren, Busha, Naigger, Jamdown und Hataclaps.
Erst in der Gesamtschau entsteht ein ebenso thematisch wie gesellschaftlich vielschichtiges Jamaika-Portrait, dem einige grundlegende Hintergrunderläuterungen für das Verständnis sicher gutgetan hätten, aber durch die unmittelbare, ungeschminkte und facettenreiche Weise, die Hintergründe des Attentats aus unzähligen sehr persönlichen Perspektiven eher unzusammenhängend darzustellen, wirkt „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ sehr authentisch, verwirrend, bewegend, brutal, komisch und lässt damit Jamaika damit in einem Licht erscheinen, das mit bisherigen Vorstellungen über den karibischen Staat gründlich abrechnet. 
Leseprobe Marlon James - "Eine kurze Geschichte von sieben Morden"