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Ross Macdonald – (Lew Archer: 17) „Dornröschen“

Samstag, 9. April 2022

(Diogenes, 390 S., Tb.) 
Zwar hat Ross Macdonald (1915-1983) auch einige eigenständige Romane veröffentlicht (meist unter seinem Realnamen Kenneth Millar), doch berühmt geworden und damit in die Liga von Hardboiled-Autoren wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler aufgestiegen ist Macdonald durch seine 18 Bände umfassende Reihe um den empathischen Privatdetektiv Lew Archer. Der Diogenes-Verlag bringt Macdonalds einflussreiches Wirken durch neu übersetzte und mit je einem Nachwort von Donna Leon versehene Werke wieder verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit. Mit „Sleeping Beauty“ ist 1973 der vorletzte Band der langlebigen Reihe erschienen. Darin geht Archer einmal Verbrechen auf die Spur, deren Wurzeln lange in einer verwickelten Vergangenheit liegen. 
Privatdetektiv Lew Archer befindet sich gerade auf dem Rückflug von Mazatlán nach Hause, als er beim Landeanflug auf Los Angeles einen riesigen Ölfleck vor der Küste von Pacific Point entdeckt, unweit des verheerenden schwarzen Ölteppichs die dafür verantwortliche Bohrinsel. Wie Archer aus der Zeitung erfährt, gehört die Bohrinsel Jack Lennox, der verkündete, das Problem innerhalb der nächsten 24 Stunden aus der Welt geschafft zu haben. 
Da Pacific Point für den Detektiv einen seiner Lieblingsplätze an der Küste darstellt, fährt er nicht zu seiner Wohnung in West Los Angeles, sondern zum Strand, wo er eine junge Frau dabei beobachtet, wie sie einen ölverschmierten Vogel zu retten versucht. Archer nimmt sich der verzweifelten Frau an, die sich als Laurel Russo vorstellt und die Tochter von Jack Lennox ist. Doch kaum ist er mit ihr in seiner Wohnung angekommen, verschwindet sie spurlos – mit einer Flasche voller Schlaftabletten, die sie seinem Arzneischrank entnommen hat. Besorgt macht sich Archer auf die Suche nach Laurel und ruft schließlich ihren Mann an, den Apotheker Tom Russo, der Archer offiziell damit beauftragt, seine offenbar selbstmordgefährdete Frau zu suchen, von der er wieder einmal seit ein paar Wochen getrennt lebt. Archer klappert nach und nach die Menschen ab, die Laurel irgendwie nahestehen, ihre beste Freundin Joyce ebenso wie ihre Eltern Jack und Marian, ihre vermögende Großmutter Sylvia und Toms Cousine Gloria, die kurz davor steht, sich neu zu verheiraten, mit einem derzeit mittellosen Mann namens Harry. 
Besonders interessant entpuppt sich der Besuch bei dem ehemaligen Marine-Captain Benjamin Somerville, der nicht nur als stellvertretender Vorstand von Lennox’ Ölfirma fungiert, sondern mit dessen Frau Elizabeth sich Archer auf eine kurze Affäre einlässt. Für Somerville ist es bereits die zweite Katastrophe, für die er sich verantwortlich fühlt, nachdem er im Zweiten Weltkrieg sein Schiff Canaan Sound und viele Männer bei Okinawa durch einen Brand verloren hatte. Als für Laurel eine Lösegeldforderung über 100.000 Dollar eingeht, überschlagen sich die Ereignisse. Bei der Übergabe des Lösegeldes, das Sylvia Lennox bereitgestellt hat, wird John Lennox ebenso angeschossen wie der Entführer, hinter dem man Laurels früheren Bekannten Harold Sherry vermutet. Dann werden zwei weitere Männer ermordet aufgefunden … 
„Anstatt gleich loszufahren, saß ich eine Weile still in meinem Auto und blickte auf die Stadt hinaus, die sich wie eine leuchtende Landkarte bis zum Horizont erstreckte. Es war schwer, ihre sich ständig verändernde Bedeutung zu erfassen. All die Kringel, Punkte und Rechtecke verlangten, wie ein abstraktes Gemälde, nach Interpretation, und dazu war alles heranzuziehen, was die Erinnerung hergab. Der Gedanke an Laurel, die noch immer in diesem Labyrinth verschollen war, durchzuckte mich wie ein stechender Schmerz.“ (S. 326f.) 
Ross Macdonald schickt seinen engagierten Privatdetektiv Lew Archer ebenso wie seine Leser auf eine wilde Ermittlungs-Achterbahnfahrt, die ihren Ausgang zwar in einem Ölteppich hat, der sich vor der Küste von Pacific Point ausbreitet, vor allem aber in das verworrene Labyrinth einer Familie führt, die nicht erst durch die Katastrophe der Ölverschmutzung vor einer Zerreißprobe steht. Lew Archer muss sich die Puzzleteile der Familienverhältnisse mühsam zusammensuchen. 
Es scheint, als würde Macdonald seinen aufopferungsvoll um Aufklärung kämpfenden Detektiv innerhalb einer einzigen Nacht von Pontius zu Pilatus schicken. Aus den nicht immer aufrichtigen Fetzen der Interviews, die er mit den Mitgliedern der Russo- und Lennox-Familien führt, lassen sich nur schwer die Verantwortlichen ausmachen, für die Ölkatastrophe und das lang zurückliegende Schiffsunglück ebenso wie für die – möglicherweise nur vorgetäuschte – Entführung und die anschließenden Morde. Wieder einmal thematisiert Macdonald die Konflikte zwischen den Generationen innerhalb einer Familie, die Bürde, die Eltern ihren Kindern manchmal aufbürden, und die Kette von Ereignissen, die außereheliche Affären und Geldgier auslösen. 
„Dornröschen“ entwickelt sich nach etwas sperrigem Beginn mit dem Hopping von einem Interview-Partner zum nächsten zu einem echten Pageturner, sobald sich erahnen lässt, welch lang zurückliegende und dunkle Geheimnisse den neueren Verbrechen zugrunde liegen.  

Ross Macdonald – (Lew Archer: 10) „Mutter und Tochter“

Donnerstag, 22. November 2018

(Diogenes, 406 S., Pb.)
Nachdem der Ölmagnat Homer Wycherly von seiner zweimonatigen Luxus-Kreuzfahrt nach Meadow Farms zurückgekehrt ist, engagiert er den aus Los Angeles stammenden Privatdetektiv Lew Archer, um seine einundzwanzigjährige Tochter Phoebe zu suchen. Seit sie sich von ihm am 2. November im Hafen von San Francisco auf dem Schiff verabschiedet hatte, hat sie ihr Studium abgebrochen und ist nicht mehr aufgetaucht.
Das trifft zwar auch auf Catherine, Wycherlys Ex-Frau zu, doch da das Verhältnis zu ihr mehr als angespannt ist, kümmert ihn ihr Verbleib nicht allzu sehr. Tatsächlich untersagt Wycherly dem Detektiv, bei seinen Nachforschungen Kontakt zu Catherine aufzunehmen, deren Unterhaltszahlungen über die Anwälte geregelt werden. Doch da die letzte Begegnung zwischen dem Familienoberhaupt, seiner stark angetrunkenen Ex-Frau und seiner geliebten Tochter in der Schiffskabine beobachtet wurde, kann der akribisch arbeitende Archer gar nicht anders, als sich auf die Suche von Mutter und Tochter zu machen. Dabei reist er nicht nur von einer billigen Absteige zur nächsten, sondern erhofft sich vor allem von Phoebes Onkel und ihrem Freund Bobby wertvolle Hinweise auf den Verbleib der beiden Frauen. Allerdings stößt Archer bei seinen Ermittlungen auf seltsame Ungereimtheiten …
„Eine hartnäckig wiederholte Lüge kann sich seltsam im Gemüt niederschlagen. Was man lange genug behauptet, wird beinahe wahr. Ich ertappte mich dabei, selbst schon fast zu glauben, Phoebe sei meine Tochter. Falls sie tot war, würde ich Wycherlys Verlust mit ihm teilen.“ (S. 169) 
Ross Macdonald veröffentlichte den bereits neunten Band seiner bis heute gefeierten Reihe um den Privatdetektiv Lew Archer 1961, nun erscheint „Mutter und Tochter“ in einer gelungenen Neuübersetzung von Karsten Singelmann und mit einem exklusiven Nachwort von Donna Leon. Einmal mehr taucht der ehemalige Polizist und nun in Los Angeles wirkende Privatdetektiv Lew Archer tief in die Milieus sowohl der Ober- als auch der Unterschicht ein, hat mit Ölbaronen und vereinsamten Frauen ebenso zu tun wie mit schmierigen Kleinganoven und einfachen Hotelangestellten.
Macdonald, der neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler zu den großen amerikanischen Krimi-Autoren des 20. Jahrhunderts zählt, schickt seinen charismatischen Ermittler auf eine auch emotional oft verwirrende Odyssee zu den Orten, an denen sich Phoebe und ihre Mutter nach dem mutmaßlichen Verschwinden aufgehalten haben sollten. Dabei ertappt sich Archer gelegentlich dabei, sich nicht nur als Vater der vermissten Tochter auszugeben, sondern sich auch wie dieser zu fühlen. Und diese Empathie, die Archer für die Menschen empfindet, mit denen er zu tun hat, macht auch „Mutter und Tochter“ zu einem tiefgründigen Lesevergnügen. Denn bei Macdonald geht es nie nicht nur darum, den Täter zu entlarven, sondern auch die Motive des Täters zu ergründen, für die er oft genug Verständnis aufbringt. Der Autor taucht wie immer tief in die Milieus und Figuren ein, mit denen sein Protagonist zu tun hat, stattet seinen raffinierten Plot mit wunderbar pointierten Dialogen und Beschreibungen aus und enthält sich vorschnellen Urteilen über Verdächtige, Opfer und Täter. Die Auflösung gestaltet sich hier einmal mehr als sehr vertrackt, doch dabei geht Archer den Motiven der Beteiligten stets intensiv auf den Grund, gestattet dem Täter am Ende sogar eine Möglichkeit, einen persönlichen Ausweg zu nehmen.
Auf all die Qualitäten in Ross Macdonalds Romanen und speziell in „Mutter und Tochter“ geht auch Donna Leon in ihrem lesenswerten Nachwort ein, wobei sie sich selbst als großer Fan von Ross Macdonald erweist.
Leseprobe Ross Macdonald - "Mutter und Tochter"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 11) „Unterwegs im Leichenwagen“

Montag, 6. November 2017

(Diogenes, 418 S., Pb.)
Kurz bevor die 24-jährige Harriert Blackwell Zugriff auf ihr beträchtliches Erbe erhält, lernt sie in Mexiko den attraktiven Maler Burke Damis kennen und will ihn unbedingt heiraten. Ihr strenger Vater, Colonel Blackwell, ist alles andere als begeistert von den Plänen seiner rebellischen Tochter und setzt Privatdetektiv Lew Archer darauf an, der den Hintergrund von Harriets großen Liebe erkunden und schließlich das geflüchtete Paar auffinden soll.
Recht schnell findet Archer heraus, dass Damis sich bei der Überquerung der mexikanischen Grenze einen neuen Namen zugelegt hat: Quincy Ralph Simpson. Der ursprüngliche Träger dieses Namens wurde kurz zuvor mit einem Eispickel erstochen. Und Damis heißt eigentlich Bruce Campion, der wegen Mordes an seiner Frau gesucht wird. Als Harriets blutbefleckter Hut an einem See gefunden wird, befürchten Archer und Blackwell das Schlimmste. Derweil macht sich Archer auf die Reise durch ganz Kalifornien bis nach Mexiko, um Harriets und Campions Spur zu folgen. Dabei spielt vor allem ein abgerissener Knopf vom Mantel des ermordeten Simpson eine Schlüsselrolle bei der Aufklärung des Falls – sowie ein in der Gegend herumfahrender Leichenwagen, in dem junge Leute die Strände nach der nächsten großen Welle abfahren.
„Eine der Vermutungen war zur Gewissheit geworden, seit ich erfahren hatte, dass der Tweedmantel nahe beim Strandhaus der Blackwells gefunden worden war: Der Fall Blackwell, der Fall Dolly Campion und der Fall Ralph Simpson hingen miteinander zusammen. Dolly und Ralph und wahrscheinlich auch Harriet waren von ein und derselben Hand getötet worden, und der Mantel konnte mich zu dieser Hand führen.“ (S. 307f.) 
Natürlich ist auch bei diesem Fall nichts so, wie es zunächst scheint. Aus der anfangs sicher berechtigten Sorge eines Vaters, dass seine einzige Tochter das naive Opfer eines Erbschleichers werden könnte, entwickelt sich ein vertracktes Geflecht aus einem raffinierten Spiel mit Identitäten, ungeklärten Schwangerschaften und komplizierten Verwandtschaftsbeziehungen, Freund- und Liebschaften, das Archer mit viel Geduld, intensiver Reisetätigkeit und Hartnäckigkeit allmählich zu entschlüsseln versteht. Mit nahezu jeder Begegnung und Befragung erhält Archer ein neues Puzzleteil, bis sich zum Schluss der große, überraschende Zusammenhang ergibt.
Bis dahin erlebt der Leser eine faszinierende Schnitzeljagd, bei der ihm die unterschiedlichsten Figuren mit durchaus eigenwilligem Charakter begegnen, die Archer mit seiner einfühlsamen Art aber zu durchdringen vermag. Wie Donna Leon im Nachwort zur überaus gelungenen Neuübersetzung des 1962 im Original veröffentlichten Krimis feststellt, sind die beschriebenen Beziehungen in dem Roman sehr unausgewogen, Hass und weniger erwiderte Liebe prägen die Atmosphäre. Ross Macdonald erweist sich hier einmal mehr als vollendeter Stilist mit einem ausgeprägten Sinn für lebendige Dialoge und fein gezeichnete Charaktere.
Leseprobe Ross Macdonald - "Unterwegs im Leichenwagen"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 14) „Schwarzgeld“

Montag, 3. Oktober 2016

(Diogenes, 365 S., Pb.)
Als Lew Archer, Privatdetektiv aus Los Angeles, sich im Süden des Countys in einem noblen Tennisclub mit dem vielleicht zwanzigjährigen Peter Jamieson trifft, beauftragt der fettleibige, irgendwie vorzeitig gealtert erscheinende junge Mann den Ex-Cop mit der Suche nach Virginia (Ginny) Fablon. Sie sei im Begriff, eine große Dummheit zu begehen, wenn sie sich mit Francis Martel einlässt, einem Mann, der sich als französischer Aristokrat ausgibt. Dabei sei die Hochzeit zwischen Peter und Ginny, die zusammen aufgewachsen sind, für den nächsten Monat angesetzt gewesen.
Tatsächlich forscht Archer zunächst in der Vergangenheit des Mannes, der Peters Verlobten so den Kopf verdreht hat, und erfährt, dass sich Martel offensichtlich unter wechselnden Namen bei verschiedenen Universitäten eingeschrieben und bereits vor sieben Jahren für kurze Zeit als Aushilfe in dem hiesigen Tennisclub gearbeitet hatte. Zu jenem Zeitpunkt ist auch Ginnys Vater im Meer ertrunken, nachdem er seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte und seinen Selbstmord zwei Tage zuvor in Gegenwart seiner Frau und Tochter angekündigt hatte.
Archer beginnt im Laufe seiner Ermittlungen aber zunehmend daran zu zweifeln, dass es sich bei diesem Unglücksfall um Selbstmord handelte. Die Spur führt Archer schließlich nach Las Vegas, wo Martel scheinbar eine Menge Schwarzgeld abgezweigt hatte und somit auch weitere Interessenten auf sich aufmerksam machte, so zum Beispiel den mittellosen Fotografen Harry Hendricks und seine betörende wie frustrierte Frau Kitty, die hinter Martels Geld her sind.
„Und dann kam mir der Gedanke, dass Ginny und Kitty, zwei Mädchen aus völlig unterschiedlichen Gegenden der Stadt, letztlich eine Menge gemeinsam hatten. Keine von beiden hatte das Missgeschick der Schönheit unbeschadet überstanden. Es hatte sie zu leblosen Wesen gemacht, Zombies in einer toten, öden Welt, ebenso schmerzlich anzusehen wie eine sinnlose Kreuzigung.“ (S. 309) 
Auch wenn Ross Macdonald (1915 - 1983) hierzulande noch nicht so einen großen Namen besitzt wie seine berühmten Kollegen Raymond Chandler und Dashiell Hammett, sorgt der Diogenes Verlag seit einer Weile mit wundervollen Neuübersetzungen seines Werks dafür, dass der Gewinner des Silver (1964) und des Gold Dagger Award (1965) auch zunehmend deutschsprachige Leser erreicht.
Mit dem sympathischen Privatdetektiv Lew Archer hat Macdonald nämlich eine echte Kultfigur erschaffen, die – wie Donna Leon in ihrem Nachwort erwähnt – „das eigene Handeln nicht weniger als das Verhalten anderer nach moralischen Kriterien bewertet“.
Archer nähert sich seinen Fällen ganz unvoreingenommen, verurteilt niemanden, empfindet Mitleid und sorgt sich vor allem um die Frauen, mit denen er es zu tun bekommt, ohne sich auf Affären mit ihnen einzulassen.
„Schwarzgeld“ ist ein klassischer Kriminalroman, bei dem es zunächst anscheinend nur um das Auffinden einer Person geht, bevor vergangene Ereignisse und in den Fall involvierte Personen in einem anderen Licht erscheinen und weitere Morde aufzuklären sind. Wie viele seiner bereits verfilmten Romane (u.a. als „Familiengeheimnisse“, „Killer aus dem Dunkel“ und „Eine Frau für alle Fälle“ sowie die sechsteilige Fernsehserie „Archer“) liest sich auch „Schwarzgeld“ wie ein Drehbuch zu einem Film. Die Handlung wird vor allem durch die überaus lebendigen Dialoge vorangetrieben. Archer ermittelt durch unzählige Gespräche, die er mit Beteiligten und möglichen Zeugen führt und durch die er sehr schnell herausfindet, mit welchem Typus von Mensch er es zu tun hat. Archers Schlussfolgerungen und Beschreibungen sind dabei in brillant präziser Prosa verfasst, ohne überflüssige Worte, dafür voller schöner Vergleiche, die das Lesen einfach zu einem durchgängigen Vergnügen machen.
 Leseprobe Ross Macdonald - "Schwarzgeld"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 17) „Der Untergrundmann“

Dienstag, 17. November 2015

(Diogenes, 363 S., Pb.)
An einem strahlenden Septembermorgen füttert Privatdetektiv Lew Archer gerade seine Buschhäher mit Erdnüssen, als er den Nachbarsjungen Ronny Broadhurst kennenlernt, der mit seiner Mutter vorübergehend in die Wohnung der Wallers eingezogen ist, nachdem sich Jean Broadhurst von ihrem Mann Stanley getrennt hat. Dieser holt Ronny gerade ab, um mit ihm zu Oma Nell nach Santa Teresa zu fahren, mit einer Blondine auf dem Beifahrersitz. Doch bei Ronnys Oma kommen sie nie an.
Als Jean und Lew sich auf die Suche nach Ronny machen, erfährt Archer, dass sich Stanleys Leben ganz um die Suche nach seinem Vater Leo dreht, der vor fünfzehn Jahren mit der Frau eines anderen durchgebrannt sein soll, aber die gebuchte Schiffspassage nach San Francisco nie angetreten hat.
Als auch Stanley ermordet aufgefunden wird, ermittelt Archer auf einmal nicht nur in der Entführung des Braodhurst-Jungen, für die ein halbwüchsiges Paar verantwortlich zu sein scheint, sondern auch in der Mordsache, deren Wurzeln in einem Verbrechen liegen, das bereits vor fünfzehn Jahren begangen worden ist. Je mehr sich Archer mit dieser Geschichte aus Leidenschaften, Lügen, Erpressung und Affären auseinandersetzt, desto verworrener präsentiert sich das Beziehungsgeflecht zwischen allen Beteiligten.
„Ich begann zu ahnen, wo das Problem lag. Ein gar nicht mal seltenes Problem, das entsteht, wenn Familien sich in eine so fade und erstickende Traumwelt einspinnen, dass die Kinder schließlich ausbrechen, um sich an den scharfen Kanten der erstbesten sich bietenden Realität zu wetzen. Oder sich mit Hilfe von Drogen ihre eigene Traumwelt schaffen.“ (S. 135) 
Neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler zählt Ross Macdonald (1915 – 1983) zu den großen Autoren der amerikanischen Kriminalliteratur, und die Neuübersetzung von Karsten Singelmann des im Original 1971 erschienenen Klassikers „Der Untergrundmann“ bei Diogenes zeigt auch eindrucksvoll, warum Macdonald nicht nur ein begnadeter Krimiautor, sondern einfach ein grandioser Erzähler gewesen ist.
Bereits mit der Einführung der klassischen Dreieckskonstellation einer einsamen Frau, des eifersüchtigen Ehemanns und des gut beobachtenden Außenseiters, der unversehens zwischen die Fronten gerät, hat Macdonald einen Konflikt initialisiert, der sich im Verlauf der weiteren Geschichte immer weiter fein verästelt, bis alle Beteiligten irgendwie ihre Wunden zu lecken und lange verborgene Geheimnisse preiszugeben haben.
Mit Lew Archer schuf Macdonald dabei einen sympathischen Protagonisten, der ebenso wie die Menschen, mit denen er in dieser Geschichte zu tun hat, unter großer Einsamkeit leidet, der aber im Gegensatz zu den meisten von ihnen zu großer Empathie fähig ist und vor allem den Frauen stets mit Respekt und oft sogar großer Sympathie begegnet, was für die Kriminalliteratur jener Zeit absolut außergewöhnlich gewesen ist, wie auch Donna Leon in ihrem für die Neuübersetzung extra verfassten Nachwort bemerkt.
„Der Untergrundmann“ zeichnet sich bei allen vertrackten Wendungen, die die Geschichte im Verlauf von zwei ereignisreichen und durch einen verheerenden Waldbrand überschatteten Tagen nimmt, durch eine geschliffene Sprache und großartige Figurenzeichnung aus, wobei die Flammen des Waldbrands nicht nur das Zuhause der Menschen bedrohen, sondern gleichsam als Metapher für die Zerstörung menschlicher Schicksale stehen. Auf die weiteren Neuübersetzungen klassischer Lew-Archer-Romane darf der Krimi- und Literaturfreund deshalb mehr als gespannt sein.