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James Herbert – „Moon“

Sonntag, 14. Mai 2023

(Bastei Lübbe, 304 S., Pb.) 
Obwohl der britische Schriftsteller James Herbert bereits Mitte der 1970er mit „The Rats“ und „The Fog“ seine ersten beiden Horror-Romane veröffentlicht hatte, wurde er in Deutschland erst im Zuge der von Stephen King eingeleiteten Horror-Welle bekannt, auf neben heute noch vertrauten US-amerikanischen Autoren wie Peter Straub, Dan Simmons und Dean Koontz auch einige britische Kollegen wie Clive Barker, Ramsey Campbell und eben James Herbert mitschwammen. Von seinen britischen Weggefährten war der 2013 verstorbene James Herbert sicher der literarisch am wenigsten ambitionierte Schriftsteller, aber zumindest mit seinen ersten beiden Romanen „Die Ratten“ und „Unheil“ verbreitete er doch wenigstens handfestes Grauen. Mit seinem 1985 veröffentlichten Roman „Moon“ lieferte er allerdings eines seiner schwächsten Werke ab. 
Vor drei Jahren hat Jonathan Childes mit seinen Vorahnungen dazu beigetragen, einen Serienmörder dingfest zu machen, auch wenn dieser sich vor seiner Entdeckung bereits selbst gerichtet hatte. Die traumatischen Ereignisse, in deren Verlauf Childes selbst in den Fokus der Ermittler geraten war, ließen seine Ehe mit Fran scheitern, seinen Job als Computer-Spezialisten an den Nagel hängen und vom Festland auf eine Insel fliehen, wo er als Teilzeitlehrer an drei schulischen Einrichtungen den Schülern Computer-Kenntnisse vermittelt. Am La Roche Mädchen-College hat Childes auch die junge Kollegin Aimée „Amy“ Sebire kennengelernt, mit der er eine schwierige Beziehung eingeht, denn Amys einflussreicher Vater ist alles andere als begeistert von der Wahl seiner Tochter. Als Amy aber immer mehr Zeit mit Jonathan verbringt, wird sie auch Zeuge, wie ihr Geliebter von unheimlichen Visionen heimgesucht wird, die ihn einmal fast haben ertrinken lassen, dann ausgerechnet bei einem Diner im Haus ihrer Familie zu einem Ohnmachtsanfall geführt haben. Sie stehen in Verbindung mit neuen Mordfällen, bei denen nicht nur die Organe der Opfer entfernt worden sind, sondern auch Mondsteine eine Rolle spielen. 
Die Vorfälle rufen auch Inspektor Overoy auf den Plan, der angesichts der unangemessenen Medienhetze gegen Childes damals das Gefühl hat, bei ihm etwas gutmachen zu müssen. Ihm Gegensatz zu seinem Insel-Kollegen Robillard vertraut Overoy nämlich den übersinnlichen Begabungen des Lehrers und hofft, mit dessen Hilfe auch die neuen Morde aufklären zu können. Besonders beunruhigt wird Childes schließlich durch Visionen, die seine geliebte Tochter Gabby betreffen… 
„Und nun kehrten die Visionen zurück, brachen in seine Gedanken ein, bestürmten ihn mit neuer Intensität. Nicht zum ersten Mal wunderte er sich über die Boshaftigkeit, die den anderen Geist beherrschte. Für Childes waren die letzten Tage erfüllt gewesen mit äußerster geistiger Konzentration, und allein seine zunehmende Annahme dieser seiner einzigartigen Macht hatte ihm die Kraft für dieses Unternehmen verliehen. Er setzte dem, was er unterbewusst längst kannte, keinen Widerstand mehr entgegen, und dieses persönliche Anerkennen stachelte seine Sinne an und gab seiner rätselhaften Fähigkeit zusätzliche Kraft.“ (S. 273) 
James Herbert lässt „Moon“ mit ein zwei unzusammenhängenden Horror-Szenen beginnen, um dann nahtlos mit dem erneuten Auftreten von Jonathan Childes‘ unheilvollen Visionen anzuknüpfen. Diese unbeholfen wirkende Einführung setzt sich in der dramaturgischen Entwicklung der Geschichte, aber auch in der Charakterisierung der Figuren fort. Während die Beziehung zwischen Childes und Amy den emotionalen Anker von „Moon“ bildet, bleibt alles um die beiden Figuren herum nur Stückwerk. Weder wird die Vorgeschichte von Childes‘ übersinnlichen Fähigkeiten und den Vorfällen vor drei Jahren ansprechend aufgearbeitet, noch gelingt eine atmosphärisch überzeugende Überleitung und Entwicklung der neuen Serienmörder. 
Wie „es“ in den Geist von Childes‘ eindringt und seine eigene Sicht auf die abscheulichen Taten schildert, spottet jeder Beschreibung. Besonders schlimm ist allerdings das vermeintlich actionreiche und spannende Finale ausgefallen. Spätestens hier verliert Herbert seine letzten bis dahin tapfer ausharrenden Leser und bekommt auch nicht mehr die Kurve zu einer sinnvollen Erklärung der Ereignisse. 

 

Stephen King – „Cujo“

Donnerstag, 5. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.) 
Schon früh in seiner schriftstellerischen Karriere hat Stephen King mit Castle Rock eine fiktive Kleinstadt geschaffen, in der viele seiner Geschichten angesiedelt sind, nach der Novelle „Die Leiche“ und dem Roman „Dead Zone – Das Attentat“ auch der 1981 veröffentlichte Roman „Cujo“, der in einer Zeit entstanden ist, als der Autor noch stark alkohol- und kokainsüchtig gewesen war und an die er sich eigenen Angaben zufolge kaum noch erinnern kann. Unter diesen Umständen ist mit ihm mit „Cujo“ ein unterhaltsamer und überwiegend sehr realistischer Horror-Thriller gelungen, der mit einem überschaubaren Ensemble und einer ebenso übersichtlichen Handlung auskommt. 
Wenn man in Castle Rock, Maine, von Ungeheuern spricht, ist damit der Polizist Frank Dodd gemeint, der in den 1970er Jahren sechs Frauen getötet und sich selbst gerichtet hatte, bevor ihn ein Mann namens John Smith identifizieren konnte. 1980 kommt das Grauen in Gestalt eines Bernhardiners in die Kleinstadt zurück. Der Werbefachmann Victor Trenton hat der New Yorker Werbeindustrie den Rücken gekehrt und sich mit seinem Kumpel Roger Breakstone selbstständig gemacht. Doch die Geschäfte von Ad Worx laufen schlecht, der größte Kunde, der Frühstücksflocken-Hersteller Sharp, droht abzuspringen, nachdem ein Farbstoff in den Himbeerflocken für unerwünschte, wenn auch ungefährliche Nebenwirkungen gesorgt hatte. 
Um den Sharp-Etat zu retten, fliegt Vic mit Roger für zehn Tage nach Boston und New York, allerdings kommt die Geschäftsreise mehr als ungelegen, da es um die Ehe von Vic und Donna nicht zum Besten steht. Tatsächlich hat Donna eine Affäre mit dem Dichter und Tennisspieler Steve Kamp beendet, der darüber so erbost ist, dass er Vic über die Affäre informiert. 
Donna fährt mit ihrem vierjährigen Son Tad den Ford Pinto derweil in die Werkstatt von Joe Camber am Rande der Stadt, wo sie das Nadelventil reparieren lassen will. Der Wagen hat es gerade noch bis in die Auffahrt geschafft, danach gibt der Motor kaum noch einen Ton von sich. Joe Camber trifft sie allerdings nicht an, und auch sonst niemanden. Seine Frau Charity ist mit dem gemeinsamen Sohn Brett zu ihrer Schwester Holly gefahren, Joe und sein Freund Gary wurden bereits von Cujo getötet. Der ansonsten liebenswürdige, aber ungeimpfte Bernhardiner wurde bei einer Kaninchenjagd von tollwütigen Fledermäusen gebissen und hat es nun auf die im Wagen eingesperrte FRAU und den JUNGEN abgesehen. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände sitzt Donna mit ihrem Sohn nun in der brüllenden Junihitze in einem defekten Wagen fest, und niemand scheint zu wissen, in welcher Notlage sie sich befinden… 
„Dass Vic für zehn Tage weggefahren war … damit hatte es angefangen. Dass Vic schon heute Morgen anrief, war Zufall Nummer zwei. Wenn er sie nicht erreicht hätte, wäre er gewiss besorgt gewesen und hätte es immer wieder versucht. Er hätte sich gefragt, wo sie sein könnten. Die Tatsache, dass alle drei Cambers nicht zu Hause waren und, wie es schien, über Nacht wegbleiben würden, war Zufall Nummer drei. Mutter, Sohn und Vater. Sie waren alle weg. Aber sie hatten den Hund zurückgelassen. Oh ha. Sie hatten… Plötzlich kam ihr ein grauenhafter Gedanke (…) Wenn sie nun alle tot in der Scheune lagen?“
Zwar beginnt „Cujo“ mit einem Albtraum, der den vierjährigen Tad nachts aufstehen lässt, weil er im Schrank ein Ungeheuer entdeckt zu haben glaubte, und auch wenn dieses Bild immer wieder im Laufe der Handlung neu aufgerollt wird, bleibt dies doch der einzige Verweis auf vage übernatürlich generiertes Grauen. 
Der eigentliche Horror spielt sich nämlich auf dem verlassenen Grundstück der Cambers ab, in dem verzweifelten Überlebenskampf von Donna Trenton und ihrem vierjährigen Sohn Tad, die keine Möglichkeit finden, aus dem liegengebliebenen Ford Pinto zu fliehen, ohne von dem tollwütigen Cujo angefallen zu werden. Um die recht profane Geschichte mit Leben zu füllen, nimmt sich King viel Zeit, die Familienprobleme der Trentons und der Cambers zu sezieren, wobei er ganz seine Stärke ausspielt, das einfache Leben von ganz gewöhnlichen Menschen zu beschreiben und so ein hohes Identifikationspotenzial bei seiner Leserschaft bereitzustellen. 
Was bei den Cambers vor allem wirtschaftliche Nöte sind, die durch einen Lotteriegewinn gerade etwas abgemildert werden und Charity die Reise zu ihrer Schwester ermöglichen, kommt bei den Trentons in Form einer Ehekrise und Affäre zum Ausdruck. King wechselt immer wieder geschickt die Erzählperspektive und damit auch den Ort des Geschehens, versucht auch gelegentlich, die Wahrnehmung des tollwütigen Hundes zu schildern, wenn er von den kleinsten Geräuschen und Gerüchen malträtiert wird und die im Wagen sitzende FRAU und den JUNGEN für sein Leid verantwortlich macht. So gelingt es King, mit einer recht simplen Geschichte, von Beginn an, einen dramaturgisch geschickt konstruierten Spannungsbogen aufzubauen, der sich in einem Finale entlädt, das durchaus überzeugender hätte gestaltet werden können. 
„Cujo“ ist zwar kein Meisterwerk aus der Feder des „King of Horror“, aber doch ein gemeiner, kleiner Reißer, der 1983 von Lewis Teague auch verfilmt worden ist. 

 

Stephen King – „Feuerkind“

Montag, 2. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 479 S., Tb.) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Debütroman „Carrie“ hat sich Stephen King zu einem der meistgelesenen Autoren weltweit entwickelt und gilt bis heute als „King of Horror“, dessen Werke vielfach verfilmt worden sind, vor allem seine Frühwerke – von „Carrie“ und „Brennen muss Salem“ über „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Dead Zone – Das Attentat“ bis zu seinem 1980 veröffentlichten Roman „Firestarter“, der 1984 zunächst von Mark L. Lester mit Drew Barrymore in der Hauptrolle verfilmt wurde und 2022 eine Neuverfilmung erfuhr. 
Ähnlich wie schon in „Carrie“ und „Shining“ thematisiert King in „Feuerteufel“ die übersinnlichen Fähigkeiten eines Kindes. 
Weil er knapp bei Kasse war und die 200 angebotenen Dollar gut gebrauchen konnte, hat Andy McGee während seiner Studienzeit an einem von Dr. Wanless im Auftrag der Geheimdienstorganisation „Die Firma“ durchgeführten medizinischen Experiment teilgenommen, bei dem ihm und anderen Probanden ein Mittel namens Lot Sechs zugeführt worden ist, eine geheime Mischung aus einem Hypnotikum und einem milden Halluzinogenikum. 
Als Folge des Experiments brachten sich allerdings einige Teilnehmer um, seine Freundin Vicky Tomlinson entwickelte leichte Telekinese- und Telepathie-Fähigkeiten, während Andy selbst in die Lage kam, andere Menschen durch seine Gedanken zu beeinflussen. Weitaus stärker kamen die übernatürlichen Fähigkeiten allerdings bei ihrer Tochter Charlie zum Ausdruck, denn sie kann allein mit ihrem Willen Feuer entfachen, was „Die Firma“ näher erforschen möchte. Als sich die McGees allerdings dem Programm entziehen wollen, töten die Agenten Charlies Mutter und zwingen Andy und das Mädchen zur Flucht. Sie lassen sich mit einem Taxi zunächst von New York zum Flughafen nach Albany fahren und landen schließlich in Hastings Glen auf der abgelegen in den Wäldern liegenden Farm von Irv Manders und seiner Frau. 
Als die Agenten sie dort aufspüren, kommt es zu einer Katastrophe, bei der Charlie nicht nur die Hühner in Flammen aufgehen lässt, sondern auch einige Agenten der Firma sowie die Farm selbst. Andy und Charlie fliehen schließlich zur Hütte seines verstorbenen Vaters, wo sie allerdings nur für einen Winter Unterschlupf finden, bis sie von dem einäugigen indianischen Agenten John Rainbird gefasst ins Hauptquartier nach Longmont, Virginia, gebracht werden. 
Unter der Leitung von Captain Hollister werden Andy und Charlie getrennt untergebracht und auf ihre Fähigkeiten getestet. Bei Andy, an dem die Firma weniger interessiert ist, wird nur noch eine schwächer werdende Fähigkeit zur Gedankenkontrolle anderer Menschen festgestellt, so dass sich die Ärzte und Wissenschaftler sich bei ihm darauf beschränken, ihn mit Thorazin ruhigzustellen. Da sich Charly nach den Ereignissen auf der Farm dazu entschlossen hat, unter keinen Umständen mehr Feuer zu entfachen, entwickelt John Rainbird einen eigenen Plan, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen und sie dazu zu bringen, gegen Einforderung von Gefälligkeiten kontrollierte Feuer zu entfachen. Doch damit beginnt Charlie auch, ihre Optionen neu zu überdenken… 
„Die Tests hatten ihren Komplex hinsichtlich des Feuers so weit abgebaut, dass er nur noch einem an vielen Stellen geborstenen Erdwall glich. Die Tests hatten ihr die Praxis vermittelt, die nötig war, um aus einem groben Schmiedehammer ein Instrument zu machen, das sie mit tödlicher Präzision handhaben konnte wie ein Messerwerfer seine Messer. Und die Tests waren für sie ein perfekter Unterricht gewesen. Sie hatten ihr ohne den Hauch eines Zweifels gezeigt, wer hier das Sagen hatte. Sie.“ 
Stephen King hat schon in seinen früheren Romanen ein erstaunliches Talent entwickelt, Psi-Kräfte bei kindlichen und jugendlichen Protagonisten auf glaubwürdige Weise entwickeln zu lassen. In „Dead Zone – Das Attentat“ stürzte der sechsjährige Johnny Smith beim Schlittschuhlaufen und entwickelte daraufhin hellseherische Fähigkeiten, in „Carrie“ litt das titelgebende Mädchen unter dem religiösen Wahn ihrer alleinerziehenden Mutter und konnte mit Gedankenkraft Dinge bewegen. 
In „Feuerkind“ sind es die außer Kontrolle geratenen Experimente mit Drogen, die unterschiedlich stark ausgeprägte Psi-Kräfte hervorriefen und von den Eltern auf Charlie McGee übertragen wurden. King beginnt seinen etwas ausschweifenden Roman mit der Flucht von Andy McGee und seiner Tochter, nachdem Andys Frau ermordet worden ist. In Rückblicken wird die Zeit rekapituliert, in der Andy und Vicky an den Experimenten teilgenommen und ineinander verliebt haben. 
Immer wieder wechselt King auch die Erzählperspektive, springt von der Flucht der McGees zu ihren Verfolgern hin und her, bis auch der clevere John Rainbird zum Ende hin eine zunehmend wichtigere Rolle im Plot einnimmt. 
Was „Feuerkind“ an Plotentwicklung und Spannung vermissen lässt, macht King durch seine einfühlsame Figurenzeichnung wieder wett, auch wenn dabei kaum Grautöne auszumachen sind und die Handlung äußerst vorhersehbar verläuft. 

 

Peter Straub – „Der Hauch des Drachen“

Freitag, 3. Juni 2022

(Bastei Lübbe, 702 S., Tb.) 
Von der allmächtigen Präsenz seines berühmten Kollegen Stephen King überschattet, gelang es Peter Straub leider nie so recht, auch hierzulande ordentlich Fuß zu fassen. Dabei bewies er bereits mit seinen ersten Horrorromanen „Geisterstunde“ und „Schattenland“, dass er zu den echten Größen des Genres zählt. Diese Qualität konnte er in vielen seiner nachfolgenden Werke leider nicht aufrechterhalten, aber die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ machte durchaus deutlich, dass beide Schriftsteller in der gleichen Liga spielen. Noch vor „Der Talisman“ (1984) erschien 1982 mit „Der Hauch des Drachen“ Peter Straubs bis dato epischstes Werk, dessen billig aufgemachte Taschenbuch-Erstauflage bei Bastei Lübbe darüber hinwegtäuscht, dass Straub hier einen fesselnden und stilistisch anspruchsvollen Horror-Roman vorgelegt hat. 
Nach zwölf Jahren, in denen sie in London gelebt haben, beziehen Richard Allbee, ehemaliger Kinderstar der Fernsehserie „Daddy’s Here“, und seine Frau Laura im Mai 1980 ein Mietshaus in Hampstead. Richard hatte ebenso Vorfahren im Patchin County wie Clark Smithfield, der zwei Wochen zuvor mit seiner Frau und seinem Sohn Tabby in ein altes Haus im Kolonialstil in der Hermitage Road eingezogen war. Währenddessen arbeitet der Schriftsteller Graham Williams verzweifelt an seinem neuen Roman, Patsy McCloud verbringt ihre Zeit mit der Lektüre von „War and Rememberance“, und Leo Friedgood befindet sich auf der Interstate 95 nach Woodville, wo er dem Werk von Telpro einen Besuch abstattet. Dort erfährt er, dass ein Gas mit dem Codenamen DRG-16 in großen Mengen ausgetreten sei. Leos Frau Stony angelt sich derweil in einer Bar einen neuen Liebhaber, die Journalistin Sarah Spry schreibt an ihrer Kolumne für die „Hampstead Gazette“. 
Hampstead ist eine relativ junge Stadt. Ihre Wurzeln liegen in den Familien Williams, Smith, Green und Taylor, die 1640 am Beachside Trail siedelten. Fünf Jahre darauf stieß ein Mann namens Gideon Winter hinzu, der sich wegen seiner Rücksichtslosigkeit bald den Namen „Drachen“ einhandelte. Zwei Jahre nach seiner Ankunft raffte eine schreckliche Missernte fast alles Vieh dahin, wenig später waren nahezu alle Kinder tot. Über die Jahre war Hampstead immer wieder von Gewaltausbrüchen heimgesucht worden, die sich ziemlich genau alle dreißig Jahre wiederholen. Auf den Schwingen der sich über Hampstead ausbreitenden tödlichen Gaswolke wird das Böse in der Stadt auf grausame Weise erneut entfesselt. Kinder und Jugendliche ertränken sich im Meer, Herzinfarkte raffen nicht nur ältere Menschen dahin. Die Nachfahren der vier ursprünglichen Familien sind nun wieder allesamt in Hampstead versammelt, so wie Gideon Winter 1924 in der Gestalt des Hummerfischers Bates Krell ebenfalls zurückgekommen zu sein schien, nun hat der Arzt Dr. Van Horne diese Rolle übernommen und bringt die Frauen der Gemeinde um. Williams, McCloud, Allbee und dem jungen Tabby bleibt nicht viel Zeit, um dem „Drachen“ zu zerstören. 
„Das Wesen, das einst Dr. Van Horne war, saß in seinem abgedunkelten Wohnzimmer und schaute in den alten Spiegel, den der Arzt gekauft hatte. Was er in dem Spiegel sah, waren Szenen der Zerstörung und des Ruins – rauchende Trümmer und die Reste zerborstener Wände – die zeitlosen Szenen der Vernichtung. Aufgerissene Straßen, die sich zu unpassierbaren Haufen von Betonbrocken getürmt hatten, Brücken, die in das Wasser gesunken waren, das sie hätten überspannen sollen, noch glühende Aschenhaufen, um die herum Flammen züngelten, wenn ein kalter Wind hindurchfuhr, brodelnder Qualm, wenn der Wind sich wieder legte…“ (S. 424) 
Es ist – zugegeben – nicht ganz leicht, in Peter Straubs 700-Seiten-Epos über die Zerstörung einer Stadt hineinzukommen. Mit der Vorstellung unzähliger Figuren, die im weiteren Verlauf oftmals keine Rolle mehr spielen, weil sie getötet worden sind, und Zeitsprüngen zwischen den 1960er, 1970er Jahren sowie der 1980 spielenden Gegenwart legt Straub einen holprigen Start hin, der seinen Lesern Konzentration und Geduld abverlangt. Doch sobald sich das Geschehen auf das Quartett fokussiert, das am Ende den persönlichen Kampf gegen den „Drachen“ aufnimmt, entfaltet der Autor gekonnt ein apokalyptisches Szenario, in dem die Gaswolke letztlich nur als Katalysator dient, um das Böse zu entfesseln. 
Bei der Art und Weise, wie Zerstörung und Gewalt in Hampstead um sich greifen, erweist sich Straub als äußerst phantasievoll, bringt Slasher-Horror, Zombie-Apokalypse und sogenannte „Triefer“ zusammen, denen man eigentlich mit Mitleid begegnen müsste. Das Finale zieht sich leider ebenso in die Länge wie die Einführung, aber dafür sind Straub die Charakterisierung seiner Figuren wunderbar gelungen, und er versäumt es nicht, die schrecklichen Ereignisse sprachlich anspruchsvoll vor den Augen seines Publikums auszubreiten. Trotz einer Längen und unnötig komplexer Struktur ist Straub mit „Der Hauch des Drachen“ ein nicht nur epischer, sondern überwiegend mitreißender Horror-Roman gelungen, der es mit Kings Epen „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Es“ aufnehmen kann. 

 

Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 1) „Die Blutlinie“

Samstag, 28. Dezember 2019

(Bastei Lübbe, 476 S., Tb.)
Smoky Barrett hat eine rasante Karriere beim FBI hingelegt, nach ihrem Abschluss in Quantico als Jahrgangsbeste schließlich die Zweigestelle der Abteilung CASMIRC (Child Abduction and Serial Murder Investigative Ressources Center) in Los Angeles geleitet. Sie holte sich mit Callie, Alan und James die besten Agenten ins Team und lief in ihrer Abteilung zu Hochform auf. Doch vor sechs Monaten drang ein Mann namens Joseph Sands in ihr Haus ein, fügte ihr vor den Augen ihres gefesselten Mannes Matt mit dem Messer die fürchterlichsten Wunden zu, vergewaltigte sie, tötete sowohl Matt als auch ihre gemeinsame Tochter Alexa, bevor sich Smoky mit einem Kraftakt befreien und ihren Peiniger erschießen konnte.
Nach einer intensiven Therapie beim Psychologen Dr. Peter Hillstead ist sie wieder bereit, ihren Dienst beim CASMIRC zu versehen, doch viel Zeit zum Eingewöhnen hat Smoky nicht: Ein psychopathischer Killer, der sich als direkter Nachfahre von Jack the Ripper sieht, hat in San Francisco nicht nur Smokys alte Schulfreundin Annie King misshandelt und schließlich getötet, sondern auch ihre Tochter Bonnie an die Leiche ihrer Mutter gefesselt, bevor sie nach drei Tagen endlich entdeckt wurde. Wie sein vermeintlicher Vorfahre Jack the Ripper macht sich auch Jack Junior auf die Jagd nach Prostituierten, die wie Annie King in der Regel ihre eigene Porno-Website unterhalten haben. Der Killer sucht die direkte Konfrontation mit Smoky, die er als Pendant zu Inspector Abberline betrachtet, der damals Jack the Ripper gejagt hatte. Dafür bedroht er die engsten Vertrauten der scharfsinnigen Ermittlerin, der allmählich die Zeit davonläuft. Jack Junior geht bei seinen Taten nicht nur äußerst geschickt vor, sondern verübt seine grausigen Verbrechen offensichtlich nicht allein …
„Bei Jack Junior haben wir das gesamt Spektrum physischer Beweise abgegrast, einschließlich der internen IP-Nummern der Provider. Er hat sich maskiert, hat Wanzen und Peilsender angebracht, sich Jünger herangezogen, hat ausgesprochen geschickt agiert.
Und jetzt hängt die Aufklärung des Falls wahrscheinlich von lediglich zwei Faktoren ab. Einem Stück Rindfleisch und einem fünfundzwanzig Jahre zurückliegenden ungelösten Fall, der im VICAP Staub angesetzt hat.“ (S. 416) 
Mit seinem 2006 veröffentlichten Debüt „Die Blutlinie“ hat der US-amerikanische Schriftsteller Cody McFadyen eine überaus charismatische Protagonistin etabliert, die von Beginn an die Sympathien der Leserschaft zu gewinnen versteht. Indem McFadyen seine äußerlich krass entstellte und innerlich starke, aber arg gebeutelte Heldin Smoky Barrett als Ich-Erzählerin das ihr zugefügte Leid rekapituliert und ihre vielschichtigen Empfindungen und Erinnerungen an ihre verlorene Liebe und die kaum vorstellbar brutalen Ereignisse beschreibt, ist das Publikum bereits völlig eingenommen von der taffen Frau, die zwar verständlicherweise auch schon mit dem Gedanken gespielt hat, sich mit ihrer Pistole das Hirn wegzuschießen, aber dann doch lieber zu dem zurückkehrt, was sie am besten kann: Serienmörder zu schnappen. Dabei erweist sich ihr nächster Gegner als raffinierter, selbstbewusster Täter, der den Agenten immer einen Schritt voraus zu sein scheint und seine Opfer aus Smokys immer näheren Umfeld sucht.
McFadyen gelingt es, die Spannungskurve konsequent anzuziehen und dabei tief in die Psyche seiner Figuren einzutauchen und trotzdem die Handlung konsequent voranzutreiben. Die beschriebenen Verbrechen sind nichts für Zartbesaitete und lassen sich locker im Umfeld von „Sieben“ und „Das Schweigen der Lämmer“ ansiedeln. „Die Blutlinie“ wäre ein absolut erstklassiger Thriller geworden, wenn McFadyen sich nicht auf die Konventionen des Genres eingelassen hätte, um einen überraschenden, leider aber auch völlig unglaubwürdigen Täter aus dem Hut zu zaubern. All die Spannung, die der Autor bis zum missglückten Finale so brillant aufgebaut hat, macht er durch diesen viel zu konstruiert wirkenden „Kniff“ wieder zunichte. Davon abgesehen bietet „Die Blutlinie“ aber atemlosen Thrill und eine echte Persönlichkeit als Protagonistin, die es bislang auf vier Fortsetzungen gebracht hat.
Leseprobe Cody McFadyen - "Die Blutlinie"

Stephen King – „Jahreszeiten: Frühling & Sommer“

Dienstag, 27. August 2019

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.)
Ende August 1947 erfuhr der leitende Bankangestellte Andy Dufresne, dass seine Frau Linda mit dem Golfprofi Glenn Quentin eine Affäre hatte. Nach einem heftigen Streit und Lindas Wunsch nach einer Scheidung in Reno wurde das Liebespaar in Quentins Liebesnest erschossen aufgefunden. Die Jury sah es als erwiesen an, dass Dufresne seine Frau und ihren Liebhaber mit je vier Schüssen niederstreckte, nachdem er sich zwei Tage vorher in der Pfandleihe eine Waffe gekauft und eine hohe Lebensversicherung für sich und seine Frau abgeschlossen hatte, durch die er 50.000 Dollar bei einem Freispruch erhalten würde. Stattdessen wurde Andy, der stets seine Unschuld beteuert hat, im Alter von dreißig Jahren zu einer lebenslangen Haft in Shawshank verurteilt, wo er sich mit Red anfreundet, einem Mann, der wegen Mordes an seiner Frau einsitzt und für die Häftlinge alles Mögliche besorgt, Pralinen, Alkohol, Pornomagazine und Scherzartikel.
Andy fragt Red nach einem Gesteinshammer und Poliertüchern, mit denen er Steine bearbeiten kann, dann nach einem Poster mit Rita Hayworth, die über die Jahre anderen Pin-up-Girls wie Jane Mansfield und Raquel Welch weichen muss. Als Andy 1963 durch einen Mitgefangenen einen Hinweis darauf bekommt, dass seine Unschuld bewiesen werden könnte, macht ihm der Gefängnisdirektor Norton allerdings einen Strich durch die Rechnung, und Andy verfolgt ernsthafte Pläne für einen Ausbruch …
„Er hatte fünfhundert Dollar im Arsch stecken, als er reinkam, aber irgendwie hat der Kerl noch etwas anderes mit reingebracht. Vielleicht ein gesundes Selbstwertgefühl oder die Ahnung, dass er auf lange Sicht gewinnen würde … Vielleicht war es auch ein Gefühl der Freiheit, das ihn innerhalb dieser gottverdammten grauen Mauern nicht verließ. Er trug eine Art inneres Licht mit sich herum.“ (S. 50) 
Mit der vier Novellen umfassenden „Jahreszeiten“-Anthologie hat Stephen King 1982 den eindrucksvollen Beweis angetreten, dass er nicht einfach nur der erfolgreichste Horror-Schriftsteller aller Zeiten, sondern einfach ein guter Geschichtenerzähler ist. „Pin-up“ ist eine wunderbare Geschichte über Hoffnung und Freundschaft, und die 1994 durch Frank Darabont erfolgte Verfilmung unter dem Titel „Die Verurteilten“ zählt bis heute fraglos zu den besten Stephen-King-Verfilmungen überhaupt – ohne auch nur eine Spur von übersinnlichen Elementen in sich zu tragen. Stattdessen gibt sich King viel Mühe, den Gefängnisalltag in Shawshank, die Beziehungen der Insassen untereinander eindrücklich zu beschreiben. Am meisten Raum nehmen die Erinnerungen des Ich-Erzählers Red über Andy Dufresne ein, der sich mit seiner ernsten, unaufdringlichen Art nicht nur gegen die sexuellen Übergriffe der „Schwestern“ zur Wehr gesetzt hat, sondern auch die Bestände der Bibliothek aufgestockt den Wärtern bei ihren Steuererklärungen und Investitionsplänen ausgeholfen hat.
In „Der Musterschüler“ entdeckt der 13-jährige Todd Bowden, dass sein Nachbar Arthur Denker der gesuchte NS-Verbrecher Kurt Dussander ist. Nachdem er ihm eine Zeitlang hinterherspioniert und Fotos von dem ehemaligen Kommandanten des Vernichtungslagers Patin gemacht hat, stellt er ihn zuhause zur Rede und erpresst ihn dazu, ihm alles über die begangenen Verbrechen zu erzählen. Todd ist so fasziniert von den Erzählungen des alten Mannes, dass seine zuvor hervorragenden schulischen Leistungen darunter zu leiden beginnen. Die Beziehung zwischen Todd und Dussander entwickelt eine gefährliche Eigendynamik, denn beide beginnen unabhängig voneinander, Obdachlose zu töten … „Der Musterschüler“, 1998 von Bryan Singer verfilmt, fesselt vor allem durch die psychologische Spannung, die zwischen dem bislang unentdeckten Kriegsverbrecher und dem neugierigen Jungen über die Jahre entsteht, bis aus dem Jungen ein junger Mann wird, der durch die Erzählungen des Alten selbst zum Morden animiert wird. 

Stephen King – „Jahreszeiten: Herbst & Winter“

Montag, 26. August 2019

(Bastei Lübbe, 332 S., Tb.)
Vern Tessio, Teddy Duchamps, Gordie Lachance und Chris Chambers verbringen im Sommer 1960 ihre Ferien überwiegend in einem Baumhaus auf einem unbebauten Grundstück in Castle Rock, wo sie Blackjack mit niedrigen Einsätzen spielen und „Master Detective“-Mordgeschichten lesen. Doch die Ferienroutine wird auf aufregende Weise unterbrochen, als Vern eines Nachmittags völlig aufgelöst am Baumhaus eintrifft und seinen Freunden von dem Gespräche berichtet, die sein Bruder Billy mit dessen Freund Charlie Hogan geführt hat: Offensichtlich haben sie den vor drei Tagen im vierzig Meilen entfernten Chamberlain verschwundenen Junge Ray Brower im Wald bei den Bahngleisen an der Harrow Road gefunden und darüber beraten, wie sie sich nun verhalten sollen. Die vier Freunde wissen jedenfalls, was sie zu tun gedenken: Sie erzählen ihren Eltern, dass sie gemeinsam zelten wollen, und machen sich auf den Weg zu der vermeintlichen Leichenfundstelle. 
„Wir waren alle ganz verrückt danach, die Leiche des toten Jungen zu sehen – einfacher und ehrlicher kann ich es nicht ausdrücken. Ob sie nun ganz harmlos aussehen oder uns mit tausend scheußlichen Träumen den Schlaf rauben würde, war uns gleichgültig. Wir wollten die Leiche sehen. Langsam waren wir so weit, dass wir glaubten, wir hätten es verdient.“ (S. 157) 
Allerdings sind die vier Jungs nicht die einzigen, die nach Browers Leiche suchen, auch Billy und Charlie machen sich mit ihrem Wagen auf den Weg zurück zu ihrem Fund …
Als sich Stephen King nach der erfolgreichen Veröffentlichung seines ersten Romans „Carrie“ mit seinem Redakteur Bill Thompson über ein mögliches zweites Buch sprach, hatte King bereits zwei Manuskripte fertig, von denen „Brennen muss Salem“ als nächster Roman erscheinen sollte – auch wenn Stephen King damit möglicherweise als Horror-Schriftsteller abgestempelt sein würde. Mit seinen nachfolgenden Romanen „Shining“, „Dead Zone – Das Attentat“, „The Stand – Das letzte Gefecht“, „Feuerkind“ und „Cujo“ bewies King schließlich, dass ein Schriftsteller auch nur mit Horrorgeschichten sein Geld verdienen kann, allerdings wollte er auch demonstrieren, dass er nicht nur solche Geschichten schreiben kann.
Mit „Jahreszeiten“ veröffentlichte King 1982 vier Novellen, mit denen der Autor bewies, dass er einfach ein begnadeter Geschichtenerzähler ist, der nicht auf übersinnliche Elemente zurückgreifen muss, um Spannung zu erzeugen. Aus dem ursprünglichen Paperbackband „Frühling, Sommer, Herbst & Tod“ wurden später zwei Taschenbücher, von denen „Die Leiche“ und „Atemtechnik“ im zweiten Band Verwendung fanden. „Die Leiche“ stellt eine wunderbare Coming-of-Age-Geschichte des Ich-Erzählers Gordie Lachance dar, der seine Erinnerungen an den erschreckenden Leichenfund mit zwei Geschichten garniert, die er nicht nur seinen Freunden unterwegs zum Besten gibt, sondern auch Zeugnis von seinen frühen Schriftsteller-Bemühungen ablegen. Vor allem beweist King mit dieser 1986 auch wunderbar von Rob Reiner verfilmten Geschichte, wie einfühlsam er sich in die Befindlichkeiten von Jungen in den 1960er Jahren hineinversetzen kann, um ihre viel zu frühe Begegnung mit dem Tod zu thematisieren.
Etwas drastischer geht es in der nur knapp 100 Seiten umfassenden Geschichte „Atemtechnik“ zu, in der ein New Yorker Anwalt erzählt, wie er in einen Herrenclub aufgenommen wird, in dem Männer sich zu lockeren Gesprächen treffen und vor allem am Donnerstag vor dem Weihnachtsabend unheimliche Geschichten erzählen. In diesem Fall gibt der Ich-Erzähler die Geschichte wieder, in der der Arzt Emlyn McCarron davon erzählt, wie er eine junge Frau auf die Geburt ihres Kindes vorbereitete, wobei er ihr eine besondere Atemtechnik beibringt, die später tatsächlich bei der ihrer Entbindung eine entscheidende Rolle spielen wird …
Auch mit „Atemtechnik“ demonstriert King, wie er sein Publikum im Nu zu fesseln versteht, und das überraschende wie erschreckende Finale bleibt dem Leser lange im Gedächtnis, auch wenn die Story gegenüber den anderen drei hervorragenden Novellen der Gesamt-Anthologie abfällt.

Stephen King – „Christine“

Samstag, 19. Mai 2018

(Bastei Lübbe/Heyne/Weltbild, 703 S., HC)
Arnie Cunningham und Dennis Guilder wuchsen im gleichen Wohnblock in Libertyville auf und sind seit der Grundschule miteinander befreundet. Während Dennis als Kapitän der Football- und Baseballmannschaft und Ass der Schulschwimmstaffel auch auf der Highschool immer eine gute Figur machte, musste er seinen pickelgesichtigen, zu kurz geratenen und schmächtigen Freund davor bewahren, als geborener Verlierer ständig verprügelt zu werden. Nur als Mechaniker hatte Arnie wirklich Talent, doch konnten seine Eltern, die beide an der Universität in Horlicks lehrten, sich nicht vorstellen, ihren einzigen Sohn in einer Autowerkstatt arbeiten zu lassen. Die Freundschaft zwischen Arnie und Dennis wird im Jahr 1978 allerdings einer harten Bewährungsprobe unterzogen, als sich der 17-jährige Arnie in einen 1958er Plymouth Fury verliebt, der zwar in einem erbärmlichen Zustand ist, den er aber mit Begeisterung für 250 Dollar dem pensionierten Berufssoldaten Roland D. LeBay abkauft, den Namen „Christine“ vom Vorbesitzer übernimmt und ihn in dem Garagen- und Werkstattbetrieb von Will Darnell zu restaurieren beginnt.
Dennis bekommt seinen Freund kaum noch zu sehen. Die Fortschritte, die Christines Restaurierung macht, sind allerdings bemerkenswert, und mit ihr macht auch Arnie eine erstaunliche Veränderung durch. Aus dem ehemaligen Verlierer wird ein überraschend gutaussehender junger Mann mit glattem Teint und kräftiger Statur, der sogar den Highschoolschwarm Leigh Cabot als Freundin gewinnt. Arnie zieht nicht nur den Neid und Zorn der Gang von Buddy Repperton auf sich, die eines Nachts Christine auf dem Parkplatz am Flughafen schrottreif demolieren, sondern auch die Sorgen seiner Eltern, Leigh und Dennis.
Als nach und nach Buddy Repperton und seine Jungs brutal auf der Straße ermordet werden, geraten Arnie und seine Christine zwar in den Fokus der Ermittlungen von Detective Rudolph Junkins, doch Arnie kann für jede Tat ein stichfestes Alibi aufweisen, und an Christine in nicht der kleinste verdächtige Kratzer zu entdecken. Die unheimlichen Vorfälle, an denen der Plymouth Fury beteiligt zu sein schien, häufen sich allerdings, und nachdem Leigh beinahe an einem Stückchen Hamburger in dem Wagen erstickt wäre, machen sich Dennis und Leigh daran, das Geheimnis von Christine aufzudecken. Doch dafür begeben sich die beiden in höchste Gefahr.
„Es gibt keine Möglichkeit zu unterscheiden, was wirklich war und was meine Fantasie hinzugedichtet haben könnte; es gibt keine Trennungslinie zwischen objektiver Wahrheit und subjektiver Sicht, zwischen Realität und grausiger Halluzination. Aber es war nicht Trunkenheit; das kann ich Ihnen versichern. Sollte ich etwas angesäuselt sein, so verflüchtigte sich dieser Zustand sofort. Was folgte, war ein stocknüchterner Trip durch das Land der Verdammten.“ (S. 580) 
Als Stephen King „Christine“ 1983 veröffentlichte, war er schon längst ein gefeierter Bestseller-Autor, dessen Bücher „Carrie“, „Shining“, „Brennen muss Salem“, „Dead Zone“ und eine Sammlung von Kurzgeschichten unter dem Titel „Die unheimlich verrückte Geisterstunde“ bereits von renommierten Regisseuren wie Stanley Kubrick, Brian De Palma, David Cronenberg und George A. Romero verfilmt worden waren. So nahm sich John Carpenter noch vor Veröffentlichung von „Christine“ der Geschichte an, stellte seine Verfilmung ebenfalls 1983 fertig und verhalf so dem Roman zu zusätzlicher Popularität. Das 700-Seiten-Werk hat es auch wieder in sich.
Wie schon in früheren Werken lässt King auch hier das übernatürliche Grauen in Form ganz gewöhnlicher Menschen und Dinge in einer an sich unauffälligen Kleinstadt auftreten. Dabei lässt er den größten Teil des Romans aus der Perspektive von Arnies bestem Freund Dennis erzählen, der seine Erinnerungen aus einer zeitlichen Distanz von fünf Jahren dokumentiert. King nimmt sich viel Zeit, die Atmosphäre der ausgehenden 1970er Jahre und das feste Band der Freundschaft zwischen Arnie und Dennis zu schildern, vor allem aber die Veränderungen, die sowohl Christine als auch ihr Fahrzeughalter Arnie durchmachen. Zwar weist der Roman durchaus Längen auf, aber wie der „King of Horror“ ganz langsam die Spannungsschraube anzieht und den Fokus auf die Verbindung zwischen LeBay, Arnie, Dennis und Leigh legt, ist einmal mehr einfach nur meisterhaft. 
Leseprobe Stephen King - "Christine"

Stephen King – „The Green Mile“

Sonntag, 6. Mai 2018

(Bastei Lübbe/Heyne/Bertelsmann, 479 S., HC)
Der schwarze Hüne John Coffey wird im Jahre 1932 wird eines Tages mit den blutüberströmten Leichen der beiden minderjährigen Detterick-Zwillingen in den Armen von seinen Verfolgern aufgefunden und nach kurzer Verhandlung zum Tode verurteilt. Als er in Block E, den Todestrakt des Gefängnisses in Cold Mountain eintrifft, wo Oberwärter Paul Edgecombe den Trupp von meist vier oder fünf Wärtern anführt, muss er sich ebenso wie die anderen Kandidaten darauf gefasst machen, irgendwann die nach dem grünen Linoleumfußboden benannte Green Mile entlangzuschreiten, auf Old Sparky Platz zu nehmen und dann wie ein Truthahn geröstet zu werden.
Doch während der einfältig wirkende Coffey – wie das Getränk, nur anders geschrieben – ganz harmlos zu sein scheint, müssen sich Edgecombe und seine Kollegen Dean Stanton, Harry Terwilliger, Brutus „Brutal“ Howell vor allem mit dem böswilligen, mit dem Gouverneur verwandten Wärter Percy Wetmore und dem ebenso bösartigen Gefangenen William „Billy the Kid“ Wharton herumschlagen, der keine Gelegenheit auslässt, die Wärter zu schikanieren. Für launige Abwechslung sorgt immerhin Dr. Jingles, die kleine Maus des französischen Mörders Eduard Delacroix, der ganz aus dem Häuschen ist wegen der Kunststücke, die er dem niedlichen Nagetier beigebracht zu haben glaubt. Doch dann geraten die Dinge außer Kontrolle: Erst versaut Percy Wetmore die Hinrichtung des Franzosen, dann zerquetscht er auch noch die gewiefte Maus unter seinen Schuhen. Doch wie schon zuvor, als Coffey die hartnäckige und schmerzhafte Blasenentzündung von Paul Edgecombe in sich aufgesogen hatte und dann wie schwarze Insekten ausspie, heilt er nun auch Mr. Jingles auf unerklärliche Weise.
Edgecombe ist von den mysteriösen Kräften des schwarzen Riesenbabys so fasziniert, dass er hofft, auch Melinda, die todkranke Frau von Gefängnisdirektor Hal Moores, heilen zu können. Doch dazu muss er seine Kollegen zu einem riskanten Unterfangen überreden …
„Ich kannte Melinda besser, als sie sie kannten, aber letzten Endes vielleicht nicht gut genug, um die Jungs zu bitten, ihre Jobs für sie aufs Spiel zu setzen. Ich hatte zwei erwachsene Kinder, und ich wollte natürlich nicht, dass meine Frau ihnen schreiben musste, dass ihrem Vater der Prozess gemacht und er verurteilt wurde als … nun, was würde es sein? Ich wusste es nicht mit Sicherheit. Anstiftung und Beihilfe zu einem Fluchtversuch war das Wahrscheinlichste.“ (S. 297) 
Stephen King war fasziniert von der Idee, sich ähnlich wie einst Charles Dickens an einem Fortsetzungsroman zu versuchen, der 1996 in einem Abstand von jeweils einem Monat zunächst in sechs Einzelbänden erschien und 1999 schließlich als Roman in einem Band veröffentlicht wurde. Die Geschichte von „The Green Mile“ wird aus der Perspektive des Oberwärters Paul Edgecombe erzählt, der seine Erinnerungen in einem Altenheim zusammenträgt und dabei ebenso von einem widerwärtigen Pfleger drangsaliert wird wie er und seine Kollegen damals von Percy Wetmore. Stephen King hat mit „The Green Mile“ sicher eines seiner eindringlichsten Werke verfasst, das 1999 auf kongeniale Weise von Frank Darabont verfilmt wurde, nachdem dieser bereits fünf Jahre zuvor Stephen Kings Kurzgeschichte „The Shawshank Redemption“ ebenfalls meisterhaft für die große Leinwand adaptiert hatte. Auf unnachahmlich lebendige Weise beschreiben King bzw. sein Ich-Erzähler die Umstände von John Coffeys Verhaftung und den Lebensumständen im Todestrakt des Gefängnisses von Cold Mountain, wobei sich humorvolle Momente immer wieder in die Schreckensszenarien der Hinrichtungen einfügen. Einfühlsam ist vor allem die Beziehung zwischen Edgecombe und Coffey beschrieben, nervenaufreibend die Durchführung der Exekutionen und aufwühlend die Bemühungen der Wärter, das Leben der unauffälligen Gefangenen so angenehm wie möglich zu gestalten. Geschickt hält King die Spannung über die sechs Einzelbände aufrecht, wartet mit einem feinen Cliffhanger auf, der bei der Lektüre des vollständigen Romans natürlich nicht mehr ganz seinen ursprünglichen Zweck erfüllt, aber so immer wieder dramaturgische Höhepunkte setzt.
Leseprobe Stephen King - "The Green Mile"

David Baldacci – „Die Verschwörung“

Dienstag, 15. November 2011

(Bastei Lübbe, 480 S., Tb.)
Ein längst vergessener Atomschutzbunker dient einer Gruppe von hohen Geheimdiensttieren als Besprechungsraum. Unter der Leitung des höchstdekorierten CIA-Veteranen Robert Thornhill steht diesmal die Eliminierung von Faith Lockhart auf der Tagesordnung, der Assistentin des prominenten Washingtoner Lobbyisten Danny Buchanan.
Während Thornhill nämlich versucht, über die Erpressung Buchanans eine Gesetzesvorlage im Kongress durchzubringen, mit der die CIA größtmögliche Macht zurückgewinnt, will Lockhart beim FBI über die Praktiken ihres Chefs auspacken. Doch das geplante Attentat schlägt fehl, als der von Buchanan engagierte Privatdetektiv Lee Adams Lockhart retten kann, während stattdessen der ihr zum Schutz abgestellte FBI-Mann sich die Kugel einfängt. Von nun an befinden sich Lockhart und Adams sowohl vor der CIA als auch dem FBI auf der Flucht …
Schon die Ausgangssituation des bereits 1999 von David Baldacci veröffentlichten Thrillers „Die Verschwörung“ mutet verwirrend an und bleibt es über weite Strecken auch. Baldaccis Stärke liegt hier in der komplexen Inszenierung einer grandiosen Verschwörung innerhalb höchster Geheimdienstkreise, der sich ein zufällig zusammengewürfeltes Paar erwehren muss. Die Handlung ist dabei nicht immer einfach zu verstehen oder logisch nachzuvollziehen, dafür sind Baldacci seine Figuren wie immer sehr lebendig gelungen, die beiden Protagonisten dabei auch so sympathisch, dass man sie von Beginn an ins Herz schließt und hofft, dass sie irgendwie den Schlamassel, in den sie da geraten sind, überstehen. Bis dahin sind allerdings einige Längen zu überbrücken, aber diese kleine Schwäche hat der amerikanische Bestsellerautor in seinen späteren Werken souverän beheben können.

David Baldacci - "Der Abgrund"

Dienstag, 23. August 2011

(Bastei Lübbe, 639 S., Tb.)
Der Name David Baldacci ist immer noch eng mit seinem ersten Bestseller „Der Präsident“ verknüpft, der von und mit Clint Eastwood erfolgreich als „Absolute Power“ verfilmt worden ist. Seither hat sich der amerikanische Bestseller-Autor als sicherer Garant für spannende, oft actionreiche Thriller erwiesen, die teilweise sogar Teil großartiger Reihen wurden. Mit dem 2001 (in Deutschland 2003) veröffentlichten Thriller „Der Abgrund“ nimmt David Baldacci das grandiose Scheitern einer groß angelegten FBI-Aktion zum Ausgangspunkt für eine komplexe Geschichte, in der der hochdekorierte Agent Web London mit seinem Team die mutmaßliche Finanzverwaltung eines Drogenkonzerns hochgehen lassen will.
Doch das achtköpfige Team gerät in einen Hinterhalt. Dass Web plötzlich in bewegungslose Starre verfällt, rettet ihm zwar als einzigen das Leben, doch dafür wird er von seinen Kollegen als Feigling gebrandmarkt und von den Witwen seiner getöteten Gefährten geächtet. Einzig ein schwarzer Junge, der Web am Tatort ein merkwürdiges „Donnerhall“ entgegenraunte, könnte Licht in das FBI-Desaster bringen, doch scheint er wie vom Erdboden verschluckt. Um der Medienhetze zu entgehen, muss Web untertauchen und auf eigene Faust ermitteln. Dabei stößt er auf eine Reihe von aktuellen Todesfällen, die sowohl mit der jüngsten FBI-Katastrophe in Zusammenhang stehen könnten als auch mit dem Massaker an der Schule in Richmond, bei dem Web fast selbst dran glauben musste.
„‘Zwei Leute, am gleichen Tag. Einmal Louis Leadbetter; er war der Richter in Richmond, der die ‚Freie Gesellschaft‘ verurteilt hat. Er wurde erschossen. Und Fred Watkins war bei diesem Prozess der Vertreter der Anklage. Sein Haus ist explodiert, als er gerade hineingehen wollte. Und dann das Charlie-Team. Wir waren die Einsatztruppe, die auf Anforderung des Richmond Field Office geschickt wurde. Ich habe zwei von Frees Leuten getötet, bevor mein Gesicht getoastet und ich von zwei Kugeln durchlöchert wurde. Und dann wäre da noch Ernest B. Free höchstpersönlich. Aus dem Gefängnis getürmt.‘“ (S. 251 f. in der Weltbild-Lizenzausgabe von 2011) 
Web sucht mit seinem Kollegen Paul Romano die Ranch von Bill Canfield auf, dessen Junge damals in der Schule umkam und mit dem der entflohene Free vielleicht noch eine Rechnung offen haben könnte …
David Baldacci erweist sich einmal mehr als Meister der explosiven Spannung, die viel Action und haufenweise Intrigen bereithält. Obwohl über 600 Seiten stark, hält sich „Der Abgrund“ nicht mit einer langen Einleitung auf, sondern katapultiert den Leser gleich ins dramatische Geschehen, bei dem Web London auf einen Schlag seine ganze Truppe verliert. Doch Web London hat nicht nur die Hintergründe der fürchterlich gescheiterten Mission aufzuklären, sondern mit der Psychiaterin Claire Daniels auch seine eigene dunkle Vergangenheit aufzuarbeiten. In einem furiosen Finale werden so einige knifflige Knoten gelöst und Widersacher von Webs HRT-Team ins Leichenschauhaus befördert.