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Miriam Toews – „Die fliegenden Trautmans“

Sonntag, 13. Februar 2011

(Berlin Verlag, 255 S., HC)
Als die 28-jährige Hattie Trautman mitten in der Nacht einen Anruf von ihrer 11-jährigen Nichte Thebes erhält, wird ihr schnell der Ernst der Lage bewusst gemacht. Hatties Schwester Min liegt nur noch vollgedröhnt im Bett, Thebes‘ 15-jähriger Bruder Logan hat ständig Ärger in der Schule, und die Kleine ist schlichtweg überfordert, sich um alles zu kümmern. Da Hattie aber ohnehin in Paris ihre Vision des Künstlerdaseins nicht verwirklichen konnte und zudem von ihrem Freund Marc abserviert wurde, fällt es ihr nicht allzu schwer, die Zelte dort abzubrechen und nach Kanada zu fliegen, wo sie das vollkommene Chaos erwartet.
Min liegt mit schweren Depressionen im Krankenhaus und will niemanden sehen. Logan ist von der Schule geflogen, weil er mit bekannten Gang-Mitgliedern abhängt. Also tut Hattie das, was sie für das einzig Richtige hält: Sie fährt mit den Kindern Richtung South Dakota, wo sie deren Vater Cherkis zu finden hofft.
„Wir kamen allmählich auf die Zielgerade. Murdo war ein kleiner, unspektakulärer Fleck auf der Landkarte, aber für uns, jedenfalls für mich, baute es sich nun drohend vor uns auf wie King Kong Schatten oder Kandahar aus der Sicht einer amerikanischen Panzerbesatzung. Mir wurde mulmig. Ich hatte ja gar keinen richtigen Plan. Oder doch, ein geplantes Ergebnis immerhin. Bloß keinen Plan, der mich zwingend zu diesem Ergebnis führen würde, das natürlich darin bestand, Cherkis zu finden und zu beknien, dass er sich um seine Kinder kümmert. Ich wollte das nämlich nicht übernehmen – und konnte es auch gar nicht. Ich wusste überhaupt nicht, was ich zu ihnen sagen oder wie ich sie trösten sollte. Wahrscheinlich würde es Min nie wieder so gut gehen, dass sie nach Hause konnte, jedenfalls nicht als die Mutter, die die beiden brauchten. Ob Min an eine willkürliche Welt glaubte oder an eine mit einem göttlichen Sinn dahinter? Es gab so vieles, über das wir nie gesprochen hatte, und jetzt war es vermutlich zu spät.“ (S. 89)
Immer wieder ruft Hattie von unterwegs bei Min in der Psychiatrie an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, muss sich dabei immer wieder selbst vergewissern, dass sie gerade das Richtige tut und erinnert sich an eine glücklichere Kindheit. Während der Fahrt erzählt sich die neu gefundene Familie eine skurrile Geschichte nach der anderen, übernachtet in heruntergekommenen Motels, trifft die merkwürdigsten Menschen auf dem Trip, der das Trio auf der Route 66 weiter nach Twentynine Palms und bis zur mexikanischen Grenze führt.
Miriam Toews stattet ihre jenseits aller gängigen Vorstellungen von „normal“ befindlichen Charaktere mit liebenswürdigem Charme aus und dabei so detailliert, dass diese kaum wie erfundene Romanfiguren, sondern wie Fleisch und Blut wirken. Es braucht nur wenige Zeilen, um sich auf die Seite der anfangs völlig überforderten, im Liebeskummer taumelnden Hattie zu schlagen, und dann verfolgt der Leser die spannende Odyssee in den Süden meist mit einem Schmunzeln, gelegentlich auch mit ehrfürchtigem Staunen und echtem Mitgefühl. Die lebendige Sprache, immer ganz nah am Jugendjargon und der Popkultur, trägt ihr übriges dazu bei, „die fliegenden Trautmans“ mit wachsendem Vergnügen zu verschlingen. Schade, dass die familiäre Selbstfindung und der amüsante Roadtrip schon nach gut 250 Seiten vorbei ist …

Willy Vlautin – „Motel Life“

Sonntag, 23. Januar 2011

(Berlin Verlag, 207 S., Pb.)
Frank Flannigan ist eigentlich zu besoffen, um noch irgendetwas zu merken, aber dass eine Ente durch das Motelzimmer im dritten Stock geflogen und vor seinen Füßen verendet ist, bekommt er doch mit. Schließlich herrschen draußen klirrende Minus fünfzehn Grad. Die Ente wird kurzerhand wieder aus dem Fenster geschmissen, die Heizdecke voll aufgedreht und dann weitergepennt. Doch wenig später steht Franks älterer Bruder Jerry Lee vor dem Bett und heult sich die Seele aus dem Leib.
Er erzählt, dass er sich nach einem Streit mit Polly Flynn betrunken ins Auto gesetzt habe und auf der Fifth Street morgens um vier Uhr bei heftigem Schneefall einen Jungen auf dem Fahrrad angefahren habe. Nun liegt er tot in eine Decke gehüllt auf dem Rücksitz seines Dodge Fury. Am nächsten Morgen beschließen die beiden Brüder, den Jungen, dem nicht mehr zu helfen ist, vor dem St. Mary’s Hospital abzulegen, von der Bank das letzte Guthaben zu holen und mit den knapp über dreihundert Dollar abzuhauen.
„Das Unglück, jeden Tag werden die Menschen damit geschlagen. Auf kaum etwas anderes kann man sich so sicher verlassen. Es ist immer im Spiel, die nächste Karte, die du aufnimmst, könnte das Unglück sein. Am meisten Angst macht mir, dass man nie genau weiß, wann es zuschlägt und bei wem. Aber an jenem Morgen, als ich die steifgefrorenen Arme des kleinen Jungen hinten im Wagen sah, da wusste ich, das Unglück hatte meinen Bruder und mich gefunden. Und wir, wir nahmen das Unglück und banden es uns wie einen Klotz ans Bein. Wir taten das Schlimmste, was man machen kann. Wir liefen weg. Wir stiegen einfach in seinen abgewrackten 1974er Dodge Fury und hauten ab.“ (S. 13 f.)
Mit einem vollen Tank, etwas Medizin gegen Franks Magenbeschwerden und genügend Alkohol machen sich die Jungs auf den Weg. Unterwegs werden Erinnerungen ausgetauscht, wie der spielsüchtige Vater früh abgehauen und die Mutter wenig später gestorben ist, wie man an verschiedene Jobs gekommen ist und sie wieder verloren hat, und Frank lässt sich immer neue Geschichten einfallen, um seinen Bruder zu unterhalten, auch als dieser sich ins ohnehin schon verstümmelte Bein schießt, weil er mit seinen Schuldgefühlen nicht mehr leben kann. Immer wieder wird in Rückblenden beleuchtet, wie und warum die Jungs auf die schiefe Bahn geraten sind, und doch schlagen sie sich irgendwie durch, nehmen die undankbarsten Jobs an, haben Pech mit den Mädchen, aber irgendwann auch Glück im Spiel.
Willy Vlautin, seines Zeichens Frontmann der amerikanischen Folkrock-Band Richmond Fontaine, legt mit „Motel Life“ ein erstaunliches Debüt hin, dessen 200 Seiten mit den kurzen Kapiteln und einleitenden Illustrationen von Nate Beaty schnell wegzulesen sind. Die herzerwärmende Geschichte eines verloren wirkenden Bruderpaars ist mit ebenso viel Tragik wie Humor durchtränkt und lässt seine sympathischen Antihelden alle schluchzenden Täler durchschreiten, die man sich so vorstellen kann, Alkoholismus, Spielsucht, Pech in der Liebe und bei dem kläglichen Versuch, eine Arbeitskarriere aufzubauen. Vergleiche mit Annie Proulx‘ „Schiffsmeldungen“ oder John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ kommt einem dabei in den Sinn, aber Vlautins traurig-humorvoller Road-Movie-Blues nimmt durchaus eine eigene Stellung in dieser Art von amerikanischer Literatur ein.