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Chip Cheek – „Tage in Cape May“

Freitag, 24. Mai 2019

(Blessing, 334 S., HC)
Cape May, New Jersey, im September 1957. Der 20-jährige Farmerssohn Henry und die 18-jährige Kaufmannstochter Effie haben sich nur wenige Monate nach ihrem Highschool-Abschluss das Ja-Wort gegeben und sehen gespannt ihren Flitterwochen entgegen. Henry war wie Effie in der kleinen Stadt Signal Creek in Georgia aufgewachsen und vor dieser Reise noch nie nördlich von Atlanta gewesen, noch hatte er je das Meer gesehen. Effie hatte in dem Haus ihres Onkels George früher ihre Ferien verbracht, es das letzte Mal aber vor drei Jahren gesehen, als ihre Tante Lizzie verstorben war. Im Spätsommer liegt der Ferienort allerdings verlassen da, viele Geschäfte und Restaurants sind bereits geschlossen. Das sexuell unerfahrene, gottesfürchtige Paar bringt das erste Mal schnell hinter sich, geht an der Promenade spazieren und beginnt sich schnell zu langweilen.
Gerade als Henry und Effie schon überlegen, vorzeitig abzureisen, läuten sie aus Neugierde an der Tür des einzigen Hauses in der Nachbarschaft, in dem Licht brennt und – dem Cadillac-Cabrio und Rolls-Royce in der Auffahrt nach zu urteilen – offenbar reiche Leute wohnen. Zu Effies großer Überraschung öffnet ihnen Clara, eine Freundin ihrer älteren Cousine, die sie beide nicht leiden konnte. Clara ist jedoch ganz aus dem Häuschen über die gesellschaftliche Abwechslung und stellt ihnen ihren Lebensgefährten Max und seine Halbschwester Alma vor, mit denen sich auf einmal das Blatt zum Guten zu wenden scheint. Denn das in New York lebenden Trio unternimmt mit dem jungen Ehepaar Bootsfahrten aufs Meer und macht die Nacht zum Tag, wobei getrunken und gespielt und schließlich als besonderer Nervenkitzel auch in die leer stehenden Nachbarhäuser eingebrochen wird.
Als Effie krank wird und das Bett hüten muss, beginnt Henry mit Alma eine heftige Affäre und betrachtet das Leben auf einmal mit ganz anderen Augen.
„Das Geheimnis des Lebens bleibt uns verborgen, dachte Henry, weil wir nicht immerzu wach sein können, um jeden Augenblick davon bewusst zu erleben. Könnte man eine Weile auf Schlaf verzichten und bekäme unser Dasein ununterbrochen mit, würde einem Wesentliches offenbart.“ (S. 223) 
Der 1976 geborene, in der Nähe von Los Angeles geborene Schriftsteller Chip Cheek legt nach einigen veröffentlichten Kurzgeschichten mit „Tage in Cape May“ ein stimmungsvolles Romandebüt vor, das er nicht zufällig in dem Ferienort spielen lässt, der gerade mal auf 4000 Einwohner kommt und in der Hochsaison 100000 Urlauber anzieht, denn er selbst verbrachte mit Schriftsteller-Freunden immer wieder Zeit dort und hat so ein Gespür für den Ort bekommen, der die perfekte Kulisse für das Liebesdrama in den später 1950er Jahren bildet.
Gekonnt beschreibt er die unterschiedlichen Eindrücke, die die Kleinstadt in der Hoch- und Nebensaison bei seinen Besuchern hinterlässt. Indem Cheek das Geschehen in die ungewöhnlich ruhige Nebensaison verlagert, kann er sich ganz auf seine Protagonisten fokussieren, die nicht den vielfältigen Freizeitaktivitäten, die so ein Ferienparadies üblicherweise bietet, nachgehen können, sondern sich mit sich selbst auseinandersetzen müssen. Hier wird deutlich, dass sich Effie und Henry zwar schon seit Kindertagen kennen mögen, dass die Heirat aber ganz neue Erfahrungen mit sich bringt. Nachdem die Hürde der ersten sexuellen Vereinigung genommen worden ist, vergnügt sich das junge Paar zwar täglich daran, aber darüber hinaus fällt den beiden wenig ein, wie sie sich miteinander beschäftigen können. Erst als die beiden unbedarften Landeier dem älteren Trio aus New York begegnen, eröffnen sich neue Horizonte, wird die zuvor vorsichtig erkundete Landschaft der sexuellen Erfahrungen zunehmend enthemmter erforscht. Natürlich spielt dabei Alkohol eine Rolle, um die Hemmungen fallen zu lassen, aber auch dies geschieht erst schrittweise.
Während Effie noch tiefer als ihr Mann der religiösen Erziehung verhaftet ist und täglich vor dem Schlafengehen betet, fühlt sich Henry schnell von der geheimnisvollen Alma angezogen und kann ihrer sexuellen Anziehungskraft nicht widerstehen. Was folgt, ist ein sinnenfrohes Arrangement, bei dem Henry nachts aus dem Haus schleicht, um sich mit der wartenden Alma in einem der leeren Häuser zu treffen und meist früh genug heimkehrt, bevor die kränkelnde Effie aufwacht, sich sonst aber mit seiner Schlaflosigkeit und langen Spaziergängen entschuldigt. Der Leser mag Henrys Verhalten – vor allem so kurz nach seiner Hochzeit – moralisch verwerflich finden, doch gelingt es dem Autor, den jungen Mann nicht vorbehaltlos zu verurteilen, denn Henry leidet selbst darunter, dass er Effie über alles liebt, aber eben auch seine Lust in vollen Zügen genießt.
Bei allen moralischen Fragen, die „Tage in Cape May“ aufwirft, ist es einfach spannend zu verfolgen, wie die Beteiligten mit den zunehmend ausschweifenden Ereignissen in Cape May umgehen, und im letzten Kapitel beantwortet Cheek auch die Frage, wie es mit Henry und Effie in den nächsten Jahrzehnten weitergeht. Allerdings werden die aufgeworfenen Probleme auch nicht allzu tiefschürfend aufgearbeitet, das Potenzial für dramatische Ereignisse und Wendungen wird nie ausgeschöpft. So bleiben vor allem Clara und Max als sinnenfrohe künstlerische Figuren ohne Geldsorgen etwas blass, aber Chip Cheek ist mit „Tage in Cape May“ ein faszinierend sinnliches Drama gelungen, das auf erfrischende Weise das Spannungsfeld von Lust und Liebe thematisiert.
Leseprobe Chip Cheek - "Tage in Cape May"

Alan Hollinghurst – „Die Sparsholt-Affäre“

Freitag, 22. März 2019

(Blessing, 542 S., HC)
Die Oxford-Studenten Freddie Green, Charlie Farmonger, Evert Dax und der Maler Peter Coyle betreiben einen Club, in dem sie berühmte Schriftsteller dazu bewegen, aus ihren jüngsten Werken vorzutragen und vor den Studenten zu sprechen, wobei im Oktober 1940 der Name von Everts Vater, den gefeierten Romancier A.V. Dax, fällt. Doch dann lenkt Coyle die Aufmerksamkeit seiner Kommilitonen auf einen der neuen Studenten, den gutaussehenden Ruderer David Sparsholt, den er unbedingt portraitieren möchte.
Aber auch Evert findet besonderen Gefallen an dem athletischen Mann, der Oxford schon bald für eine militärische Karriere verlassen würde. Doch auch wenn der junge Sparsholt mit Connie liiert ist, freundet sich Evert mit ihm auf eine Weise an, die damals für einen Skandal gesorgt hätte.
„Evert hatte keinen anderen Mitwisser, davon konnte ich ausgehen, und dass Sparsholt von sich aus mit einem Freund darüber reden würde, war undenkbar. Die Affäre hatte bereits ihr ganzes Ausmaß erreicht, etwas Flüchtiges und ganz und gar Privates, allzu verborgen, um als Fußnote in die Geschichte dieser Zeit einzugehen.“ (S. 108) 
Tatsächlich hinterlässt die sogenannte Sparsholt-Affäre auch Generationen später noch ihre Spuren, als sein Sohn Johnny seine homosexuellen Neigungen nicht mehr ganz so zu verstecken braucht wie noch sein Vater, und eine weitere Generation später wird die Liebe zwischen Männern noch offener ausgelebt …
Der britische Schriftsteller Alan Hollinghurst ist auch hierzulande durch den 2004 mit dem Man Booker ausgezeichneten und ebenfalls bei Blessing erschienenen Roman „Die Schönheitslinie“ bekannt geworden, und auch in seinem neuen Werk widmet sich Hollinghurst den Herausforderungen, denen sich Homosexuelle in der Gesellschaft stellen müssen.
Dabei zeichnet der Brite ein Sittenportrait, das in den Kriegswirren des Jahres 1940 beginnt und sich in großen Sprüngen über die Jahre 1966, 1975 und 1995 bis (fast) in die Gegenwart des Jahres 2012 erstreckt. Vor allem der erste Teil, in dem die befreundeten Kunst- und Literaturliebhaber den attraktiven David Sparsholt kennenlernen und begehren, zeigt der Autor mit seinem wunderbar ausgefeilten Schreibstil differenziert auf, wie sich das Begehren der Männer untereinander noch in heimlichen Gefilden abspielt und die eigene sexuelle Ausrichtung hinter einer gesellschaftlich anerkannten Beziehung zwischen Mann und Frau verborgen werden muss, aus der schließlich auch Kinder hervorgehen.
Die titelgebende Affäre, die sich in einer Bombennacht zwischen David Sparsholt und Evert Dax abspielt, zieht sich ebenso wie Sparsholt selbst zwar wie ein roter Faden durch die Handlung, doch im Zentrum der Geschichte stehen die anderen, Evert Dax zum Beispiel, aber auch Sparsholts Sohn Johnny. So gut es Hollinghurst gelingt, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beschreiben, unter denen sich homosexuelle Liebe verstecken bzw. zunehmend öffentlich entfalten kann, bringt er doch unnötig viele Personen ins Spiel, denen man schwer über die meist zehn- bis zwanzigjährigen Zeitsprünge folgen kann, zumal sich die Charakterisierung der handlungsrelevanten Figuren eher auf ihre Begierden reduziert. Wurde dem Autor bei „Die Schönheitslinie“ immer mal wieder noch Pornographie vorgeworfen, hält sich Hollinghurst bei der Beschreibung sexueller Begegnungen zwar nicht zurück, doch bleibt dem Leser dabei so viel der Phantasie überlassen, dass sich die Szenen ganz harmonisch in den Kontext aus gesellschaftlichen Umgangsformen und der Auseinandersetzung mit Portraitmalerei und Literatur einfügt. Bei aller Brillanz im Stil und der guten Beobachtungsgabe gesellschaftlichen Wandels weist „Die Sparsholt-Affäre“ aber gerade nach dem ersten Teil immer wieder Längen auf, die nicht immer durch die komplexe Sprachkomposition aufgefangen werden.
Leseprobe Alan Hollinghurst - "Die Sparsholt-Affäre"

Robin Sloan – „Der zauberhafte Sauerteig der Lois Clary“

Sonntag, 18. November 2018

(Blessing, 272 S., HC)
Lois Clark ist als Tochter eines Datenbankprogrammiers seit ihrer Kindheit im Umgang mit Computern vertraut, hat während ihrer Zeit am College Praktika bei einer Firma absolviert, die Software für die Motorensteuerung eines Elektroautos konzipierte, und konnte dort nach ihrem Abschluss arbeiten. In Ferndale, zwei Städte von ihrer Heimatstadt Michigan entfernt, kaufte sie ein Haus, bis sie von einer General Dexterity in San Francisco abgeworben wird, wo Roboterarme für Labore und Fabriken designt werden.
Die Arbeit macht ihr Spaß, doch schon der hauseigene Makler prophezeite Lois, dass sie nicht viel Zeit in der neuen Wohnung im Richmond District verbringen werde. Tatsächlich fühlt sich Lois schon nach wenigen Wochen nicht mehr fit, beklagt sich über Zustände katatonischer Regeneration, fehlende soziale Kontakte und strähniges Haar. Als sie jedoch eine Bestellung bei Clement Street Suppe und Sauerteig aufgibt, nimmt ihr Leben eine erstaunliche Wendung. Vor allem das Stück Sauerteigbrot, das zur Double Spicy gereicht wird, hat es ihr angetan.
Doch kaum ist Lois wieder kräftiger geworden und auf Kurs gekommen, müssen die Mazg-Brüder Beoreg und Chaiman ihr Take-Away aufgeben, hinterlassen ihrer besten Esserin aber ihren außergewöhnlichen Sauerteig-Ansatz, aus dem Lois fortan ihr eigenes Brot fertigt. Das kommt bei den ersten Testessern so gut an, dass sich Lois so richtig in die Produktion der Brote hineinsteigert, ihren Job aufgibt und fortan mit viel Liebe ihren Sauerteig-Ansatz pflegt, bis sie die Chance wittert, Teil der renommierten Marrow Fair zu werden, einem exklusiven Food-Markt, wo Tschernobyl-Honig, algorithmisch optimierte Bagels und Tortillas aus Heuschreckenmehl mit Kohl feilgeboten werden, der unter pinkfarbenem Licht gewachsen war.
 „Laut Horace war ich angekommen. Im Herzstück. Im Sanctum Sanctorum. Die stillen Angestellten hier – die gerade schnippelten, säuberten, schabten, vorbereiteten, planten, alle in Einheitskitteln – würden irgendwann ihre eigenen Restaurants eröffnen, Kochsendungen moderieren, Kochbuchbestseller schreiben. Ich war bis an die Wiege der California Cuisine vorgedrungen.“ (S. 159) 
Mit seinem 2014 auch hierzulande veröffentlichten Romandebüt „Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra“ hat sich der amerikanische Autor Robin Sloan vor allem in die Herzen der Bücherliebhaber geschrieben. Mit seinem neuen Werk trägt ihn die Leidenschaft aus den Buchhandlungen in die Welt der Food-Nerds, verbindet wieder einmal Tradition mit moderner Technologie, nur will sich diesmal nicht so recht die Begeisterung einstellen, die Mr. Penumbra mit seiner durchgängig geöffneten Buchhandlung hervorrufen konnte.
Das liegt nicht nur daran, dass die Protagonistin Lois zwar sympathisch rüberkommt, aber kaum als Identifikationsfigur taugt. Ihre Vergangenheit als ehrgeizige Tochter eines Programmierers, die bei ihrem neuen hochbezahlten Job in San Francisco unter die Räder zu kommen droht, wirkt einfach langweilig, während die Wandlung zu einer ambitionierten Sauerteigbrot-Bäckerin zwar eine an sich interessante Wendung darstellt, aber dann kaum weiter entwickelt wird, außer dass sie die Herausforderung annimmt, mit ihrer Backkunst Teil einer abgehobenen Food-Nerd-Elite zu werden. Die einzelnen Figuren bleiben dabei sehr blass, weil Sloan seinen Fokus mehr auf die produktionstechnischen Einzelheiten legt, die wiederum so abstrakt sind, dass der Erzählfluss darunter leidet. Zwar versucht der Autor dieses Manko durch die Erfindung einiger absurder Food-Kreationen auszugleichen, doch letztlich ist die Handlung allzu vorhersehbar und die Figuren zu eindimensional, um sich für die Geschichte begeistern zu können.
Leseprobe Robin Sloan - "Der zauberhafte Sauerteig der Lois Clary"

Olen Steinhauer – „Der Anruf“

Samstag, 14. Mai 2016

(Blessing, 270 S., HC)
Nachdem auf dem Wiener Flughafen im Jahre 2006 alle hundertzwanzig Insassen eines Airbus, den Terroristen in ihre Gewalt gebracht haben, ums Leben gekommen sind, wird der Fall sechs Jahre später von der CIA neu aufgerollt, denn der Verdacht, dass es bei damals innerhalb der Organisation einen Maulwurf gab, der den Rettungsplan vereitelt hat, konnte bislang nicht bewiesen werden.
Der damals in Wien stationierte Henry Pelham macht sich auf den Weg an die amerikanische Westküste, um seine damalige Kollegin Celia Favreau zum Abendessen einzuladen.
Dass Henry diesem Treffen nervös entgegensieht, liegt nicht nur daran, dass er damals eine kurze Affäre mit Celia unterhielt und davon träumte, mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen, sondern auch an seinem Plan, sie dazu zu bringen, ihre Beteiligung an dem Verrat zuzugeben. Im Mittelpunkt des Verhörs, zu dem sich das Abendessen schnell entwickelt, steht ein Anruf, der zur Zeit der Entführung aus dem Büro von Celias Chef Bill Compton nach Amman in Jordanien geführt worden ist.
„Auf der einen Seite habe ich einen Auftrag zu erledigen und bin dafür um die halbe Welt geflogen – in meiner Tasche steckt ein Handy, das all unsere Worte aufnimmt. Auf der anderen Seite muss ich auf meine emotionale Gesundheit achten. Auf das, was meine Sinne wahrnehmen. Ich schaue ihr ins Gesicht, rieche gelegentlich ihren Duft und spüre ganz selten die Berührung ihrer Hand. Und die ganze Zeit stelle ich mir eine grundlegende Frage: Liebe ich diese Frau noch?“ (S. 75) 
Doch auch wenn Celia vor Jahren mit der Company abgeschlossen hat und in Carmel-by-the-Sea mit Mann und Kindern sesshaft geworden ist, sind ihre kommunikativen Fähigkeiten nicht eingerostet. So entwickelt sich das Verhör ganz anders, als Henry geplant hat …
Mit der Milo-Weaver-Trilogie „Der Tourist“, „Last Exit“ und „Die Spinne“ hat der amerikanische Autor Olen Steinhauer dem etwas eingeschlafenen Spionage-Genre neues Leben eingehaucht und sich als Meister komplexer Figurenbeziehungen und internationaler Verstrickungen erwiesen. Während er an seinem Roman „Die Kairo-Affäre“ schrieb, inspirierte ihn die BBC-Verfilmung des epischen Christopher-Reid-Gedichts „The Song Of Lunch“ mit Alan Rickman und Emma Thompson in den Hauptrollen zu einem Kammerspiel-artigen Thriller, der die ganze Welt der Spionage auf ein einziges Abendessen herunterbricht.
Wie Henry und Celia in „Der Anruf“ einander umgarnen, aushorchen und versuchen, sich gegenseitig in die Falle tappen zu lassen, ist einfach großartig geschrieben. Dabei sorgt die wechselnde Erzählperspektive zwischen Henry und Celia sowie die von ihnen erinnerten Ereignisse in der Vergangenheit für ein vielschichtiges Spielfeld, auf dem auch der Leser bald nicht mehr unterscheiden kann, wer Freund und Feind ist.
Leseprobe Olen Steinhauer - "Der Anruf"

Scott Turow – „Die Erben des Zeus“

Montag, 25. Mai 2015

(Blessing, 431 S., HC)
Die eineiigen Zwillinge Paul und Cass Gianis halten seit ihrer Kindheit wie Pech und Schwefel zusammen. Doch als eines Tages im September 1982 Cass‘ Verlobte Dita Kronon ermordet in ihrem Bett aufgefunden wurde, hat sich der jahrzehntelange Streit zwischen den beiden aus Griechenland stammenden Familien Gianis und Kronon weiter zugespitzt. Zwar hat sich Cass damals schuldig bekannt und steht nach 25 Jahren Haft nun kurz vor seiner Entlassung, doch der Immobilien-Tycoon Hal Kronon ist längst nicht davon überzeugt, dass die Familie, die für den Mord an seiner Schwester verantwortlich gewesen ist, genügend gebüßt hat.
Also engagiert er mit der ehemaligen FBI-Agentin Evon Miller und dem Privatdetektiv Tim Brodie zwei Ermittler, die seinem Verdacht nachgehen sollen, dass auch Paul in die damaligen Ereignisse verwickelt war. Er selbst lässt Fernsehspots produzieren, die Paul wichtige Stimmen im Kampf um das Amt des Bürgermeisters von New York kosten.
Brodie, der damals als leitender Ermittler in der Mordsache keine gute Figur gemacht hatte, ist auf einmal gezwungen, sich wieder mit den Beweisen des Falls auseinanderzusetzen. Eine DNA-Untersuchung soll neue Erkenntnisse erbringen, doch wie Miller und Brodie erfahren müssen, liegt die Auflösung des Mordes viel tiefer verborgen.
„Giannis verheimlichte irgendwas. Das war das eigentliche Problem. Man konnte über die Presse und die Wahlkampf-Finanzierungsgesetze schimpfen und sagen, dass Politik verlogen war, und in neunzig Prozent der Fälle lag man damit richtig. Aber in Wahlkämpfen kamen oft harte Wahrheiten, bedeutsame Wahrheiten über Kandidaten ans Licht. Es ähnelte einer Gehirnoperation mit dem Pressluftbohrer. Aber mit jedem Tag wurde deutlicher, dass Gianis irgendetwas verschwieg.“ (S. 132) 
Scott Turow wirkte zwischen 1978 und 1986 als Staatsanwalt in Chicago und hat als Gegner der Todesstrafe beispielsweise 1995 die Freilassung von Alejandro Hernandez erreicht, nachdem dieser elf Jahre unschuldig in der Todeszelle gesessen hatte. Sein Romandebüt „Aus Mangel an Beweisen“ (1987) wurde nicht nur mit dem Silver Dagger prämiert, sondern 1990 auch erfolgreich von Alan J. Pakula mit Harrison Ford in der Hauptrolle verfilmt. Seither ist der amerikanische Justiz-Thriller-Autor nicht mehr aus den Bestseller-Listen wegzudenken. Dass er in das Zentrum seines neuen Romans „Die Erben des Zeus“ zwei griechisch-stämmige Familien stellt und mit Zeus Kronon auch eine zentrale Figur mit einem Götternamen versieht, kommt dabei nicht von ungefähr, denn der Roman erweist sich als komplexes Verwirrspiel, in dem die Anwälte und Ermittler lange Zeit im Nebel der dunklen Geheimnisse stochern, die sowohl die Kronons als auch die Gianis über Jahrzehnte gehütet haben. Gleich einer griechischen Tragödie ziehen sich die familiären Verstrickungen zurück bis zu Hals Vater Zeus, dessen Schwester Teri und deren bester Freundin Lidia, Pauls und Cass‘ Mutter.
Turow versteht es wie gewohnt souverän, den Leser schon mit dem ersten Kapitel, das die unmittelbare Vorgeschichte zum Mord rekapituliert, zu fesseln und über die nächsten 400 Seiten auch nicht mehr loszulassen. Wie ein Gerichtsmediziner seziert er die Abgründe zweier verhasster Familien, die auf schicksalhafte Weise seit einem Ladenpachtgeschäft miteinander verbunden sind. Stolz, Verrat, Schuld, Rache und Täuschung sind die großen Themen, die der Autor auf meisterhafte Weise in eine spannende Handlung webt und sprachlich so ungemein geschliffen präsentiert.
Leseprobe Scott Turow - "Die Erben des Zeus"

Ryan Bartelmay – „Voran, voran, immer weiter voran“

Montag, 30. März 2015

(Blessing, 431 S., HC)
Als Chic Waldbeeser im September 1950 in Middleville, Illinois, seine Highschool-Liebe Diane von Schmidt zur Frau nimmt, bietet ihm seine indische Schwägerin Lijy noch auf der Feier eine Rückenmassage an. Eigentlich will Lijy ihrem betrunkenen Mann Buddy nur eins auswischen, doch Chic ist von der exotischen Frau so angetan, dass er ihr immer wieder auflaurt und es zu einer schweren Krise zwischen Chic und seinem Bruder kommt.
Damit setzt sich eine tragische Familiengeschichte fort, die damit anfing, dass ihre Mutter mit einem gewissen Tom McNeeley durchgebrannt war und sich ihr Vater hinter die Scheune setzte, um dort zu erfrieren. Statt sich um seinen kleinen Bruder zu kümmern, ging Buddy seiner eigenen Wege. Darunter leidet auch Lijy, die oft nicht weiß, wann Buddy von seinen undurchsichtigen Geschäften mit seinen Goldmünzen zurückkehrt, und sich einsam fühlt. Chic hofft, Lijys Einsamkeit für sich ausnutzen und sie verführen zu können, stattdessen lässt sich seine Schwägerin auf eine Affäre mit einem anderen Mann ein, wird schwanger und bittet Chic, seinem Bruder zu erzählen, dass er der Vater sei. Als sich sowohl sein Bruder als auch seine Frau zunehmend von ihm entfremden, beginnt Chic – von einer 18-jährigen Bibliothekarin ermutigt -, kurze Gedichte zu verfassen, die Haikus ähneln und seinem desillusionierten Leben entspringen.
„Wenn Sie Glück haben, wird jemand Sie lieben. Diesen Menschen werden Sie enttäuschen. Der Mensch, der Sie liebt, wird Sie eines Tages vielleicht hassen, und Sie können nichts dagegen machen. Auch wenn Sie es versuchen. Und Sie werden es versuchen. Wahrscheinlich wissen Sie das alles schon. Und darum geht es in diesen Gedichten. Das Schlimmste ist, dass Sie es nicht aufhalten können. Nichts davon. Das Leben hat seine eigene Dynamik. Voran, voran, immer weiter voran.“ (S. 296f.) 
Doch die Dynamik des Lebens beschert Chic doch noch eine zweite Chance. Mit der ehemaligen Profi-Pool-Billard-Spielerin Mary Geneseo, die mit ihren Männern Lyle und Green auch nicht glücklich werden konnte, will Chic nach Florida …
„Jeder Idiot kann eine Krise meistern; es ist der Alltag, der uns zermürbt.“ Mit diesem Zitat von Anton Tschechow leitet der in Chicago lebende und arbeitende Ryan Bartelmay seinen Debütroman „Voran, voran, immer weiter voran“ programmatisch ein und folgt den Lebenswegen, Erinnerungen, Krisen und Katastrophen der beiden ungleichen Brüder Buddy und Chic Waldbeeser über einen Zeitraum von fünfzig Jahren.
Episodenhaft springt der Autor zwischen den Jahren hin- und her und beschreibt den alltäglichen Kampf seiner ganz normalen Figuren gegen die Widrigkeiten des Lebens, die sich mal in unerwiderten und unausgesprochenen Gefühlen, mal aber auch in der Verarbeitung dunkler Geheimnisse und falschen Entscheidungen ausdrücken. Sowohl die Männer als auch die Frauen in Bartelmays eindrucksvoll und feinfühlig geschriebenen Werk hadern zwar mit ihren Gefühlen und Entscheidungen, scheinen aber selten über ihren Schatten springen zu können, um die Dinge zu ihren Gunsten zu verändern. Es ist tatsächlich der Alltag, der die Waldbeesers und Geneseos dieser Welt zermürbt, aber wenn sich die Menschen darauf besinnen, was ihnen wirklich wichtig ist, was sie von Herzen wollen, findet sich ein Weg.
Mit dieser hoffnungsvollen Botschaft entlässt Bartelmay seine Leser am Ende seines epischen Familienromans, der ebenso zum Nachdenken wie zum Schmunzeln anregt.
Leseprobe Ryan Bartelmay - "Voran, voran, immer weiter voran"

Jess Walter – „Die finanziellen Abenteuer des talentierten Poeten“

Montag, 18. August 2014

(Blessing, 383 S., HC)
Der amerikanische Traum ist für Matt Prior schnell ausgeträumt. Als er noch ein halbwegs erfolgreicher Wirtschaftsjournalist war, konnte er sich mit seiner hübschen Frau Lisa und den beiden Jungs Franklin und Teddy ein nettes Häuschen in einer Vorortsiedlung leisten, doch als der verhinderte Poet seinen Job an den Nagel gehängt hatte, um eine Website für Poesie und Geldanlagen ins Leben zu rufen, kam das Unglück so richtig ins Rollen.
Da Matt mit der Website keine nennenswerten Einnahmen erzielte, musste er seinen alten Job wieder aufnehmen, nur um vor acht Wochen wieder gekündigt zu werden. Durch den Einbruch des Immobilienmarktes drohen den Priors der Verlust des Hauses und des Autos. Ganze sieben Tage bleiben Matt, seine Altersvorsorge aufzulösen und 31.000 Dollar Restzahlung an die Bank zu leisten. Vor diesem desaströsen Hintergrund erscheint es Matt eine gute Idee, beim Milchholen im Supermarkt um die Ecke, auf das Angebot zweier Kiffer einzugehen, mit ihnen auf eine Party zu gehen und mal wieder richtig schön einen durchzuziehen. Dabei kommt ihm die Idee, seine Rücklagen über 9400 Dollar in gutes Gras zu investieren, um es gewinnbringend weiterzuverkaufen. Als Matt erfährt, dass seine Frau mit einem gewissen Chuck eine Affäre zu haben scheint, gerät seine Welt allerdings immer mehr ins Wanken.
„Es ist beinahe, als bekämen Lisa und ich bloß, was wir verdienen. Zumindest bilden wir uns das ein. Irgendwie scheint das ganze Land davon überzeugt zu sein, wir alle hätten etwas getan, das diese Katastrophe rechtfertigt, diese globale Erwärmung, diesen ewigen Krieg, diesen Haufen Scheiße, in dem wir uns befinden. Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, unsere Zukunft verprasst, Ressourcen geplündert, in einer Luftblase gelebt.“ (S. 210)
Matts Versuch, durch den Handel mit Gras zumindest seine finanziellen Sorgen vorübergehend in den Griff zu bekommen, scheitert allerdings schon im Frühstadium, als zwei Beamte einer Sondereinheit auftauchen und Matt zur Zusammenarbeit zwingen …
Wer „Breaking Bad“ kennt, wird das literarische Pendant von Jess Walter lieben. Ebenso wie Walter White angesichts seiner Lungenkrebserkrankung aus Sorge vor der finanziellen Absicherung seiner Familie beginnt, in den Handel mit Methamphetamin einzusteigen, sieht auch Jess Walters Protagonist im Drogengeschäft die besten Möglichkeiten, kurzfristig große Gewinne einzufahren.
Mit einer gelungen Mischung aus geballtem Sprachwitz und durchaus tiefsinnigen Einsichten in die Befindlichkeiten der amerikanischen Mittelschicht, die durch die Immobilien- und Bankenkrise ihrer Fundamente beraubt worden ist, beschreibt der Pulitzer-Preis-Träger die verzweifelten Versuche eines Durchschnittamerikaners, nicht nur sein Eigenheim, sondern auch seine Ehe zu retten und seinen Kindern ein guter Vater zu sein. Neben treffenden Statements zu den wirtschaftlichen Zusammenhängen der Krise und den Auswirkungen auf die amerikanische Mittelschicht bezaubert der kurzweilige Roman durch seinen warmherzigen Humor und den wunderbar lakonischen Ton, mit dem Matt immer wieder seine ausweglose Lage beschreibt, ohne die Hoffnung zu verlieren.
Leseprobe Jess Walter - Die finanziellen Abenteuer des talentierten Poeten

Robin Sloan – „Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra“

Sonntag, 16. März 2014

(Blessing, 351 S., HC)
Auf der Suche nach einem neuen Job hat der Webdesigner Clay Jannon seine Ansprüche mit der Zeit ziemlich heruntergeschraubt und blättert auf seinem Laptop mittlerweile auch die „Aushilfe gesucht“-Anzeigen durch. Dabei stößt er eines Tages auf die etwas kuriose Annonce der durchgehend geöffneten Buchhandlung Penumbra: „Aushilfe gesucht – Spätschicht – Spezielle Anforderungen – Gute Zusatzleistungen“. Als sich Clay in der Buchhandlung vorstellt, wird von ihm vor allem verlangt, sich auf der Leiter geschickt zwischen den ungewöhnlich hohen Regalen bewegen zu können.
In der Nachtschicht von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens kommt sich der junge Mann allerdings eher wie ein Nachtwächter vor als wie ein Verkäufer, denn der Kundenandrang hält sich doch arg in Grenzen. Dabei fällt Clay schnell auf, dass neben den gewöhnlichen Buchhandelskunden ein zweiter Kundenstamm Penumbras Buchhandlung frequentiert, ältere Leute, die Bücher nur ausleihen. Clay hat diesen besonderen Mitgliedern die gewünschten Werke auszuhändigen und muss die Transaktionen genauestens protokollieren, ein Durchblättern oder Lesen der Bücher ist ihm nicht gestattet. Als eines Nachts ein Mann namens Corvina in der Buchhandlung auftaucht, ist Penumbra ganz aus dem Häuschen, schließt kurzerhand den Laden und verschwindet spurlos. Zusammen mit seiner bei Google arbeitenden neuen Freundin Kat, seinem alten Unternehmer-Kumpel Neel und Penumbras Vertrauten einer Geheimgesellschaft namens Der Ungebrochene Buchrücken macht sich Clay an die Lösung eines alten Rätsels, dessen Ursprung in den Anfängen des Buchdrucks liegt.
„Der Ungebrochene Buchrücken. Ungebrochen, das klingt nach einer Gruppe von Attentätern, nicht nach ein paar Buchliebhabern. Was spielt sich in dem Gebäude ab? Gibt es sexuelle Fetische, bei denen Bücher eine Rolle spielen? Bestimmt. Ich versuche mir nicht vorzustellen, wie das vonstattenginge. Müssen die Ungebrochenen einen Mitgliedsbeitrag zahlen? Wahrscheinlich sogar einen hohen. Wahrscheinlich machen sie teure Kreuzfahrten. Ich mache mir Sorgen um Penumbra. Er steckt so tief da drin, dass ihm gar nicht klar ist, wie seltsam das Ganze ist.“ (S. 157) 
Mit seinem Debütroman „Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra“ hat der in San Francisco lebende Autor Robin Sloan Umberto Ecos Setting des mittelalterlichen „Der Name der Rose“ auf witzige Weise in die Neuzeit verlegt und die Geheimnisse, die das Verfassen, Übersetzen, Drucken und Beherbergen von Buchschätzen seit Beginn der Buchdruck-Ära immer mit sich gebracht haben, mit den grenzenlosen Möglichkeiten weltumspannenden Internets verknüpft.
Bei Sloan trifft sich das vertraute Flair alteingesessener Buchhandlungen mit dem modernen Schick eines dynamisch wachsenden Google- Campus, der mittelalterliche Foliant mit der neuesten E-Book-Reader-Generation, der Hüter alten Wissens mit dem international agierenden Hacker. Wie Sloan seine sympathischen Protagonisten dabei durch die Geschichte des Buchdrucks und die Errungenschaften des Internets jagen lässt, ist ebenso humorvoll wie kurzweilig geschrieben, wartet mit schönen Wendungen auf und mündet in einem herrlich turbulenten Finale. Liebhaber bibliophiler Rätsel dürften an diesem Roman ebenso viel Freude haben wie die moderne E-Book-Generation.
Leseprobe Robin Sloan- "Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra"

Tom Wolfe – „Back To Blood“

Samstag, 9. Februar 2013

(Blessing, 768 S., HC)
Der fünfundzwanzigjährige Cop Nestor Camacho wurde gerade erst zu Miamis Marine Patrol versetzt, da gerät er durch einen kühnen Rettungsversuch in die Schlagzeilen, als er einen kubanischen Flüchtling vom Mast einer Luxusyacht holt. Das von etlichen Schaulustigen und den Medien beobachtete Spektakel wirkt sich allerdings nicht positiv auf Nestors Karriere aus, denn für seine kubanische Familie, Freunde und Mitbürger ist er ein Verräter am eigenen Volk, während ihn die amerikanische Bevölkerung als Helden feiert.
Nestors Freundin, die psychiatrische Krankenschwester Magdalena, flüchtet in die Arme ihres prominenten Chefs, der sich wiederum durch einen pornografiesüchtigen Patienten in die Elite von Miamis Gesellschaft einschleicht. Nachdem bei YouTube auch noch ein Video auftaucht, in dem Nestor mit einem Kollegen auf einen Afroamerikaner losgeht und ihn wüst beleidigt, muss der Cop seine Dienstwaffe und –marke abgeben. Doch in seiner Freizeit geht er dem engagierten Journalisten John Smith zur Hand, der Nestor im Miami Herald als Helden gefeiert hat und den Cop nun zur Aufdeckung eines gigantischen Kunstschwindels benötigt. Ausgerechnet Nestors Ex-Freundin Magdalena entwickelt sich zur wertvollen Augenzeugin, nachdem sie die Gunst von Sergej Koroljow, russischer Oligarch und Förderer der Kunstszene in Miami, erringen konnte. Doch statt den Ausflug in die schillernde Welt des charmanten und attraktiven Mannes von Welt zu genießen, wird Magdalena in Sergejs Umfeld so gedemütigt wie noch nie in ihrem Leben.
„Sergej ist genau jetzt im siebten Himmel … Er ist zufrieden, wenn er den ganzen Abend hier an diesem Tisch sitzen kann … an diesem riesigen Zehnertisch, nur er und seine kleine chocha, vor einem endlosen weißen Ozean mit glitzernden Pailletten. Es ist nicht zu übersehen! Da ist er! Der mächtigste Mann im Saal! … Ihr Elend kann er nicht mal ansatzweise begreifen … Bitte, mein attraktiver Retter, bitte, bring mich weg von hier … errette mich vor den tausend beschämenden, bemitleidenden, ausweichenden Blicken … aber neeeeeiiiiin, er muss aufs Podest, ganz nach oben, muss sich zur Schau stellen … Seht her, der Zar! … aus Hallandale, Florida, Russlands Herzland.:::::: Endlich endlich endlich endlich – und dieses endlich fühlte sich an wie endlich, nach fünf Jahren höllischer Qualen – endlich schlug Sergej vor, zu der großen Party auf Star Island zu fahren. Sein Abgang war wie sein Auftritt … die Schmeicheleien, die Umarmungen, die in Ohr gebrüllten Nettigkeiten, und Sergej mittendrin, über zwei Meter groß, die Brust aufgepumpt, während sie alle sprangen … Und Magdalena? Sie existierte nicht mehr. Sie schauten einfach durch sie durch.“ (S. 618) 
Tom Wolfe, der zusammen mit Zeitgenossen wie Norman Mailer und Truman Capote in den 60er Jahren den New Journalism mitbegründete und erst 1987 mit „Fegefeuer der Eitelkeiten“ sein gefeiertes Romandebüt veröffentlichte, zählt zu den großen Stilisten seiner Zunft und versteht es wie kaum ein Zweiter, gesellschaftliche Milieus treffend zu beobachten und zu charakterisieren. Im Mittelpunkt seines neuen, fast 800 Seiten umfassenden Werks nimmt er sich kulturellen Schmelztiegel Miamis vor, indem nicht nur die Reichen und Schönen zu leben verstehen, sondern auch Kubaner, Haitianer, Afroamerikaner und Latinos ihr Leben verbringen. Geschickt spannt Wolfe den Bogen von einer eigentlich alltäglichen Polizeiaktion über die Medien, die ebenso abhängig von ihrer Kundschaft und den Anzeigenkunden ist wie der Polizeichef von der Gunst des Stadtrats. Es dreht sich eben alles um Geld und Macht. Das wird Nestor, dem einfachen Polizisten mit kubanischem Hintergrund, erst allmählich klar, als er an der Seite des Journalisten John Smith in andere gesellschaftlichen Sphären vordringt und ihre dunklen Machenschaften kennenlernt. Seine Ex-Freundin Magdalena tut dies auf andere, aber ebenso Spuren hinterlassende Weise. Wolfe beschreibt diesen einzigartigen Clash of Cultures mit bissigem Witz, aber ohne eine seiner Charaktere zu verurteilen.  
„Back To Blood“ ist bei aller epischer Länge eine überraschend kurzweilige Gesellschaftssatire, die in ihrem manchmal zu lautmalerischen Stil anstrengt, aber überwiegend nah bei seinen charismatischen Figuren bleibt.
Lesen Sie im Buch: Wolfe, Tom - Back to Blood

Kathy Reichs (Tempe Brennan: 11) - „Der Tod kommt wie gerufen“

Dienstag, 12. April 2011

(Blessing, 352 S., HC)
Die forensische Anthropologin Temperance Deasee Brennan versucht sich während einer gähnend langweiligen Fakultätssitzung am Campus der Universität von Charlotte, North Carolina, an wenig inspirierten autobiografischen Versuchen, als sie einen wichtigen Anruf von Tim Larabee erhält, den Leichenbeschauer des Mecklenburg County und Direktor der entsprechenden pathologischen Einrichtung in Charlotte. Die Jungs vom Morddezernat haben in einer unterirdischen Kammer Knochenreste gefunden, die in Zusammenhang mit einer rituellen Tötung zu stehen scheinen. Außerdem hat Brennan eine Wasserleiche aus dem Catawba River auf dem Tisch liegen.
Zusammen mit Detective Erskine Slidell vom Morddezernat des Charlotte-Mecklenburg PD versucht sie nicht nur, über die verschiedenen Sekten wie Santería, Voodoo, Wicca und Brujería zu recherchieren, sondern auch die Öffentlichkeit zu beruhigen, die durch die Sensationsberichterstattung in den Medien ziemlich aufgebracht ist. Während ihrer Ermittlungen stoßen sie auf einen Grabraub auf dem Elmwood Friedhof.
„Ich las die Inschrift. Mary Norcott London war 1919 gestorben. Sie war vierundzwanzig. Das Denkmal war von ihrem Ehemann, Edwin Thomas Cansler, errichtet worden. Ich dachte an den Schädel in meinem Labor. Gehörte er wirklich Susan Clover Redmon?
Mary war Edwins Frau gewesen. Sie war so jung gestorben. Was für ein Mensch war Susan gewesen? Was für ein Unglück hatte ihr Leben derart verkürzt? Ihr Glück beendet oder ihr Leiden, ihre Hoffnungen oder Ängste?
Hatten trauernde Eltern Susans Sarg voller Liebe ihrem Grab übergeben? Dachten sie an ein Mädchen, das Malbücher mit Buntstiften ausfüllte, das mit seinem brandneuen Schulranzen in den Bus stieg? Hatten sie geweint, voller Kummer darüber, dass das Versprechen ihrer Zukunft nie in Erfüllung gehen würde? Oder war es ein Ehemann gewesen, der ihren Tod betrauert hatte? Geschwister?“ (S. 180 f.)
Die Suche nach den Tätern gestaltet sich in der Stimmung verbreiteter Angst vor dem Treiben unbekannter Sekten schwieriger als erwartet. Doch ausgerechnet das T-Shirt ihres Ex- oder Noch-Geliebten Ryan bringt Tempe auf die richtige Spur …
Kathy Reichs weiß als Professorin für Soziologie und Anthropologie, die auch als forensische Anthropologin arbeitet, worüber sie schreibt. Allerdings lässt sie auch kaum eine Möglichkeit aus, ihre Leserschaft mit ihrem Wissen zu beeindrucken. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kolleginnen wie Tess Gerritsen oder Patricia Cornwell folgt Reichs nicht straff den Konventionen des Genres, sondern unterbricht den Handlungsverlauf und so auch den Spannungsaufbau immer wieder mit seitenlangen Ausführungen über die theoretischen Grundlagen ihres Fachgebiets oder – wie in ihrem elften Fall - auch über Charlottes Geschichte und die verschiedenen synkretischen Religionen unterbricht. Das ist auf der einen Seite natürlich sehr lehrreich, oft aber auch übertrieben ausführlich und so spannungshemmend. Wie Tempe zum Schluss den Fall löst, ist zwar spektakulär, aber auch ziemlich konstruiert.
Lesen Sie im Buch: „Der Tod kommt wie gerufen“

Alan Hollinghurst - „Die Schönheitslinie“

Montag, 6. April 2009

(Blessing, 572 S., HC)
Nachdem bereits das 1988 veröffentlichte Debüt des britischen Autors Hollinghurst, „Die Schwimmbadbibliothek“ im Jahre 1983 spielte, begibt sich auch das Szenario seines neuen Romans in dieses, vor Thatchers zweiter Amtszeit stehendes Jahr, wo sich mit Nick Guest der Sohn eines Antiquitätenhändlers ins noble Notting Hill begibt, wo er von den Eltern seines Collegefreundes Toby Fedden aufgenommen wird.
Nicks Gastvater Gerald Fedden ist Staatssekretär bei der „eisernen Lady“, so dass Nick schnell die High Society in London kennen und lieben lernt. Etwas schwieriger gestaltet sich das homosexuelle Coming-Out des Zwanzigjährigen, da man zu jener Zeit erst ab 21 Sex mit Männern haben durfte. Im privaten Park gleich in der Nähe der Fedden-Residenz hat Nick sein erstes schwules Sex-Erlebnis und kann jahrelang seine homosexuelle Gesinnung geheim halten. Drei Jahre später ist Nick mit Wani liiert, mit dem er ein exklusives Lifestyle-Magazin auf die Beine bringen will, aber außer Parties feiern bekommen die beiden nicht viel auf die Reihe. Derweil spürt man, dass die Heimlichtuerei nicht lange gut gehen kann, und tatsächlich: als Nicks sexuelle Gesinnung öffentlich wird, ist es mit aller Herrlichkeit und dem Schwelgen im Luxus bald vorbei … Hollinghurst versteht es mit schonungsloser Offenheit und enorm viel erzählerischer Raffinesse, die Faszination der Jugend für den Luxus und einen abgehobenen Lifestyle darzustellen.