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J. Paul Henderson – „Daisy“

Sonntag, 24. März 2024

(Diogenes, 336 S., HC) 
Mit „Der Vater, der vom Himmel fiel“ und „Letzter Bus nach Coffeeville“ hat der britische Schriftsteller J. Paul Henderson bereits zwei eindrucksvolle Belege seiner Fähigkeiten präsentiert, mit viel Wärme und Feingefühl die Lebensgeschichten einfacher, aber doch irgendwie besonderer Menschen zu erzählen, die der Leserschaft bereits nach wenigen Seiten ans Herz wachsen. Mit seinem neuen Roman „Daisy“ ist Henderson ein weiterer äußerst liebenswerter Wurf gelungen. 
Dass Herod S. Pinkey nach dem Kindermörder Herodes benannt worden ist, stellt nur eine von vielen Kuriositäten und Demütigungen dar, die Herod durch seinen Vater im Leben erleiden musste. Dazu zählt auch der Umstand, dass Herod nach seinem Schulabschluss zwar in der Firma seines Vaters arbeiten durfte, aber nie über einfache Tätigkeiten in der Poststelle oder im Facility Management hinaus gefordert wurde. 
Nach dem Tod seines Vaters und dem Selbstmord seiner Mutter ist Herod, der lieber Rod genannt werden will, ein reicher Mann, der völlig überfordert damit gewesen wäre, die Firma seines Vaters weiterzuführen, und stattdessen praktisch umsonst in einer Galerie zu arbeiten anfängt, um neue Freunde zu finden. Rod kommt auf diese Weise auch an ein paar Dates, doch erst als er seinen Freunden Donald und Edmundo den neuen Fernseher vorführen will, verliebt er sich in Daisy, die in der Gerichtsshow „Judge Judy“ ihren Ex-Freund auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt hat. Rod schaut sich am folgenden Tag wiederholt die Aufzeichnung der Sendung an, wobei er sich nicht daran stört, dass diese selbst bereits vor dreizehn Jahren ausgestrahlt worden ist. 
„Der größte Haken dabei war, dass ich nun zwar Daisy kannte, ganz gleich wie virtuell, sie aber noch nicht einmal ahnte, dass es mich überhaupt gab. Ich wiederum wusste nichts von ihren derzeitigen Umständen: wo sie wohnte, ob sie alleinstehend oder verheiratet war, am Leben oder – Gott bewahre – tot. All dass musste ich natürlich erst in Erfahrung bringen, bevor ich in ein Flugzeug stieg und mich in einem Land, in das ich nie wieder einen Fuß zu setzen geschworen hatte, auf die Suche nach ihr machte.“ (S. 159) 
Tatsächlich engagiert Rod eine Detektei, die wiederum in den USA einen Detektiv auf die Suche nach Daisy Lamprich ansetzt. Zusammen mit seinen beiden Freunden unternimmt Rod schließlich eine abenteuerliche Odyssee in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten… 
Obwohl der Ich-Erzähler Herod „Rod“ S. (für Solomon) Pinkey gleich zu Beginn konstatiert, dass er zu der Sorte Mensch zähle, die nicht gern von sich reden, und in eine Daisy Lamprich verliebt sei, erweist sich Herod auf den folgenden 330 Seiten als sehr eloquenter, humorvoller Chronist seines ungewöhnlichen Lebens. 
Bereits in der Beschreibung seines komplizierten Verhältnisses zu seinen Eltern lässt sich erahnen, dass Herods Biografie einige Stolpersteine bereithält, und Henderson beweist großes Geschick darin, seinen Protagonisten als einen sich selbst nicht allzu ernst nehmenden Lebenskünstler zu portraitieren, der trotz leichter Legasthenie und Schwierigkeiten, Freunde und Anerkennung zu finden, seinen Weg macht und bereit ist, auch unorthodoxe Wege zu seinem Glück einzuschlagen. 
Henderson nimmt sich viel Zeit, um nicht nur Herod mit all seinen liebenswert erscheinenden Schrullen zu charakterisieren, sondern auch dessen Beziehungen zu den Menschen, die ihm am nächsten stehen und die ihn schließlich von England aus auf die Odyssee in den USA begleiten. 
Mit „Daisy“ ist Henderson eine sehr kurzweilige Geschichte über das ungewöhnliche Leben eines Mannes mit einigen Handicaps gelungen, wobei diese immer wieder durch kursiv gedruckte Kapitel umrahmt wird, in denen sich Rod mit seinem Verleger Ric darüber unterhält, wie er die Liebesgeschichte rund um die titelgebende Daisy am besten verpackt. Es ist ein Roman voller liebenswürdiger Charaktere und skurriler Abenteuer, ein Roman voller Fantasie und Mut, seine Träume zu verwirklichen, so unmöglich sie auch erscheinen mögen. Das macht einem vor allem die grandiose Pointe vor Augen. 

Scott Alexander Howard – „Das andere Tal“

Mittwoch, 20. März 2024

(Diogenes, 464 S., HC) 
Denkt man an Zeitreisen, kommt einem als Filmliebhaber sofort mehrere Filme in den Sinn, von George Pals „Die Zeitmaschine“ (1960) nach dem Roman von H.G. Wells, Robert Zemeckis‘ „Zurück in die Zukunft“-Trilogie und James Camerons „Terminator“-Filme bis zu Darren Aronofskys „The Fountain“. In der Literatur sind es vor allem Science-Fiction-Autoren wie Robert A. Heinlein („Predestination – Entführung in die Zukunft“), Dan Simmons („Ilium“) und Stephen Baxter („Zeitschiffe“), die sich mit Zeitreisen beschäftigen, aber auch im Bereich der Fantasy und der „normalen“ Belletristik sind thematisch relevante Werke wie Audrey Niffeneggers „Die Frau des Zeitreisenden“ oder Félix J. Palmas „Die Landkarte der Zeit“ zu finden. Nun hat sich der kanadische Philosoph Scott Alexander Howard in seinem Debütroman „Das andere Tal“ auf ebenso philosophische wie einfühlsame Weise mit dem Thema auseinandergesetzt. 
Die schüchterne Odile Ozanne steht kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag und damit auch vor der Entscheidung, welchen Weg sie nach der Schule einschlagen werden. Bevor der Unterricht durch Pichegru endet und die praktische Lehre in der (namenlosen) Stadt beginnt, stellen verschiedene Handwerker und Angestellte in der Schule ihre Tätigkeiten vor, dazu stehen Ausflüge zu Bauernhöfen, zur Sägemühle und an die Grenze an. Die dort stationierten Grenzbeamten achten darauf, dass es zu keinen unerlaubten Grenzübertritten in die jeweils benachbarten Täler kommt – mit den jeweils gleichen Städten, aber zwanzig Jahre in der Vergangenheit bzw. in der Zukunft liegen. Über die Petitionen, wem ein Grenzübertritt gestattet wird – in der Regel nur bei Trauerfällen -, entscheidet das Conseil. 
Odiles Mutter hatte sich einst dort beworben, den strengen Auswahlprozess aber nicht überstanden und fristet nun als gewöhnliche Angestellte dort ihr Dasein. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als ihre Tochter nun dort eine Ausbildung absolviert, um auch ihren eigenen Status in der Gemeinde zu erhöhen. Tatsächlich gelingt es Odile, trotz ihrer nicht überzeugenden Aufsätze, von ihrem Lehrer Pichegru als als eine von zwei Kandidat:innen zum Auswahlverfahren berufen zu werden, bei dem sich die Teenager mit ihnen vorgelegten Modellfällen auseinandersetzen, das Für und Wider der Petitionen der Trauernden abwägen und letztlich eine Entscheidung über Gewährung oder Ablehnung des Gesuchs treffen müssen. Selbst bei einer Zusage ist es den Trauernden nicht gestattet, Kontakt zu den geliebten Personen aufzunehmen, sondern sie dürfen sie nur aus sicherer Entfernung aus beobachten. 
Dass Odile dabei eine Hürde nach der anderen nimmt, ist fraglos auch dem Umstand geschuldet, dass sie kürzlich zwei Besucher aus der Zukunft erkennt und ihr bewusst wird, dass ihr Schulkamerad Edme nicht mehr lange zu leben hat. Odile beginnt, sich mit Edme anzufreunden, doch gelingt es ihr nicht, sein Verschwinden nach einem gemeinsamen Ausflug mit Alain, Justine und Jo zu verhindern. Am Ende muss sie selbst einen Weg finden, um in der Vergangenheit einen Weg zur Beeinflussung der tödlichen Ereignisse zu finden, denn je mehr Zeit Odile mit Edme verbringt, desto mehr entwickelt sie Gefühle für ihn… 
„Wie er so aufs Ufer zurannte, wurde mir etwas bewusst. Auch wenn es nur ein stilles Eingeständnis vor dem Spiegel gewesen war – dadurch, dass ich meine Gefühle in Worte gefasst hatte, hatte ich alles zwischen uns verändert. Von jetzt an würde ich mich immer fragen, ob es mit Edme voranging oder nicht so gut lief, würde messen, wie weit ich noch von einem unklaren, aber dennoch schmerzhaft ersehnten Ziel entfernt war.“ (S. 115) 
Scott Alexander Howard, der sich in Harvard als Postdoktorand mit der Beziehung zwischen Erinnerung, Emotionen und Literatur beschäftigte, ist mit „Das andere Tal“ ein ungewöhnlicher Roman gelungen, der in einer zwar französischsprachigen, aber nicht näher definierten Gegend und Zeit angesiedelt ist. In der Konstellation dreier komplett von der Außenwelt abgeschnittener, identischer Täler und Städte, zwischen denen jeweils zwanzig oder vierzig Jahre liegen, spielt der Autor natürlich überwiegend mit dem Gedanken, welche Auswirkungen ein Eingreifen in vergangene Ereignisse auf die Gegenwart und Zukunft haben könnte, aber es ist auch eine sanft erblühende Liebesgeschichte zwischen zwei Jugendlichen, die keine echte Chance bekommt, sich zu entwickeln, geschweige denn zu vollenden. 
Was Howard dabei besonders gut gelingt, ist die Beschreibung einer fast diktatorisch beherrschten Welt, in der argwöhnisch das Treiben der Mitmenschen beäugt und bei auffälligem Fehlverhalten entsprechende Strafmaßnahmen eingeleitet werden. Wie die Patrouille, zu der schließlich auch Odile eingeteilt wird, auch mit tödlichen Schüssen an der Grenze darauf achtet, dass Trauernde zu keinen unüberlegten Handlungen hingerissen werden, erinnert nicht von ungefähr an die frühere Grenze zwischen der BRD und der DDR, aber inmitten dieser tristen Schilderung des Alltags in einer Art Überwachungsstaat lässt der Autor viel Raum für die komplexen Gefühlswelten seiner Ich-Erzählerin Odile. 
Scott Alexander Howard ist mit „Das andere Tal“ ein kluger, einfühlsamer und philosophischer Roman über vorbestimmtes Schicksal und freien Willen, über Trauer, Liebe, Pflichterfüllung und Tod, über Selbstbestimmung und Gemeinschaftswohl, über Loyalität und Verrat gelungen. Viel Stoff also für einen einzigen Roman, dem es allerdings über den zahlreichen Gedankenspielen nicht immer gelingt, die emotionale Entwicklung seiner Protagonistin nachvollziehbar zu gestalten. 

 

Ray Bradbury – „Die goldenen Äpfel der Sonne“

Freitag, 15. März 2024

(Diogenes, 242 S., Tb.) 
Seit Ray Bradbury (1920-2012) im Jahr 1938 in der Zeitschrift Imagination! seine erste Geschichte veröffentlichte, folgten viele weitere Kurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften, bis 1947 sein erstes Buch erschien. Mit dem Erfolg der sozialkritischen „Mars-Chroniken“ (1950), mit denen Bradbury die Kolonialisierung des Planeten Mars und die Ängste der Amerikaner in den 1950er Jahren thematisierte, wuchs auch das Interesse an seinen Erzählungen. 
Eine der ersten Sammlungen veröffentlichte Doubleday 1953 mit „The Golden Apples of the Sun“, die 22 zwischen 1945 und 1953 entstandene Science-Fiction-Geschichten enthielt, die 1970 erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Geh‘ nicht zu Fuß durch stille Straßen“ erschienen und 1981 von Diogenes unter Verwendung des Originaltitels neu veröffentlicht worden ist. 
Die Geschichte „Der Fußgänger“ ist im Jahr 2053 angesiedelt und spielt in einer Dreimillionenstadt, die nur noch von einem Polizeiauto patrouilliert wird. Der Wagen fährt durch die verlassenen Straßen und gabelt mit Leonard Mead einen einsamen Mann auf, dessen Lieblingsbeschäftigung das Hinauswandern in die Stille ist. Da Mead über keinen Beruf verfügt, auch nicht über eine Frau, die ihm ein Alibi verschaffen könnte, soll er ins Psychiatrische Forschungszentrum für regressive Tendenzen gebracht werden… 
„Die Aprilhexe“ ist ein siebzehnjähriges Mädchen namens Cecy, die einer wundersamen Familie mit Zauberkräften entstammt und die Fähigkeit besitzt, ihren Körper zu verlassen und ihren Geist auf jedes erdenkliche Abenteuer zu entsenden. Sie schlüpft in den Geist von Ann Leary und lässt sie sich in den Jungen Tom verlieben, doch Tom bemerkt die Veränderung, die Ann durchmacht, und verliert das Interesse an ihr, was Cecy verzweifeln lässt. 
„Die Wildnis“ erzählt von den beiden Schwestern Janice und Leonora, die sich im Jahr 2003 darauf vorbereiten, die sechzig Millionen Meilen von Independence, Missouri, zum Mars zurückzulegen. Während Leonora voller Furcht ist, freut sich Janice darauf, endlich ihren Will wiederzusehen. Mit einem Anruf will sie ihren Liebsten über ihren Plan informieren, doch die Verbindung bricht schnell ab… 
In „Die Früchte am Grund der Schale“ versucht William Acton den Mord an Donald Huxley zu vertuschen, indem er systematisch alle Gegenstände und Flächen in Huxleys Haus zu säubern versucht. Währenddessen rekapituliert er, wie es zu diesem Mord gekommen ist… 
In „Die Flugmaschine“ wird im Jahr 400 Kaiser Yuan von einem Diener darüber informiert, dass er über der Chinesischen Mauer einen fliegenden Menschen gesehen habe. Als er den Mann vom Himmel herunterrufen lässt, will ihn der Kaiser vom Henker töten lassen… 
Die beste Geschichte präsentiert uns Bradbury aber mit „Das Nebelhorn“. An einem Novemberabend erzählt McDunn von dem Nebelhorn, das sie am Meeresufer hören, davon, wie seit drei Jahren einmal im Jahr zu ebendieser Zeit ein Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres auftaucht und das Nebelhorn anschreit. 
„Das Nebelhorn blies. Das Ungeheuer antwortete. Ich begriff das alles, ich kannte das alles – die Million Jahre einsamen Wartens, dass jemand wiederkäme, der nie wiederkam. Die Million Jahre der Abgeschiedenheit am Meeresgrund, der Wahnsinn Zeit dort unten, während die Reptilien-Vögel von den Himmeln verschwanden, die Sümpfe auf den Kontinenten austrockneten, die Faultiere und Säbelzahntiger ihre Zeit erlebten und in Teergruben sanken und die Menschen wie weiße Ameisen über die Hügel liefen. Das Nebelhorn blies.“ (S. 17) 
Mit „Das Nebelhorn“, das noch im Erscheinungsjahr 1953 unter dem Titel „Panik in New York“ verfilmt worden ist, hat Ray Bradbury eine seiner poetischsten Geschichten geschrieben und damit auch seiner Faszination für die ausgestorbenen Dinosaurier zum Ausdruck gebracht, die er immer wieder mal in seinen Geschichten thematisierte. 
Neben der berührenden Vorstellung, wie ein Millionen von Jahren altes Meeresungeheuer mit einem Nebelhorn kommuniziert, ist es vor allem die magische, alle Vorstellungskraft befeuernde Sprache, die Bradbury wie kaum ein Zweiter beherrscht. Die übrigen Geschichten kommen allerdings selten an diese Qualität von „Das Nebelhorn“ heran. Oft sind es nur kurze Gedankenspielereien, fantastisch oder märchenhaft anmutende Episoden, die auch mal ohne richtige Pointe beendet werden, als hätte Bradbury am Ende die Lust verloren, die Geschichte weiterzuspinnen.


Ray Bradbury – „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“

Mittwoch, 6. März 2024

(Diogenes, 344 S., Tb.) 
Mit seinen verfilmten Werken „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und vor allem „Fahrenheit 451“ machte sich der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) unsterblich und hinterließ seine Spuren in der Kriminalliteratur ebenso wie im Horror-Genre, am eindringlichsten aber sicher im weiten Raum der Phantastik und Science-Fiction. Neben seinen bekannten Romanen erwiesen sich gerade Bradburys Kurzgeschichten als reicher Fundus an originellen Ideen und überbordender Sprachkunst. 1988 erschien mit „The Toynbee Convector“ eine späte Sammlung, die in der deutschen Ausgabe von Diogenes nach der besten Geschichte des Buches betitelt wurde: Vorhang auf für „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“ und 22 weitere Geschichten. 
In der eröffnenden Titelgeschichte der Originalsammlung, „Der Toynbee-Konvektor“ bittet der Reporter Roger Shumway den einzigen Zeitreisenden Craig Bennett Stiles zum exklusiven Interview und erlebt eine erstaunliche Überraschung. 
In der leicht gruseligen Geschichte „Die Falltür“ entdeckt Clara Peck nach zehn Jahren, die sie in dem alten Haus schon lebt, plötzlich eine Falltür, die zu einem unbekannten Dachboden führt – und zu unheimlichen Geräuschen, die sie erst Mäusen, dann Ratten zuordnet, bis sie selbst nachsehen muss, was sie allmählich in den Wahnsinn zu treiben droht. Im „Orientexpress Nord“ wird die alte Miss Minerva Halliday auf der Fahrt von Wien über Paris nach Calais auf einen bleichen Mann aufmerksam, der an einer furchtbaren Krankheit dahinzusiechen scheint. Als gelernte Krankenschwester erkennt sie sofort, an was der gebrechliche Mann leidet – an Menschen. Nach zweihundert Jahren, die er in einem Dorf bei Wien im Schutz von Bücherregalen vor den Atheisten lebte, sei er nun auf dem Weg nach England, wo die Menschen nicht zweifeln, sondern noch glauben, an Mythen und Grablegenden und Erscheinungen aus dem Reich des Unsichtbaren. Die Krankenschwester beschließt, den Mann auf seiner Reise zu begleiten… 
„Eine Nacht im Leben“ begleitet einen Mann auf seiner Reise nach New York, wo er über ein Stück für den Broadway sprechen soll, das nicht schreiben will, eigentlich aber davon träumt, in einer Frühlingsnacht mit einem Mädchen Hand in Hand irgendwohin spazieren zu gehen und in die Sterne zu sehen. 
„Es gibt keine Worte für so eine Nacht. Wir würden uns nicht einmal anschauen. Wir würden in der Ferne die Lichter der Stadt sehen und wissen, dass andere vor uns auf andere Hügel gestiegen sind, und dass es auf der Welt nichts Besseres gibt. Man könnte auch nichts Besseres machen; alle Häuser und Bräuche und Sicherheiten der Welt sind gar nichts gegen eine solche Nacht. Die Städte, die Menschen bei Nacht in den Zimmern der Häuser dieser Städte, die sind das eine; die Hügel und die freie Luft und die Sterne und das Händehalten, das ist das andere.“ (S. 64) 
In der Titelgeschichte der deutschen Ausgabe stehen die Comedy-Stars Stan Laurel und Oliver Hardy nur als Pate für eine außergewöhnliche Geschichte über einen Mann und eine Frau, die sich plötzlich auf einer Cocktail-Party begegnen und sich durch ihre gemeinsame Vorliebe für die beiden Komiker ebenfalls Laurel und Hardy nennen. 
Und so schafft Bradbury mit jeder weiteren Geschichte neue Welten, in der das Phantastische, das Ungeheuerliche, das Unvorstellbare einzieht und die Protagonisten zu kühnen Unterfangen und furchtlosen Träumen animieren. Nicht immer sind die Pointen überzeugend geglückt, und immer mal wieder gefällt sich Bradbury zu sehr in seiner grenzenlos erscheinenden Fabulierkunst, aber oft genug gelingt es ihm, bei seinem Publikum ein Tor in andere Welten zu öffnen, der Fantasie ihren freien Lauf zu lassen.


Donal Ryan – „Seltsame Blüten“

Mittwoch, 21. Februar 2024

(Diogenes, 272 S., HC) 
Dafür, dass sich Hartnäckigkeit durchaus auszahlen kann, ist der Ire Donal Ryan ein vorzügliches Beispiel. Von dem Umstand, dass seine ersten Romane 47-mal abgelehnt wurden, ließ er sich nicht beirren. Nachdem Lilliput Press ab 2012 Ryans ersten beiden Werke veröffentlicht hatte, wurde auch der Diogenes Verlag auf das Talent aufmerksam und legt nach „Die Sache mit dem Dezember“, „Die Gesichter der Wahrheit“, „Die Lieben der Melody Shee“ und „Die Stille des Meeres“ nun mit „Seltsame Blüten“ bereits den fünften Roman eines Autors vor, der für seine früheren Werke gleich mehrmals mit dem Irish Book Award ausgezeichnet worden ist. 
Irland im Jahr 1973. Mit ihren jeweils um die 60 Jahren leben Kit und Paddy Gladney gottesfürchtig, einfach, aber zufrieden in einem kleinen Cottage in Knockagowny, County Tipperary. Paddy fährt morgens mit der Post durch den Ort und arbeitet nachmittags als Knecht auf der Jackmans, während Kit sich neben dem eigenen Haushalt um die Buchführung einiger Kaufleute in der Gegend kümmert. 
Dass ihre einzige Tochter Moll als Zwanzigjährige vor fünf Jahren ohne etwas zu sagen eines Morgens den Bus nach Dublin genommen hat, lastet schwer auf der Seele des Ehepaars, zumal ihre eigenen Versuche, ihre Tochter in Dublin ausfindig zu machen, kläglich scheiterten. Doch fünf Jahre später taucht Moll ebenso plötzlich wieder vor ihrer Tür auf. Überglücklich lassen Kit und Paddy die Heimgekehrte erst einmal in Ruhe, bis sie selbst eine Erklärung zu ihrem Verschwinden und ihrer Rückkehr abzugeben bereit ist. 
Doch bevor Moll auch nur ein Wort dazu abgibt, taucht ein Mann in der Gegend auf, der sich nach Moll erkundigt, und wenig später steht auch er vor der Tür der Gladneys. Doch das sind nicht die beunruhigendsten Neuigkeiten, mit denen Kit und Paddy konfrontiert werden… 
„Kit löst die Finger aus der Gebetshaltung, ballt die Hände zu Fäusten, faltet sie erneut und fährt mit dem Takt ihres Rosenkranzes fort, sie versucht, die Gedanken auszublenden, die ihre Gebete überlagern, doch es gelingt ihr nicht. Es ist einer dieser Abende, an denen sich ungebetene Erinnerungen in dein Vordergrund drängen und ihre Gedanken in Beschlag nehmen.“ (S. 241) 
Mit seinem neuen Roman setzt sich Ryan einmal mehr mit dem Leben und den Schicksalen einfacher Menschen im stark katholisch geprägten Irland auseinander und beschreibt in fast schon verschwenderisch ausgereizter Sprachkunst, wie sich die fünfjährige Abstinenz einer geliebten Tochter und ihre unerwartete Rückkehr auf das Leben eines ganzen Dorfes auswirkt. Dabei geht Ryan nicht chronologisch vor. Tatsächlich unternimmt er in der Erzählung mehr als gewagte Sprünge ebenso in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, um die Geheimnisse rund um Molls Verhalten und weit darüber hinaus zu lüften. 
Vor allem der erste Teil ist dem Autor gut gelungen, wenn er die Lebensumstände und die Menschen in Knockagowny beschreibt. Als Moll, inzwischen 25-jährig, plötzlich zu ihren Eltern zurückkehrt, ändert sich natürlich einiges, doch wirken die nun beschriebenen Ereignisse sehr robust zusammengewürfelt. Ein funktionierender Erzählfluss will sich da nicht einstellen. Stattdessen wird man als Leser immer wieder mit neuen, lange zurückliegenden oder weit voraus geeilten Ereignissen konfrontiert, die erst im Laufe der nächsten Kapitel aufgeschlüsselt werden. 
„Seltsame Blüten“ stellt insofern einen programmatischen Titel dar, als Donal Ryan die Dramaturgie seiner Erzählung(en) kräftig durchrüttelt und sein Publikum dazu zwingt, sich immer neu auf die Ereignisse nach zunächst unbestimmt wirkenden Zeitsprüngen einzustellen. Das kann man machen, führt hier aber neben dem abgehackten Erzählfluss vor allem dazu, dass man bei all den verpassten Ereignissen, die im Nachhinein nur skizzenhaft rekapituliert werden, die emotionale Bindung zu den Figuren verliert. So überzeugt Ryans neuer Roman zwar einmal mehr durch seine sprachliche Virtuosität, doch fesselt der Plot längst nicht so wie in seinen vorangegangenen Werken.  

Emanuel Bergmann – „Tahara“

(Diogenes, 288 S., HC) 
In der Filmszene kennt sich der 1972 in Saarbrücken geborene Emanuel Bergmann aus, verbrachte er nach dem Abitur doch einige Jahre in Los Angeles, um Film und Journalismus studieren, um dann für verschiedene Filmstudios, Produktionsfirmen und Medien sowohl in den USA als auch in Deutschland zu arbeiten. Was liegt da näher, als einen Roman in der Filmwelt anzusiedeln?  
Bergmann entführt seine Leserschaft mit seinem neuen Roman „Tahara“ zum Filmfestival nach Cannes, wo das Leben seines Protagonisten kräftig aus den Fugen gerät. 
Der berühmte Filmkritiker Marcel Klein hat seine besten Zeiten hinter sich. Früher hat man ihn sogar mit George Clooney verglichen. Mittlerweile muss er seine Stirnglatze mit einem Strohhut verdecken. Er ist mit der Abzahlung eines Kredits im Rückstand und trifft völlig übermüdet in Cannes ein, von wo er einmal mehr über das Filmfestival berichten soll. 
In die Pressekonferenz mit John Travolta, der seinen neuen Actionfilm vorstellt, geht er völlig unvorbereitet, doch dafür begegnet er der attraktiven französischen Lehrerin Héloïse, die am Lycée Französisch und Deutsch unterrichtet und wie Marcel das Kino liebt. Bei einem Espresso kommen sich die beiden völlig unterschiedlichen Filmliebhaber näher, doch ihre Begegnungen in den folgenden Tagen sind ebenso von Leidenschaft wie Streit, vor allem aber von Geheimnissen geprägt, die erst nach und nach gelüftet werden und ihre stürmische Liaison in etwas verwandeln, was beide ebenso fasziniert wie verängstigt. 
Als Marcel für eine Titelstory den Hollywoodstar Eva Vargas interviewen soll, die in der Steven-Spielberg-Produktion „A Light in the Dark“ die Hauptrolle verkörpert, kommt es zum Eklat, als Marcel der Schauspielerin erst in den Ausschnitt guckt und sie dann auf die Affäre ihres Verlobten anspricht. Da Marcel aus dem Interview nicht viel herausholen kann, findet er eine eigene Lösung für das Problem, das ihm allerdings nach Abgabe seiner Story um die Ohren fliegt… 
„Nun war er aufgeflogen, und so schrecklich das war, es barg auch eine kleine Gnade. Er konnte neu anfangen, reinen Tisch machen. Er hatte in diesen Tagen mit Héloïse etwas gekostet, von dem er vermutete, dass es manch anderen Menschen für immer vorenthalten blieb. Er begehrte sie auf eine Art, die ihn vollkommen verzehrte, und hätte man ihn gefragt, was er brauche, so hätte er geantwortet: nichts außer ihr, weder Schlaf noch Wasser, ich will nur bei ihr sein, in ihr sein, mit ihr sein.“ (S. 200) 
Mit dem Titel „Tahara“ nimmt Emanuel Bergmann („Der Trick“) Bezug auf die jüdische Tradition, die Toten vor der Beerdigung von Kopf bis Fuß sorgfältig zu waschen, damit der Verstorbene ohne Schmutz und Scham, vielleicht auch ohne Sünde vor seinen Schöpfer treten kann. Bergmanns ein wenig autobiografisch eingefärbter Marcel Klein durchläuft in dem Roman eine ähnliche Entwicklung, wird er doch durch die Entlarvung eines jahrelang gepflegten feinen Lügengespinstes dazu gezwungen, kräftig aufzuräumen in seinem Leben. 
Als Katalysator dient ihm dabei die Affäre mit der streng katholisch erzogenen Französin Héloïse, die aus ihrer Ehe mit dem Apotheker Grégoire auszubrechen versucht, sich ihm aber durch ihr Ehegelübde bis zum Tod mit ihm verbunden fühlt. Über die schwierige Liaison zwischen Marcel und Héloïse hinaus bietet „Tahara“ aber auch faszinierende Einblicke hinter die Kulissen eines Medienspektakels wie dem Filmfestival in Cannes, wo wirklich alles nur darauf ausgerichtet ist, dass eine gute Presse zu den Filmen erscheint, um die Leute in die Kinos zu locken. 
Diese Mechanismen entlarvt der Filmbranchen-Insider Bergmann auf unterhaltsame Weise. Die Kombination aus temperamentvoller Liebesgeschichte und einem etwas desillusionierenden Blick in die Film- und Medienwelt wirkt selbst wie der Plot zu einem Hollywood-Film, erinnert stellenweise aber auch an die amourösen Abenteuer aus der Feder von Philippe Djian. Der temporeiche Plot und das interessante Thema machen „Tahara“ zu einem filmreifen Lesevergnügen.  

Kent Haruf – „Abendrot“

Montag, 12. Februar 2024

(Diogenes, 416 S., HC) 
Mit seinem 1984 veröffentlichten Debütroman „The Tie That Binds“ (der 2023 bei Diogenes in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das Band, das uns hält“ erschienen ist) entführte der US-amerikanische Schriftsteller Kent Haruf sein Publikum erstmals in den Mikrokosmos der fiktiven Kleinstadt Holt in den Great Plains von Colorado, in der auch die fünf nachfolgenden Romane des 2014 verstorbenen Autors angesiedelt sind. In „Abendrot“, dem vierten Band der Holt-Saga, begegnen wir meist Figuren, die uns bereits aus früheren Bänden bekannt sind, wie die McPheron-Brüder. 
Harold und Raymond McPheron haben nach dem frühen Tod ihrer Eltern ihr Leben lang gemeinsam auf der von ihnen bewirtschafteten Ranch gelebt und waren sich stets selbst genug. Nachdem sie vor zwei Jahren die damals schwangere Victoria Roubideaux bei sich aufgenommen haben, bereiten sie sich nun darauf vor, dass die alleinerziehende junge Frau mit ihrer Tochter Katie wieder ausziehen, ins über hundert Kilometer entfernte Fort Collins, wo Victoria das College besuchen will. 
Als Harold bei einem Zwischenfall mit den Rindern so schwer verletzt wird, dass er stirbt, muss Raymond auf einmal lernen, nicht nur auf sich allein gestellt zu sein, sondern auch erstmals wieder bewusst Kontakt zu anderen Menschen in der Stadt zu suchen. 
Derweil versuchen die von Sozialhilfe abhängigen Betty und Luther, Wallace irgendwie gemeinsam mit ihren Kindern Richie und Joy Rae durchs Leben zu kommen, wobei ihnen die engagierte Sozialarbeiterin Rose Tyler zur Hand geht. Doch als die Familie Bettys zu Gewaltausbrüchen neigenden Onkel Hoyt Raines nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bei sich aufnimmt, gerät das ohnehin fragile Familiengefüge völlig aus dem Gleichgewicht. Betty kann es kaum ertragen, keinen Kontakt mehr zu ihrer Erstgeborenen haben zu dürfen, nun kann sie nicht verhindern, dass Hoyt auch ihre Kinder misshandelt. Und dann ist da der elfjährige DJ, der sich liebevoll um seinen 75-jährigen Großvater Walter kümmert, seit seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Wenn sein Grandpa mit dem Rentenscheck von der Eisenbahngesellschaft in die Eckkneipe geht, erledigt DJ seine Hausaufgaben am Tresen. Mit der gleichaltrigen Nachbarstochter Dena Wells erlebt DJ schließlich die zarten Knospen der ersten Liebe. 
Bei seinen Ausflügen in die Stadt lernt Raymond tatsächlich auch Frauen kennen, doch der Umgang mit ihnen ist ihm überhaupt nicht vertraut. Zudem vermisst er seinen Bruder schmerzlich… 
„… plötzlich wurde ihm bewusst, dass sich das Zimmer, in dem er lag, direkt unter dem leeren Zimmer seines Bruders befand, und so starrte er an die Decke und fragte sich, wie es seinem Bruder im fernen Jenseits wohl ergehen mochte. Dort müsste es irgendwie Rinder geben und wohl auch eine Arbeit für seinen Bruder in der hellen wolkenlosen Luft inmitten von diesen Rindern. Ohne das wäre sein Bruder nie zufrieden. Er betete darum, dass es Rinder gab, seinem Bruder zuliebe.“ (S. 162) 
Mit „Abendrot“ gibt Kent Haruf einmal mehr einen einfühlsamen Einblick in das Leben der Einwohner des Präriekaffs Holt. Er schaut aus sicherer Distanz hinter Türen und Fenster der Häuser und Kneipen, Krankenhauses und des Sozialamts, bringt uns das Leben der McPheron-Brüder, der bedürftigen Wallace-Familie, dem Großvater-Enkel Gespann von Walter und DJ und beschreibt, was sie in ihrem Leben so beschäftigt. 
Der Autor ist dabei absolut neutral, verurteilt weder die Gewalttätigkeit von Hoyt Raines noch die Art, wie Betty und Luther Wallace tatenlos zusehen, wie Hoyt ihre Kinder vertrimmt. „Abendrot“ präsentiert sich vielschichtiges Panoptikum unterschiedlichster Menschen mit jeweils eigenen Ängsten und Sehnsüchten. Da ist für Liebe und Freundschaft genauso viel Platz für Trauer, Wut und Schmerz. Es sind Momentaufnahmen eines guten Jahres, die neugierig darauf machen, wie die Menschen in Holt ihr Schicksal in Zukunft meistern.  

Ray Bradbury – „Das Kind von morgen“

Mittwoch, 7. Februar 2024

(Diogenes, 368 S., Tb.) 
Mit teils auch großartig verfilmten, zu Klassikern avancierten Werken wie „Fahrenheit 451“, „Der illustrierte Mann“, „Die Mars-Chroniken“ und „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ hat sich Ray Bradbury (1920-2012) weit über die Grenzen der Science-Fiction hinaus einen Namen als brillanter, sprachgewaltiger Erzähler gemacht. Auch in der 1969 im Original als „I Sing the Body Electric!“ veröffentlichten und hierzulande zunächst als „Gesänge des Computers“ und „Die vergessene Marsstadt“, zuletzt als „Das Kind von morgen“ erschienene Sammlung von 17 zwischen 1948 und 1969 entstandenen Kurzgeschichten erweist sich Bradbury als Meister fantasievoller Gedankenspiele, die sich letztlich auf die tiefsten Emotionen eines Menschen zurückführen lassen. 
Mit der ersten Geschichte „Das Kilimandscharo-Projekt“ lädt der Ich-Erzähler einen Jäger ein, seine Zeitmaschine zu nutzen und damit nach Afrika ins Jahr 1954 zu reisen. „Die schreckliche Feuersbrunst drüben im Landhaus“ erzählt von vierzehn Männern, die sich mitten in den gesellschaftlichen Unruhen auf den Weg zum Anwesen von Lord Kilgotten machen, um sein Haus niederzubrennen. Allerdings gehen sie dabei viel zu höflich vor, um ihr Vorhaben auch umzusetzen. Sie verhalten sich leise, um nicht die Dame des Hauses zu wecken, ziehen die Schuhe aus, um die wertvollen Teppiche nicht zu verschmutzen, und lassen sich sogar dazu überreden, das Haus erst abzufackeln, wenn der Lord mit seiner Gemahlin zur Premiere eines Stückes nach Dublin abgereist ist. Als auch noch einige wertvolle Kunstwerke zur Sprache kommen, die der Brand zerstören würde, gerät das Vorhaben der Freiheitskämpfer endgültig ins Wanken. Zu den eindrucksvollsten Geschichten zählt die Titelgeschichte der von Diogenes herausgegebenen Ausgabe mit dem Titel „Das Kind von morgen“. Hier müssen sich Peter Horn und seine Frau mit der Tatsache anfreunden, dass ihr von Dr. Walcott entbundenes Kind die Form einer blauen Pyramide hat. Durch eine Distruktur der Dimensionen ist das Kind in eine andere Dimension hineingeboren worden, aber ansonsten ganz normal – nur dass es seine Eltern als weiße Würfel wahrnimmt. Als der Versuch der Wissenschaftler scheitert, das Kind aus seiner Dimension herauszuholen, müssen sich die Eltern entscheiden, ob sie stattdessen in die Dimension ihres Kindes überwechseln. 
„Die Frauen“ handelt von dem Urlaub eines Ehepaars am Strand, das durch im Meer erwachte Wesen auf eine harte Probe gestellt wird. Während es den Mann am letzten Tag des Urlaubs noch einmal ins Wasser zieht, lässt sich seine Frau allerhand Dinge einfallen, ihn davon abzuhalten, weil sie Sorge trägt, dass er ihrer überdrüssig geworden sein könnte und sich zu sehr den vermeintlich weiblichen geheimnisvollen Wesen im Wasser hingezogen fühlt. 
Die wahrscheinlich bekannteste Geschichte des Bandes ist die durch ein Gedicht von Walt Whitman inspirierte Titelgeschichte der amerikanischen Originalausgabe. „Ich singe den Leib, den elektrischen“ handelt von dem Einzug der Großmama von Timothy, Agatha und Tom, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Der Vater der drei Kinder bestellt eine Oma bei der Fantoccini GmbH, die damit wirbt, die erste humanoide mikro-elektrische wiederaufladbare Elektrische Großmutter perfektioniert zu haben. Während die beiden Jungs die neue Großmutter schnell ins Herzu schließen, ist Agatha noch zu sehr vom Verlust ihrer Mutter gepeinigt, um die neue Oma akzeptieren zu können. Doch mit ihrer weisen Art findet die Elektrische Oma schließlich auch einen Zugang zu Agatha. 
„,Und obwohl der Streit noch hunderttausend Jahre weitergehen mag: Was ist Liebe? werden wir vielleicht herausfinden, dass Liebe die Fähigkeit von jemandem ist, uns uns selbst zurückzugeben. Vielleicht ist es Liebe, wenn jemand begreift und sich daran erinnert, uns wieder an uns selbst auszuhändigen, eine Kleinigkeit besser, als wir zu hoffen oder träumen gewagt hätten.‘“ (S. 228f.) 
In „Die verschwundene Marsstadt“ macht sich ein Trupp von ausgesuchten Gästen auf Einladung von I.V. Aaronson auf den Weg zu einer 4-Tage-Reise zum Mars, um das Geheimnis einer verschwundenen Stadt zu lüften… 
Ray Bradbury entführt uns mit seinen Geschichten einmal mehr in vermeintlich fremde Welten, doch egal, in welche Zeiten und an welche Orte er uns entführt, geht es doch immer um zutiefst menschliche Sehnsüchte und Emotionen. Durch seine bildhafte Sprache entzündet der begnadete Autor den Funken der Fantasie bei seinem Publikum, konfrontiert ihn mit betörenden Märchen, die die Melancholie der Trauer und des Erinnerns ebenso lebendig werden lässt wie das Gefühl größter Zärtlichkeit, inniger Liebe und ganz natürlichen Wünschen. 
„Bradburys Stärke liegt darin, dass er über die Dinge schreibt, die uns wirklich wichtig sind – nicht die Dinge, für die wir uns angeblich interessieren: Wissenschaft, Ehe, Sport, Politik, Verbrechen“, wird Damon Knight auf der Rückseite des Buches zitiert. „Er schreibt über die fundamentalen Ängste und Sehnsüchte: die Wut, geboren zu sein; der Wunsch, geliebt zu werden; das Verlangen, sich mitzuteilen; der Hass auf Eltern und Geschwister; die Angst vor Dingen, die nicht wir selber sind…“ 
Besser kann man Bradburys Werk kaum zusammenfassen. 

 

Jonathan Lee – „Joy“

Samstag, 3. Februar 2024

(Diogenes, 384 S., HC) 
Mit seinem letzten, 2021 veröffentlichten Roman „The Great Mistake“ huldigte der in England geborene Schriftsteller Jonathan Lee seiner Wahlheimat New York und beschäftigte sich mit dem streitbaren Stadtplaner Andrew Haswell Green, dem die Stadt u.a. den Central Park und die öffentliche Bibliothek, den Zoo in der Bronx sowie das American Museum of Natural History und das Metropolitan Museum of Art verdankt und der am 13. Januar 1903 im Alter von 83 Jahren vor seiner Haustür erschossen wurde. Im Zuge der kriminalistischen Aufklärung des heimtückischen Mordes kommen einige Protagonisten zu Wort, die die Puzzleteile von Andrew Greens Leben und Wirken zusammenzusetzen helfen. 
Nachdem Diogenes Jonathan Lees vierten Roman 2022 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der große Fehler“ veröffentlicht hatte, legt der renommierte Verlag nun mit Lees 2012 veröffentlichten Debüt „Joy“ nach. Bereits hier dient der gewaltsame Tod eines Menschen als Grundlage für eine facettenreiche Geschichte in einem Metier, in dem sich der Autor, der früher in einer Anwaltskanzlei sowohl in Tokio als auch in London gearbeitet hat, bestens auskennt.
Joy Stephens könnte sich glücklich schätzen. Mit Mitte dreißig steht sie kurz davor, zur ersten Partnerin in der Londoner Anwaltskanzlei Hanger, Slyde & Stein ernannt zu werden. Sie ist mit dem Akademiker Dennis verheiratet, der gerade ein Sabbatical einlegt, in Wahrheit aber wegen der Anschuldigungen sexuellen Missbrauchs auf unbestimmte Zeit von seiner Lehrtätigkeit suspendiert ist, bis der Vorfall aufgeklärt worden ist und die Zeit nutzt, an seinem hoffentlich überaus verkäuflichen Buch über Shakespeare zu arbeiten und es bei einem populärer verlegen zu lassen als wie bisher im Universitätsverlag. 
Und sie unterhält eine Affäre mit Peter, einem ihrer Kollegen und zufälligerweise auch Mann ihrer besten Freundin Christine. Doch ausgerechnet bei ihrer Dankesrede stürzt sie sich vor aller Augen zehn Meter in die Tiefe. Der Schock der Zeugen sitzt tief. Und so bekommen alle, die Joy näher gekannt haben, die Gelegenheit, sich bei einem Psychotherapeuten auszusprechen, Dennis und Peter ebenso wie der hauseigene Fitnesstrainer Samir und die Persönliche Assistentin Barbara. Und dazwischen kommt Joy im Rückblick zu Wort, wenn sie den schicksalhaften Freitag von frühmorgens um 1:10 Uhr bis zum folgenreichen Sprung in die Tiefe Revue passieren lässt. 
„Mitten in diesem ganzen Lügengespinst blieb Dennis verlässlich. Sie liebte den einfühlsamen, sanftmütigen Dennis. Sie trug diesen Hunger nach Risiko in sich, aber gleichzeitig die Sehnsucht nach jemandem, der ihr Sicherheit gab und nett war. Er brachte ihr alles Mögliche, als sie depressiv war: Blumen, Cracker, Dinge außerhalb ihrer selbst. Seine Sätze waren voller Außenwelt.“ (S. 182) 
Mit seinem Debütroman hat sich Jonathan Lee auf vertrautes Terrain begeben und seine Kenntnisse des Alltags in einer modernen Anwaltskanzlei in seine Geschichte über das Leben einer Frau einfließen lassen, die offenbar mehr Geheimnisse mit sich herumtrug als ihre Mitmenschen vermutet haben. Der Autor erweist sich dabei als versierter Sprachkünstler. Wenn er die verschiedenen Protagonisten in kapitellangen Monologen zu Wort kommen lässt, verleiht er ihnen eine jeweils eigene Sprache. So spricht Samir ohne Interpunktionen, der nie aus dem Universitätsleben herausgekommene Dennis verliert sich dagegen in intellektuellen Ausschweifungen, die – bei aller sprachlicher Virtuosität gerade zu Anfang sehr ermüdend wirken. 
Was die Geschichte so lesenswert macht, sind die verschiedenen Perspektiven, die nicht nur aufzeigen, wie ihr Ehemann, ihr Geliebter, ihr Fitnesstrainer und ihre Sekretärin Joy wahrgenommen haben, sondern auch dahingehend aufschlussreich wirken, wie sich nach und nach interessante Details aus Joys Leben aneinanderreihen und den jeweiligen Ich-Erzählern Charakter verleihen. 
Dabei rückt vor allem ein Vorfall in den Vordergrund, bei dem Joy zusammen mit ihrem Neffen ein Tennis-Match besucht hat und ihn in der Warteschlange vor der Toilette verloren hat. Aber Jonathan Lee kramt auch die üblichen Klischees hervor, den Anwalt, der sich von einer seiner Trainees einen blasen lässt, oder die Vorurteile einer alternden Sekretärin gegenüber einem faulen Italiener, den die italienische Dependance abgestellt hat. 
Durch die Form der ununterbrochenen Monologe gewinnen die unterschiedlichen Personen schnell an Profil, doch so richtig warm wird man mit den Figuren nicht. Bei all den unerfüllten Sehnsüchten und Begierden, Lügen und Affären hinterlässt „Joy“ vor allem ein Gefühl der Niedergeschlagenheit, das nicht durch alles Geld der Welt vertrieben werden kann. 
Jonathan Lee ist mit „Joy“ ein zumindest interessantes, sprachlich virtuos inszeniertes Melodram gelungen, das Lust auf weitere Werke des Autors macht. Mit „Who Is Mr Satoshi?“ und „High Dive“ warten zumindest noch zwei weitere Romane auf eine deutsche Übersetzung. 

Walter Tevis – „Die Partie seines Lebens“

Mittwoch, 27. Dezember 2023

(Diogenes, 256 S., HC) 
Manchmal braucht es schon eine Netflix-Serie, dass ein hierzulande kaum beachteter Autor endlich die wohlverdiente Anerkennung erfährt. So geschehen bei dem leider schon 1984 verstorbenen US-amerikanischen Schriftsteller Walter Tevis. Der 1928 geborene Zweiter-Weltkriegs-Veteran und ehemaliger Universitätsdozent für Englische Literatur schaffte bereits mit seinem 1959 veröffentlichten Debütroman „The Hustler“ den Durchbruch, wurde das Werk zwei Jahre später von Robert Rossen mit Paul Newman, Jackie Gleason und Piper Laurie erfolgreich verfilmt. Doch erst mit dem Erfolg der preisgekrönten Netflix-Serie „Das Damengambit“ wurde Tevis‘ Schaffen auch im deutschsprachigen Raum entdeckt. Nachdem Diogenes bereits die Romanvorlagen zu der Erfolgsserie und zu Nicolas Roegs „Der Mann, der vom Himmel fiel“ (1976) mit David Bowie veröffentlicht hatte, erscheint nun mit „Die Partie seines Lebens“ eine Neuübersetzung von „The Hustler“. Die Verfilmung ist wie die erste Übersetzung bislang unter dem Titel „Haie der Großstadt“ bekannt geworden. 
Als die Chicagoer Billardlegende Minnesota Fats geflüstert bekommt, dass ein junges Talent namens „Fast Eddie“ Felson unterwegs wäre, um mit ihm zu spielen, nimmt er die Ankündigung mehr als entspannt zur Kenntnis. Schließlich ist er in seiner Heimatstadt seit zwanzig Jahren unangefochtener Meister in dieser Disziplin und unzählige Möchtegern-Emporkömmlinge in die Schranken verwiesen. Auf dem Weg von Hot Springs nach Chicago machen Eddie und sein Manager Charlie Halt in Watkins, Illinois, wo Eddie einen unbekümmerten Spieler und einen Barkeeper um einige Hunderter erleichtert. Es ist nicht mehr als ein leichtes Aufwärmen für Eddies großen Auftritt in Bennington’s Billard Hall am nächsten Morgen in Chicago, wo sich Minnesota Fats nicht lange bitten lässt, mit dem Talent der Stunde zu spielen.
Nachdem der routinierte Platzhirsch erwartungsgemäß die ersten Runden für sich entscheiden konnte, zeigt Eddie endlich, was in ihm steckt, und nimmt Minnesota Fats zunächst einen Tausender nach dem anderen ab, doch dann wendet sich das Blatt und Eddie verlässt das Bennington’s nach vierzig Stunden ebenso enttäuscht wie entkräftet. Er gibt Charlie den Laufpass und lernt in einer Bahnhofskneipe die alleinlebende Sarah kennen, die Eddie zunächst etwas Halt gibt. Doch dann packt Eddie wieder das Spielfieber. In Bert findet er einen neuen Manager, der Eddie vor allem etwas über Charakterbildung beibringt. 
„… nach diesem spannenden, knappen Spiel begann er, die leise Stimme der Vernunft zu hören, die ihm sagte, du kannst dich jetzt zurücklehnen, es ist nicht mehr so wichtig, doch er brachte diese Stimme zum Schweigen. Und indem er seinen Gegner damit immer stärker unter Druck setzte, sich immer mehr konzentrierte, wurde ihm allmählich klar, dass das, was Bert über den Charakter gesagt hatte, nur die halbe Wahrheit war. Es gab noch etwas, das Bert nur teilweise begriffen und ihm vermittelt hatte, und das war das feste, unveränderliche Wissen um den Zweck des Spiels – nämlich zu gewinnen.“ (S. 219) 
Mit der deutschen Übersetzung des Originaltitels („The Hustler“) als „Der Schwindler“ oder „Der Betrüger“ ist der Kern von Walter Tevis‘ Debütroman bereits definiert, denn der Protagonist, das junge Billard-Talent Eddie Felson, verdient seinen Lebensunterhalt damit, seinen Gegnern im Billard-Salon zunächst vorzugaukeln, nur ein mittelmäßiger Spieler zu sein, sie ein paar Partien gewinnen zu lassen, bevor er sie am Ende mit leeren Taschen dastehen lässt und weiterzieht. 
Tevis erweist sich als Meister darin, die Atmosphäre in verrauchten, schweiß- und alkoholgeschwängerten Billard-Hallen so zu beschreiben, als sei man mittendrin im Geschehen und würde die überlegten Stöße mit den Queues, das Klacken und Einlochen der Kugeln beobachten und hören. Aber „Die Partie seines Lebens“ ist weit mehr als nur ein Billard-Roman. Mit Eddie Felson hat der Autor eine Figur geschaffen, die zwar talentiert, aber nicht über alle Maße ehrgeizig zu sein scheint, weil sie im entscheidenden Moment versagt. Er sei der geborene Verlierer, muss sich Fast Eddie in einer langen Ansprache von seinem Manager sagen lassen, und diese Konfrontation mit der eigenen Charakterschwäche hallt lange in Eddie nach. Er lässt sich auf eine Beziehung mit einer Frau ein, die sich für eine Alkoholikerin hält und eine leichte Beute für den charmanten Eddie zu sein scheint. 
Aus dieser Konstellation heraus beginnt Eddie an sich zu arbeiten. Wer den eindrucksvollen Film mit Paul Newman in der Hauptrolle einmal gesehen hat, wird bei einzelnen Szenen im Buch auch immer die entsprechenden Bilder auf der Leinwand im Kopf haben, und wie im Film überwiegt auch im Roman eher die Entwicklung, die Eddie durchmacht, als seine Spiele gerade gegen gute bis sehr gute Spieler, die mit Pool ihren Lebensunterhalt verdienen. Die schlichte, aber bildhafte Sprache macht „Die Partie seines Lebens“ zu einem leicht fließenden Lesevergnügen, und man kann nur hoffen, dass Diogenes auch die kurz vor Tevis‘ Tod erschienene Fortsetzung, „The Colour of Money“ (wiederum erfolgreich verfilmt, diesmal mit Paul Newman und Tom Cruise in den Hauptrollen), ebenfalls in einer Neuübersetzung von Diogenes wiederveröffentlicht wird.  

Bernhard Schlink – „Das späte Leben“

Montag, 25. Dezember 2023

(Diogenes, 240 S., HC) 
Mit seiner Krimi-Trilogie um den alternden Privatdetektiv Gerhard Selb, vor allem aber mit dem international erfolgreich verfilmten Bestseller „Der Vorleser“ ist Bernhard Schlink zu einem der bedeutendsten deutschen Schriftsteller avanciert, dessen letzte Werke wie „Die Frau auf der Treppe“ (2014), „Olga“ (2018) und „Abschiedsfarben“ (2020) jeweils wochenlang Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste belegten. Nun legt der in Berlin und New York lebende Autor mit „Das späte Leben“ einen neuen Roman mit einem unbequemen Thema vor. 
Nach seiner jährlichen Routineuntersuchung erfährt der 76-jährige emeritierte Professor Martin Brehm, dass er Bauchspeichelkrebs und nur noch wenige Monate, längstens ein halbes Jahr zu leben hat. Eine Behandlung durch eine Chemo oder experimentelle Therapien kommen für Martin nicht in Frage. Stattdessen will er die ihm verbleibende Zeit möglichst intensiv mit seiner noch sehr jungen Frau Ulla, die als Malerin und in einer Galerie arbeitet, und mit ihrem gemeinsamen, sechsjährigen Sohn David verbringen. 
Zunächst geht es dem Krebskranken noch so gut, dass er die Diagnose des Arztes anzweifelt und eine Zweitmeinung durch einen früheren Universitätskollegen einholt, doch dann kehrt die Müdigkeit zurück und auch das Bewusstsein über die Notwendigkeit, seine Angelegenheiten zu regeln. Dabei beschäftigt ihn vor allem die Frage, was er seiner geliebten Frau und vor allem seinem Sohn noch mit auf den Weg geben kann. Die Idee, eine Videobotschaft für David aufzunehmen, wie es Ulla ihm nahegelegt hat, entspricht nicht Martins Vorstellungen, aber schreibt ihm einen Brief über die wichtigen Themen, die ihn bewegen und die seinem Sohn vielleicht als moralischen Kompass dienen könnten. 
Er schreibt über Liebe und Gerechtigkeit, über den Anteil der Arbeit in einem Leben und natürlich über den Tod, aber auch über die Erbstücke, wie den Schreibtisch und die Taschenuhr, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. 
„Ja, man konnte im Hier und Jetzt leben, nicht nur im Augenblick, der so voll und satt war, dass es nichts sonst gab, sondern tagein, tagaus. Er kannte Menschen, die so lebten. So oft er sie beneidete, öfter noch bedauerte er sie. Aber David würde seine Vergangenheit haben und mit ihr leben, ob Martin ein Teil von ihr wäre oder nicht. Martin begriff, dass es nicht um den Reichtum des Lebens mit der Vergangenheit ging, sondern um etwas ganz anderes. Die Jahre mit ihm und die Erinnerung an die Jahre mit ihm sollten David ein Grundstock an Gewissheit werden, dass er geliebt war.“ (S. 93) 
Bernhard Schlink ist mit „Das späte Leben“ ein großer Wurf gelungen. Einfühlsam beschreibt er aus der Perspektive eines 76-jährigen Mannes, der auf ein erfülltes Leben mit einer sehenswerten Karriere, einer jungen Frau und einem liebenswerten Sohn zurückblicken kann, wie er seinen Abschied vom Leben vorbereitet. Dabei spielen zwar auch praktische Überlegungen wie die Unterbringung in einem Hospiz eine Rolle, aber den Kern der letztlich schlichten, schnörkellos geschriebenen Erzählung bilden die Gedanken und Gefühle eines Sterbenden. 
Wie Martin mit einem langen Brief, den sein Sohn erhalten soll, wenn er sein 16. Lebensjahr vollendet, seine eigenen Überlegungen zu den Bausteinen des Lebens und moralischen Einstellungen niederschreibt, wird sehr deutlich, dass es für Martins Hinterbliebenen ein Leben nach seinem Tod gibt, dass sie ohne ihn zurechtkommen werden, so oder so. Obwohl der nahende Tod, das schmerzvolle Sterben im Mittelpunkt von „Das späte Leben“ stehen, ist die Stimmung des kurzen Romans jedoch recht unbeschwert, denn Schlink lässt seinen Protagonisten nicht in Selbstmitleid versinken. 
Stattdessen sorgt gerade der große Altersunterschied zwischen Martin, seiner Frau und seinem Sohn dafür, dass es eher darum geht, wie man sein eigenes Leben möglichst sinnvoll und erfüllt gestaltet. Dass Martin in den letzten Wochen seines Lebens auch zur Übergriffigkeit neigt, macht ihn nur menschlicher und zeigt, dass man sich nicht sicher sein kann, ob Gutgemeintes auch Gutes bewirkt.  
„Das späte Leben“ ist berührender, wichtiger Roman über die Bedeutung des Lebens, über Freiheit und Grenzen, über Liebe und Verantwortung, aber auch über die Schwierigkeit, loslassen zu können. 

Philippe Djian – „Ein heißes Jahr“

Mittwoch, 22. November 2023

(Diogenes, 228 S., HC) 
Von Beginn seiner schriftstellerischen Karriere an hat sich Philippe Djian vor allem mit amourösen Verstrickungen und der poetischen Beschreibung ihrer seelischen wie körperlichen Vorgänge einen Namen gemacht. In den letzten Jahren ist dem französischen Bestseller-Autor diese Fähigkeit allerdings weitgehend abhandengekommen. Dass sein neuer Roman „Ein heißes Jahr“ mit kaum mehr als 200 Seiten wieder sehr kurz ausgefallen ist, spricht zunächst wenig dafür, dass Djian wieder die Kurve gekriegt hat. Dafür setzt er mit der Klimakatastrophe in einer nahen Zukunft – der Originaltitel des Romans lautet „2030“ - zumindest auf ein hochaktuelles Thema. 
Vor zehn Jahren hat die schwedische Schülerin Greta Thunberg zu Schulstreiks für das Klima aufgerufen und den Weg für die globale Bewegung „Fridays For Future“ freigemacht. Als Greg eines Morgens eine Reportage über das „Mädchen mit den Zöpfen“ sieht, wird er mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, dass er zusammen mit seinem Schwager Anton für die Vertuschung von Forschungsergebnissen zur Schädlichkeit eines Pestizids verantwortlich ist. Und das in einer Zeit, in der die Temperaturen so stark steigen, dass man es ohne Klimaanlage kaum noch aushält. Dafür gibt es aber ein Heilmittel gegen Krebs, so dass wieder unbeschwert geraucht werden darf. Während Anton und Greg sich mit ihrem Labor der Gesundheitsaufsicht stellen müssen, die bei einigen der Untersuchungsergebnisse Verdacht geschöpft haben, unterstützt Greg seine vierzehnjährige Nichte Lucie bei ihrem Engagement für das Klima. Dadurch lernt er die Klimaaktivistin Véra kennen, mit der Greg eine ungewöhnliche Freundschaft eingeht, bei der die Grenzen nicht immer so klar definiert erscheinen wie ursprünglich abgesprochen… 
„Sie spielten dieses Spielchen schon eine ganze Weile, am Ende war es schon tiefe Nacht, und sie hatten sich so heißgemacht und gereizt, dass er ihr sogar einen Finger hineingeschoben hatte, aber in weniger als einer Minute hatten sie sich wieder im Griff und gingen in beiderseitigem Einvernehmen auseinander. Sie zog den Slip wieder an und rollte sich auf die Seite. Er stand auf. Sie konnte schlecht behaupten, dass das seine Idee gewesen wäre. Sie selbst hatte die Grenzen festgesetzt, sich darüber zu beklagen, ging jetzt nicht. Genau das musste es wohl bedeuten, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.“ (S. 158) 
Was anfänglich wie eine Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe wirkt, auf die wir wissentlich zusteuern, entpuppt sich bei Djian schnell nur als Aufhänger für eine weitere komplizierte Liebesgeschichte. Die familiären und beruflichen Bindungen zwischen Anton und Greg sind dabei komplex. Während für Anton als Chef des Labors, das mit seinen gefälschten Forschungsergebnissen dafür verantwortlich ist, dass das nach wie vor für den Handel zugelassene Pestizid in Zusammenhang mit einigen Todesfällen gebracht wird, vor allem das Image seiner Firma am Herzen liegt und mit den Töchtern seiner Frau arge Probleme hat, ist sein Schwager Greg hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität zu seiner Firma, die ihm ein luxuriöses Leben mit einem Porsche ermöglicht, und seiner gesellschaftlichen Verantwortung, auf die ihn seine Nichte und ihre Mentorin Véra aufmerksam machen. 
Djian interessiert sich jedoch mehr für das komplizierte Verhältnis zwischen Greg und Véra als für die Begleitumstände der bedrohlichen Klimakatastrophe, die Djian nur kurz skizziert. Im Gegensatz zu seinen früheren Romanen sind die Charakterisierungen der Figuren in „Ein heißes Jahr“ sehr oberflächlich ausgefallen. Eine wirkliche Nähe zu den Figuren oder gar Sympathie für sie lässt der kurze Roman leider nicht zu. So bleibt „Ein heißes Jahr“ nur eine weitere, eher unbedeutende, wenn auch stilsichere Fingerübung des einst so leidenschaftlich wirkenden Schriftstellers.


Tamar Halpern – „California Girl“

Dienstag, 31. Oktober 2023

(Diogenes, 304 S., HC) 
Die in Los Angeles lebende Tamar Halpern hat ihren akademischen Abschluss an der University of Southern California's School of Cinematic Arts gemacht und seit 2001 bislang hier weithin unbekannte Filme wie „Shelf Life“, „Your Name Here“, „Jeremy Fink and the Meaning of Life“ und „Llyn Foulkes One Man Band“ inszeniert. Nun legt sie mit „California Girl“ ihr literarisches Debüt vor, das sich ähnlich wie Vendela Vidas „Die Gezeiten gehören uns“ mit den Erfahrungen eines pubertierenden Mädchens im Kalifornien der 1980er Jahren auseinandersetzt. 
Anfang der 1980er Jahre pendelt die vierzehnjährige Timey zwischen ihrem in Berkeley lebenden Vater, der als Physikprofessor an der Universität lehrt, und ihrer in Los Angeles lebenden Hippie-Mutter, die dort gerade ihr Kunststudium beendet hat, hin und her und lernt so zwei ganz unterschiedliche Welten kennen. Während sie im San Fernando Valley die beiden Zwillinge B und N als beste Freundinnen hat, die ihr den California Lifestyle nahebringen, helfen ihr in San Francisco die Joints über die tristen Zeiten in ihrem Leben hinweg. 
Timey ist es gewohnt, sich ständig an neue Umgebungen anpassen zu müssen, denn mit ihren Eltern, die eine offene Beziehung zu leben versuchten und daran scheiterten, zog sie jedes Jahr um, musste sich immer wieder als Außenseiterin mit anderen Außenseiterinnen anfreunden. Mittlerweile ist Timeys Mutter zum dritten Mal verheiratet, ihr Dad hat seine neue Freundin Minnie im Schauspielkurs kennengelernt und mit seinen merkwürdigen Regeln immer neue Konflikte verursacht. Im prädigitalen Zeitalter verabredet man sich noch per Telefon und vereinbart geheime Codes, um sicherzustellen, auch den einzigen Telefonanschluss im Haus zu sichern, wenn der Anruf einer Freundin erwartet wird. 
Es werden verschiedene Moden und Drogen ausprobiert, das Desegregation-Busing, mit dem die Milieus an den Schulen vermischt werden sollen, entwickelt sich zu einem Flop. Timey lernt Bands wie D.O.A., R.E.O. Speedwagon und Journey kennen, hält aber Led Zeppelin und Pink Floyd für die größten Bands der Welt. 
„Heute Abend ist die Musik laut und wütend und besitzergreifend. Da ist keine Schönheit, kein langes Gitarrensolo, das dir klarmacht, wie viel in der Welt noch darauf wartet, die das Herz zu brechen. Ich sehe zu, wie Jeni ihre rote Lockentolle über die Waschbäraugen schüttelt. Dabei wird mir klar, dass sie und ich nicht dieselbe Person sind, und das tut mir weh.“ (S. 133) 
Timey macht die üblichen Teenager-Erfahrungen, wird beim Ladendiebstahl erwischt, schwänzt den Theaterkurs, um Gras zu rauchen, und lernt auf nicht ganz freiwillige Weise, was es mit dem großen Ding namens Sex auf sich hat… 
Tamar Halpern erzählt in ihrem Romandebüt zwar die Coming-of-Age-Geschichte eines Teenager-Mädchens, das durch die Scheidung ihrer Eltern die unterschiedlichen Lebenskulturen im San Francisco Valley und Los Angeles aus nächster Nähe kennenlernt, aber wirklich Kontur gewinnt weder die 14-jährige Icherzählerin noch die vielen Menschen, denen sie in der kurzen Zeit sowohl hier als auch dort begegnet. Durch den episodenhaften, fragmentarischen Charakter kommt man zwar mit einer Vielzahl von Phänomenen der 1980er Jahre in Verbindung, doch das lässt eher eigene Erinnerungen aufploppen, sofern man in jener Zeit seine Teenagerjahre verbracht hat, als eine Nähe zu den Figuren aufzubauen. Die bleiben leider bis zur Karikatur nur skizzenhaft. Dafür überzeugt Halpern mit einem flüssigen Schreibstil, der sowohl humorvolle als auch ernste Töne miteinander zu verbinden vermag. 
Das Interessanteste an Tamar Halperns Romandebüt ist vielleicht nicht die Erzählung selbst, sondern die immerhin fünfzig Seiten umfassenden Fußnoten, die „wegen ihrer Bedeutsamkeit in der gleichen Größe wie der Text gesetzt“ sind. Hier gibt die Autorin versierte Exkurse zur Valley-Architektur, Fotografie, Teenager-Telefonanrufe, Föhnwellen und Kartonwein zum Besten, was den zeitgeschichtlichen Rahmen, in dem „California Girl“ angesiedelt ist, noch mehr Profil gewinnen lässt.  

Lina Nordquist – „Mein Herz ist eine Krähe“

Samstag, 28. Oktober 2023

(Diogenes, 454 S., HC) 
Als hätte die 1977 im schwedischen Norrala geborene Lina Nordquist als außerordentliche Professorin für Physiologie, Diabetesforscherin und Politikerin nicht schon genug zu tun, legte sie im Jahr 2021 mit dem nun auch in deutscher Übersetzung erhältlichen Buch „Mein Herz ist eine Krähe“ ihr Romandebüt vor, das in ihrer Heimat gleich als Buch des Jahres ausgezeichnet worden ist. Erzählt wird die Geschichte zweier durch eine im Wald gelegene Kate und Familie verbundene Frauen, die schwer mit ihrem Los zu kämpfen haben. 
Im Jahr 1897 sieht sich Unni gezwungen, mit ihrem Sohn Roar ihre norwegische Heimatstadt Trondheim zu verlassen, nachdem der Pfarrer, der sie zuvor missbraucht hat, sie als Kindsmörderin anklagt und in die Irrenanstalt abtransportieren lassen will. Mit den zwei gestohlenen Goldringen der Prälatur Trondheim und ihrem Geliebten Armod gelingt ihr die Flucht über die Grenze. Nach der entbehrungsreichen Reise über die Grenze gelangen sie in das schwedische Hälsingland, wo sie von Bauer Nilsson eine Waldhütte pachten können. „Frieden“ nennen sie ihr neues Zuhause, doch die ersten Jahre sind von einem mehr als harten Überlebenskampf geprägt. 
Die Nahrung, die sie im Wald finden und selbst anbauen, reicht ebenso wenig, den ewigen Hunger zu stillen wie die Früchte, die Armods Arbeit einbringt. Schließlich muss er erst die Pachtraten bei Bauer Nilsson abarbeiten, ehe er für seine Familie sorgen kann. Der allgegenwärtige Hunger belastet auch die Beziehung zwischen Unni und Armod, doch am Ende hält ihre Liebe sie zusammen – bis Armod bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückt und Unni sich und die mittlerweile zwei Kinder allein durchbringen muss. Das nutzt Bauer Nilsson gnadenlos aus, sucht Unni zu jedem beliebigen Zeitpunkt heim, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, nie verliert sie ihren Mut. 
„Der Schmerz sprach in unzähligen Zungen. Und dennoch gingen mir die alltäglichsten Dinge durch den Kopf, dass meine Blase drückte oder dass etwas an meiner Schulter scheuerte. Vielleicht konzentriert sich der Körper auf Belanglosigkeiten, wenn seine Bewohnerin nur noch daliegen und aufgeben will. Aber dann versetzte es mir einen Stich, als ich dich neben mir atmen hörte, du warst wach, obwohl wir hätten schlafen sollen, und da wusste ich, ich war noch am Leben. Die Glut in mir erlosch nicht.“ (S. 335) 
1973 sitzen sich die dreiundfünfzigjährige Kåra und ihre Schwiegermutter Bricken gegenüber, um die Beerdigung von Brickens Mann Roar zu planen. Auch Kåra hat eine Geschichte von Entbehrungen zu erzählen, war ihre Ehe mit Brickens und Roars Sohn Dag kaum von Erfüllung geprägt. 
Der Tod dient als Aufhänger von Lina Nordquists in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Romandebüt. Er zieht sich ebenso wie der Hunger, der Schmerz und die Gewalt wie ein roter Faden durch „Mein Herz ist eine Krähe“, verbindet die Ich-Erzählungen zweier Frauen, die nur mit Mühe zu einem in Ansätzen selbstbestimmten Leben gelangen. 
Vor allem Unni wächst dem Leser schnell ans Herz. Ihr Leben wirkt wie eine Tour de Force, die die Autorin mit ungebändigter Sprachgewalt ihrer Leserschaft bildreich vor Augen führt. Wie Unni, die über fundierte Heilkräuter-Kenntnisse (samt ihrer giftigen Verwandten) verfügt, erst der Tortur durch den heimischen Pfarrer, dann der Wanderung durch die Wälder bis nach Hälsingland und schließlich durch die von Hunger und Not geprägten Winter in der gepachteten Waldkate zu entkommen versucht, ist erschütternd eindringlich beschrieben und nichts für schwache Nerven. 
Kåras Nöte sind von anderer Qualität, muss sie sich doch in einem Konstrukt von Lügen bewegen, um das fragile Zusammenleben mit Bricken und Roar auf der einen Seite und mit ihrem Mann Dag auf der anderen Seite nicht zu gefährden. 
Mit ihrer poetischen Sprache fesselt Nordquist ihr Publikum allerdings von Beginn an, wobei die beiden Frauencharaktere so eindringlich charakterisiert werden, dass man ihren bewegenden Schicksalen bis zum nicht ganz hoffnungslosen Ende unbedingt folgen möchte. Dieses sprachlich außergewöhnliche Debüt sollte mühelos auch das deutsche Publikum begeistern!  

Vendela Vida – „Die Gezeiten gehören uns“

Mittwoch, 25. Oktober 2023

(Diogenes, 288 S., Tb.) 
Die US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Vendela Vida, die mit dem bekannten Schriftsteller Dave Eggers verheiratet ist und mit ihrer Familie in der San Francisco Bay Area lebt, beschäftigt sich seit ihrem im Jahr 2000 erschienenen Debüt „Girls on the Verge: Debutante Dips, Drive-Bys, and Other Initiations“ vor allem um die emotionalen Achterbahnfahrten, die Frauen auf dem Weg zu ihrer Selbstverwirklichung erleben, so auch in ihrem vielleicht bekanntesten Roman „Liebende“
Nachdem die gebundene Ausgabe von Vidas aktuellen Roman „Die Gezeiten gehören uns“ im vergangenen Jahr im Hanser Verlag erschienen war, ist die Taschenbuchausgabe nun bei Diogenes erhältlich. 
Die vierzehnjährige Eulabee lebt Mitte der 1980er Jahre mit ihren Freundinnen Julia, Faith und Maria Fabiola in Sea Cliff, einer wohlhabenden Gegend im kalifornischen San Francisco, wo der Blick auf das Meer und die Golden Gate Bridge nicht verstellt ist und besucht mit ihnen die Spragg School for Girls. Eulabees Vater Joseph unterhält eine Kunst- und Antiquitätengalerie in der Gegend, ihre aus Schweden stammende Mutter Svea arbeitet als Krankenschwester. 
Die unbeschwerte Mädchen-Freundschaft erfährt allerdings eine harte Zäsur, als die Mädchen eines Morgens von einem Mann in einem weißen Auto angehalten und nach der Uhrzeit gefragt werden. Während Maria Fabiola anschließend gegenüber der Polizei behauptet, der Mann habe sich dabei angefasst, will Eulabee nichts davon bemerkt haben und wird daraufhin zur Aussätzigen. Schließlich wird Maria Fabiola vermisst und zu einem echten Medienereignis. Während das verschwundene Mädchen täglich in den Nachrichten erwähnt wird, verliebt sich Eulabee in den coolen Keith…
 „Ich spiele mit dem Gedanken, ihm von meiner Theorie zu erzählen, dass sie gar nicht entführt wurde, sondern ihr Verschwinden selbst inszeniert hat, beschließe aber, dass es gerade nicht der richtige Zeitpunkt ist. Ich habe nicht genug Beweise; streng genommen gar keine. Außerdem habe ich es satt, dass Maria Fabiola das einzige Gesprächsthema ist. Und das schon seit Monaten. Selbst wenn Leute über andere Themen reden, reden sie eigentlich über sie.“ (S. 131)
In ihrem ebenso kurzen wie eindringlich geschriebenen Roman gelingt es Vendela Vida über ihre Ich-Erzählerin Eulabee, die komplexe Gefühlswelt von Teenager-Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden zu beschreiben. Darin werden vor allem die Mechanismen aufgezeigt, mit denen die Mädchen um die Aufmerksamkeit und Anerkennung nicht nur ihrer Geschlechtsgenossinnen ringen, sondern auch mit ihren aufkeimenden weiblichen Reizen die jungen Männer zu fesseln vermögen und dabei natürlich auch wieder Eifersüchteleien und Missgunst hervorrufen. 
So kommt es, dass sich die Mädchen einiges einfallen lassen, um ihre Stellung unter ihresgleichen zu erhöhen, wobei die Wahrheit mehr als nur etwas gedehnt wird. 
„Die Gezeiten gehören uns“ ist ein wunderbar einfühlsamer, ebenso humorvoller wie erschütternder und vor allem authentisch wirkender Roman über die Herausforderungen pubertierender Mädchen, ihren Platz in einer Welt zu finden, in der der schöne Schein mehr bedeutet als ein moralisch integres Wesen. Dabei entwickelt die Geschichte einen magischen Sog, dem man sich bis zum Sprung in die Gegenwart nicht entziehen kann.