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Robert R. McCammon – „Die schwarze Pyramide“

Samstag, 27. Januar 2024

(Knaur, 508 S., Tb.) 
Nachdem Robert R. McCammon mit „Baal“, „Höllenritt“, „Tauchstation“, „Blutdurstig“, „Wandernde Seelen“, „Das Haus Usher“ und „Nach dem Ende der Welt“ etliche Topoi des Horror-Genres verarbeitet hatte, legte er 1988 mit „Stinger“ einen Roman vor, der sich als interessante Variante des Besuchs von Außerirdischen auf der Erde entpuppte. 1989 erschien die deutsche Übersetzung als „Die schwarze Pyramide“ wie alle McCammon-Romane im Knaur-Verlag. 
Das irgendwo in der texanischen Wüste liegende Kaff Inferno wird von zwei rivalisierenden Gangs dominiert. Auf der einen Seite treiben die Renegades ihr Unwesen. Zu ihnen zählt auch der achtzehnjährige Cody Lockett, dessen nichtsnutziger Vater Curt sich ganz dem Alkohol verschrieben hat. In Bordertown, dem südlich der Snake-River-Brücke gelegenen mexikanischen Viertel der dahinsiechenden Stadt, regieren die Culebra de Cascabel, die Rattlers. 
Cody wird ebenso Zeuge der seltsamen Ereignisse am Morgen wie die Tierärztin Jessie Hammond, ihr siebenunddreißigjähriger Mann Tom, der als Sozialkundelehrer an der Preston High School arbeitet, und ihre gemeinsame Tochter Stevie. Als Jessie mit Stevie zu einer Hacienda fährt, beobachtet sie Hintergrund einer Kupfermine, wie ein zylinderförmiges, rotglühendes, von Flammen umgebendes Objekt auf sie zugeflogen kommt. Nachdem das hintere Teil des Objekts explodiert ist, wird auch Jessies Wagen von den in alle Richtungen fliegenden Trümmern getroffen. 
Danach ist nicht nur Inferno nicht mehr wiederzuerkennen. Stevie, die eine merkwürdig aussehende, in der Konsistenz undefinierbare Kugel an sich nimmt, wird von einem außerirdischen Wesen in Besitz genommen, das sich Daufin nennt und in kürzester Zeit durch Lexika die amerikanische Sprache aneignet und Infernos Bewohner darauf aufmerksam macht, dass ein mächtiger Feind aus dem All, der sogenannte „Stinger“, auf der Suche nach ihr sei. 
Die Kreatur ist mit einem Raumschiff in der Form einer schwarzen Pyramide in Inferno gelandet und hat ein Energienetz um die Stadt gelegt, das niemanden aus der Stadt heraus- und in sie hineinlässt. Mit der Hilfe des bereits vor Ort befindlichen Militärs und einiger tapferer Einwohner versucht Daufin, Stinger das Handwerk zu legen. Dabei ziehen erstmals die verfeindeten Gangs an einem Strang, und Rick von den Rattlers versucht, seine Schwester Miranda, in die sich Cody verguckt hat, aus den Fängen des Ungeheuers zu retten. 
„Er sah zwar Feuer auf der Brücke, hatte aber keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen; stattdessen kletterte er über den Zaun, rutschte eine rote Böschung hinunter und blieb in dem schlammigen Wasserrinnsal liegen. Hinter sich konnte er die Häuser splitternd und krachend auseinanderfliegen hören. Noch ein, zwei Minuten, dann hatte das Wesen es geschafft; es würde durchbrechen und über den Fluss kommen.“ (S. 424) 
Zwei außerirdische Wesen, die in einem dem Untergang geweihten Kaff mit dem treffenden Namen Inferno einen ungleichen Kampf um Leben und Tod abfackeln, dient McCammon in seinem Horror-Roman als Ausgangspunkt für einen actionreichen Plot, der seinen Fokus vor allem auf die Beschreibung detaillierter Brutalität bei Stingers Suche nach dem außerirdischen Ausreißer legt. Zwar stellt der Autor zu Beginn eine Menge interessanter Charaktere vor, doch mehr als eine kurze Vita der Hammonds, der Witwe der Preston-Kupfermine, des in kriminelle Machenschaften verwickelten Unternehmers Mack Cade, der auch Sheriff Vance auf seiner Gehaltsliste stehen hat, und der Vater-Sohn-Beziehung von Curt und Cody, bietet er nicht an. Selbst die Rivalität zwischen Rick und Cody sowie ihre gemeinsame Sorge um Ricks Schwester Miranda wird nur oberflächlich abgehandelt. Dieses Vorgehen verhindert, dass McCammons Publikum wirklich tief in die Geschichte eintauchen kann und nur wenig Empathie für das Schicksal der Stadt und ihrer Einwohner aufbringt. 
„Die schwarze Pyramide“ verschenkt so leider einen Großteil seines Potenzials und gefällt vor allem durch McCammons sprachliche Gewandtheit. 

 

Robert R. McCammon – „Wandernde Seelen“

Samstag, 20. Januar 2024

(Knaur, 446 S., Tb.) 
Mit seinen ersten Romanen „Baal“, „Höllenritt“, „Tauchstation“ und „Blutdurstig“ avancierte der US-Amerikaner Robert R. McCammon vor allem Anfang der 1980er Jahre zu einem der interessantesten Horror-Autoren der Neuzeit. Auch wenn er stets in zweiter Reihe hinter Autoren wie Stephen King, Peter Straub, Dan Simmons, Clive Barker und Dean Koontz stand, präsentierte McCammon bis in die 1990er Jahre hinein atmosphärisch dichte Gruselgeschichten, die vor allem sprachlich weit über dem Durchschnitt des Genres lagen. Mit „Wandernde Seelen“, 1983 unter dem Originaltitel „Mystery Walk“ veröffentlicht, eroberte McCammon 1988 auch das deutsche Horror-Publikum. 
Billy Creekmore lebt in den 1960er Jahren in der kleinen Ortschaft Hawthorne, Alabama, und verfügt wie seine Mutter Ramona, die zu einem Viertel eine Choctaw-Indianerin ist, über die außergewöhnliche Gabe, mit den Toten zu reden und ihnen gerade nach einem gewaltsamen Tod Frieden zu verleihen. Davon will sein Vater, ein fundamentalistischer Baptist, nichts wissen. 
Als Dave Booker seine Frau Julie Ann und seinen Sohn Will tötet und das Haus abbrennt, wird Billy wie magisch von den Ruinen des Hauses angezogen und findet die Leiche seines Schulfreundes unter dem Kohlehaufen im Keller. Zu dieser Zeit macht sich der prominente Zelt-Prediger Jimmy Jed „J.J.“ Falconer mit seinem Sohn Wayne auf den Weg nach Hawthorne, um auch dort – wie zuvor in anderen Teilen des Südens – allerlei Menschen von ihren Schmerzen, Missbildungen und Krankheiten zu heilen und so Teilnehmer des Falconer-Kreuzzugs zu gewinnen. Die Familie Creekmore nimmt an dem Erweckungsgottesdienst teil und wird Zeuge, wie Wayne einige Kranke heilt, doch sowohl Billy als auch seine Mutter nehmen die schwarzen Wolken in der Aura der Todgeweihten wahr. Als Ramona sich erhebt und gegen die ihrer Meinung nach verwerflichen Praktiken protestiert, werden die Creekmores aus dem Zelt verwiesen. Romana sucht mit Billy ihre Mutter Rebekah auf, die Billy in das Geheimnis seines spirituellen Erbes eingeweiht wird. 
Sieben Jahre später besucht Billy die Oberschule in Fayette County, der Heimat der Falconers. Billy wird vom Besitzer des örtlichen Sägewerks gebeten, den Geist eines Mannes zu vertreiben, der bei einem Unfall mit einer Säge auf schreckliche Weise ums Leben gekommen ist, worauf die Arbeiter von den unheimlichen Geräuschen im Werk so abgeschreckt worden sind, dass sie nicht mehr zur Arbeit kommen. Zwar hat Billy mit seiner Methode Erfolg, doch von den örtlichen Christen erntet Billy nur Hohn und Spott. In einer Zeit, in der vor allem im Süden die Rassentrennung noch gelebte Realität ist, werden Ramona und Billy schließlich aus dem Dorf gejagt, während John als strenggläubiger und rechtschaffender Christ bleiben darf. Billy heuert bei der Gespenstershow von Dr. Mirakel an und verliebt sich in die Tänzerin Santha. 
Von dort aus zieht es ihn nach Chicago, wo Dr. Hillburn in ihrem Institut feststellen will, wie es wirklich um Billys paranormale Fähigkeiten bestellt ist. Während die Falconers einen Plan schmieden, Billy und Ramona aus dem Verkehr zu ziehen, wird Billy in den Ruinen eines niedergebrannten Wohnhauses mit mehreren unruhigen Geistern konfrontiert… 
„Überall um sich herum konnte er sie ahnen. Sie waren im Rauch, in der Asche, in den verbrannten Gebeinen und entstellten Gestalten. Sie waren in der Luft und in den Wänden. Es gab an diesem Ort zu viel Seelenqual; tonnenschwer lag sie in der dichten Luft, und das Entsetzen darin knisterte wie Strom. Doch Billy wusste, dass es zum Fliehen nun zu spät war. Er würde tun müssen, was er konnte.“ (S. 375f.)
Robert R. McCammon hat mit „Wandernde Seelen“ vor allem einen einfühlsamen Coming-of-Age-Roman über zwei Brüder geschrieben, die nach ihrer Trennung in spirituell unterschiedlich geprägten Familien aufgewachsen sind und sich im frühen Erwachsenenalter mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten und den Erwartungen auseinandersetzen müssen, die von den Bedürftigen im südlichen Teil der Staaten an sie gestellt werden.  
McCammon gelingt es dabei sehr überzeugend, die unterschiedlichen Geisteshaltungen zu beschreiben, die den Lebenswelten der Creekmores auf der einen und der Falconers auf der anderen Seite zugrunde liegen. Der Kampf zwischen Adler und Schlange treibt schließlich die Handlung voran und macht vor allem deutlich, dass die wahren oder eingebildeten Fähigkeiten der beiden Brüder nur zwei Seiten derselben Medaille sind. Dabei berücksichtigt der Autor sowohl die giftige Atmosphäre der Rassendiskriminierung als auch die spirituelle Tradition der amerikanischen Ureinwohner, das Streben nach Macht ebenso wie den Wunsch, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. 
Zwar beugt sich McCammon im Finale etwas zu sehr den Konventionen des Genres, doch zählt „Wandernde Seelen“ definitiv zu den besseren Frühwerken des Autors. 

 

Robert R. McCammon – „Tauchstation“

Montag, 4. Dezember 2023

(Knaur, 400 S., Tb.) 
Als Robert R. McCammon Ende der 1970er Jahre seine Schriftsteller-Karriere begann, arbeitete er sich zunächst an den Archetypen des Horror-Sujets ab. Nach seinem Debüt mit „Baal“, der auf der Welle von Blockbustern wie „Der Exorzist“ und „Das Omen“ schwamm, beschwor „Höllenritt“ alte Dämonen herauf, und so durfte man gespannt sein, was dem amerikanischen Genre-Schreiber für sein nächstes Werk einfallen würde. „Tauchstation“, 1980 unter dem passenderen Titel „The Night Boat“ im Original veröffentlicht, vermischt das von den Nazis erzeugte Grauen mit Voodoo-Flüchen, kommt aber über das Mittelmaß nie hinaus. 
Nachdem er vor ein paar Jahren seine Frau und seine Tochter bei einem tragischen Unglück verlor, zog sich der ehemalige Finanzier David Moore auf die kleine Karibik-Insel Coquino zurück, wo er nicht nur das Hotel „Indigo Inn“ führt – in das sich selten genug Touristen verirren -, sondern auch ausführliche Tauchfahrten unternimmt, um versunkene Schiffswracks aufzuspüren. Bei einem dieser Tauchgänge stößt Moore unter einem Berg von Sand auf ein sehr gut erhaltenes U-Boot, das sich nach der Detonation einer ebenfalls freigelegten Wasserbombe an die Oberfläche bewegt und als das nazideutsche U-Boot 198 entpuppt. 
Durch die Strömung bewegt sich das Boot zielstrebig auf den Hafen der Insel zu und sorgt dort für extreme Unruhe. Constable Steve Kip lässt das Boot erst einmal in einem Schuppen von Langstrees Bootswerft einschließen, bis geklärt worden ist, was mit dem Wrack geschehen soll, denn darüber herrscht auf der Insel Uneinigkeit. Während die einen es gar nicht erwarten können, den vermeintlichen „Schatz“ zu erforschen, sind es vor allem die Ureinwohner, die das unheilvolle Wrack schnellstmöglich wieder in den Meerestiefen versinken lassen wollen. 
Doch ein übereifriger Inselbewohner kommt diesen Überlegungen zuvor und verschafft sich Zugang zu dem U-Boot, doch statt des erhofften Goldes findet der Mann den Tod und befreit die mumifizierten Leichen der Besatzung aus ihrem Grab. Nachdem sie vor gut vierzig Jahren auf dem Meeresgrund ihre Lebenssäfte eingebüßt haben, dürsten sie nun nach Rache und versetzen die Bewohner auf Coquino in Angst und Schrecken. Dass mit Schiller der letzte Überlebende der U-198 und mit Dr. Jana Thornton eine für das Britische Museum arbeitende Meeresarchäologin die Insel besuchen, trägt nicht gerade zur Beschwichtigung der um sich greifenden Hysterie bei, während sich die verfluchten U-Boot-Soldaten in einem unerbittlichen Blutrausch an den noch wirklich Lebenden zu laben beginnen … 
„Als er in diese Augenhöhlen starrte, begriff Moore, worin das Erbe des U-Boots bestand. Seine Insassen waren zu einem Leben im Tode verdammt, einem Schwebezustand von seelischer Qual und fleischlicher Verwesung. Irgendeine gottlose Macht hatte sie am Leben erhalten, als lebende Leichname in einem eisernen Sarg … und er selbst hatte sie aus dieser Gruft befreien helfen.“ (S. 277f.) 
Mit „Tauchstation“ verbindet Robert McCammon gleich mehrere Topoi des Horror-Genres, vermischt Nazi-Greuel mit monsterähnlichen Schrecken aus der Tiefe und Voodoo-Flüchen. Da ist erst einmal die paradiesische Idylle einer nicht allzu bekannten Insel in der Karibik, doch der Schein trügt, denn die Karaiben und die meist weißen Fischer trauen sich kaum über den Weg. McCammon gelingt es zwar, die Atmosphäre des Insellebens einzufangen, doch gewinnen seine Figuren dabei kaum Kontur. Es wird zwar kurz erwähnt, welche Traumata sowohl David Moore als auch Steve Kip in ihrer Vergangenheit erlebt haben, doch in die Tiefe geht der Autor bei der Charakterisierung seiner Protagonisten leider nicht, weshalb der Leser kaum Nähe zu den Figuren und ihren Schicksalen aufbaut. Ohnehin scheint das geheimnisvolle Auftauchen des über viele Jahre verschütteten U-Boots nur ein Prolog zu dem blutigen Massaker zu sein, das die zombifizierte, mit einem Voodoo-Fluch belegte U-Boot-Besatzung nach ihrer Befreiung auf der Insel anrichtet. 
Hier läuft McCammon schließlich zur Hochform auf, wenn er das Gemetzel in farbenfroher Detailverliebtheit schildert. Dank der sprachlichen Gewandtheit des Autors lässt sich der vorhersehbare Plot auch schnell konsumieren, aber besonders subtil und tiefgründig ist das nicht. 
„Tauchstation“ ist unterhaltsamer Horror-Trash, eine wenig originelle Fingerübung eines damals noch jungen Autors.


Robert R. McCammon – „Höllenritt“

Montag, 18. September 2023

(Knaur, 398 S., Tb.) 
Obwohl der US-amerikanische Schriftsteller Robert R. McCammon bereits 1978 seinen Debütroman „Baal“ veröffentlicht hat und in der Folge neben Stephen King, Dean Koontz, James Herbert und Peter Straub zu einem der bedeutendsten Autoren des Horror-Genres avancierte, brauchte es zehn Jahre, bis auch das deutsche Publikum in den Genuss seiner Werke kam, als Knaur 1988 begann, seine Romane hierzulande zu veröffentlichen. „Höllenritt“ erschien 1980 in McCammons Heimat unter dem Titel „Bethany’s Sin“ und bedient sich wie McCammons erfolgreiches Romandebüt vor allem mythologischer Elemente, diesmal rund um die griechische Göttin Artemis. 
Nachdem der Vietnam-Veteran Evan Reid seinen Redakteurs-Job in LaGrange verloren hat, zieht er mit seiner Frau Kay und ihrer gemeinsamen Tochter Laurie im Juni 1980 in das beschauliche 800-Seelen Dorf Bethany’s Sin, wo ihm die Immobilienmaklerin Marcia Giles ein traumhaft schönes Haus in der McClain Terrace zu einem mehr als annehmbaren vermittelte. 
Während Kay nach den Sommerferien eine Stelle als Mathematiklehrerin am nahegelegenen George Ross Junior College antritt, will sich Evan auf seine Schriftstellerkarriere konzentrieren. Doch wie in der Vergangenheit wird Evan auch hier von prophetischen Alpträumen heimgesucht, die ihn ebenso beunruhigen wie seine Frau, die am liebsten nichts mehr über sie hören möchte. Bethany’s Sin wirkt jedoch nur auf den ersten Blick so idyllisch. Tatsächlich bemerkt auch der Wanderarbeiter Neely Ames, der vom Bürgermeister für alle möglichen Arbeiten eingestellt wird, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Er mäht Rasen rund um ein verlassen wirkendes Haus und findet auf dem nahegelegenen Schuttplatz die Reste von menschlichen Zähnen. 
Als er nachts von dämonisch wirkenden Frauen auf Pferden angegriffen wird, erzählt er nach ein paar Bieren auch dem Schriftsteller davon, der sich gerade bemüht, etwas von der Geschichte des Dorfes zu erfahren. Als er die ebenso schöne wie geheimnisvolle und aristokratische wirkende Dr. Drago und ihre Historische Gesellschaft kennenlernt, kommt er dem Geheimnis von Bethany’s Sin gefährlich nahe… 
„Diese Augen brannten in seinem Gehirn; auch wenn er seine schloss, sah er sie noch deutlich; feurige Halbkugeln irgendwo hinter seiner Stirn. Jetzt, nach diesem zweiten Traum, wusste er es. Und fürchtete das grässliche Wissen. Etwas in diesem friedlichen Ort Bethany’s Sin jagte ihn. Es kam immer näher.“ (S. 141) 
Nachdem Robert R. McCammon mit „Baal“ einen alten kanaanitischen Gott der Sexualität und des Opfers in den Mittelpunkt seines apokalyptischen Debütromans gestellt hatte, ist es in „Höllenritt“ Artemis, die griechische Göttin der Jagd, der Jungfräulichkeit, des Waldes, der Geburt und des Mondes sowie die Hüterin der Frauen und Kinder, die den Rahmen für eine abenteuerliche Geschichte in einem nur auf den ersten Blick ruhigen und hübschen Dorf bildet und durch die Archäologin Dr. Kathryn Drago nach einer Ausgrabung in der Türkei wiederbelebt worden ist. 
McCammon bleibt in seiner Geschichte vor allem nah an der Reid-Familie, wobei die Ehe durch Evans unheimliche Träume bereits in der Vergangenheit arg gelitten hat. Die Traumata, die Evan durch seine Teilnahme am Vietnam-Krieg erlitten hat, werfen auch einen Schatten über den Neuanfang seiner Familie in Bethany’s Sin, und McCammon nimmt sich viel Zeit, die Auswirkungen von Evans besonderen Träumen auf den Neuanfang zu schildern. Auch die Beschreibung der feinsinnigen Empfindungen in dem neuen Umfeld gelingt dem Autor sehr gut. 
Nachdem er seine Leserschaft aber so geschickt in den Lauf der Geschichte eingebettet hat, braucht es allerdings schon ein enormes Maß an Gutgläubigkeit, um die Ereignisse bei den Ausgrabungen, die Dr. Drago in der Türkei durchgeführt hat, auf die unheimlichen Vorkommnisse in Bethany’s Sin übertragen zu können. 
Anfang der 1980er Jahre, als Stephen King schon so wegweisende Romane wie „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und „The Stand – Das letzte Gefecht“ veröffentlicht hatte, traf „Höllenritt“ sicher noch den Nerv der Zeit. Heute gefällt vor allem nach wie vor McCammons sprachliche Finesse, während die Originalität der Geschichte bereist Staub angesetzt hat und noch wie eine Fingerübung für spätere Arbeiten wirkt. 

 

Robert R. McCammon – „Baal“

Samstag, 9. September 2023

(Knaur, 346 S., Tb.) 
Der 1952 in Birmingham, Alabama, geborene Robert R. McCammon gesellte sich in den ausgehenden 1970er Jahren zu der Elite bereits etablierter Horrorautoren wie Stephen King und Dean Koontz hinzu, als er im Alter von 25 Jahren seinen Debütroman „Baal“ veröffentlichte, mit dem der Autor seine Variante des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse thematisierte. 
Als sich die zwanzigjährige Kellnerin Mary Kate Raines nach dem Ende ihrer Schicht auf den Weg zur Bushaltestelle macht, wird sie in einer dunklen Gasse von einem Mann angegriffen und brutal vergewaltigt. Als sie im Krankenhaus untersucht wird, stellt der behandelnde Arzt merkwürdige Verbrennungsmale an ihrem Körper fest, die die Form von Handabdrücken aufweisen, und zwar nicht nur im Unterleib und auf Armen und Schenkeln, sondern auch auf jedem Lid ist ein Fingerabdruck hinterlassen worden. Mary Kate bringt das Kind gegen den Willen ihres Mannes Joe zur Welt, doch stellt sie bald fest, dass ihr Sohn Jeffrey etwas aus der Art geschlagen ist. 
Nachdem Joe unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist, wächst Jeffrey in einem Knabeninternat auf, wo er sich allerdings weigert, auf seinen Namen zu hören, und stattdessen mit Baal angesprochen zu werden fordert. Bald schon versammelt der Junge seine Altersgenossen um sich und beunruhigt mit seinem Verhalten sowohl die Schwestern als auch Pater Dunn. Schließlich brennt das Waisenhaus nieder… 
Jahre später reist Dr. Donald Naughton, Professor der Theologie an der Universität von Boston City, im Rahmen seiner Recherchen über Messiaskulte nach Kuwait, wo ein Mann namens Baal ganze Menschenmassen aus aller Welt mobilisiert hat, ihm zu folgen und sich in wilder Raserei während der Versammlung zu paaren. Als Dr. James Virga, Naughton Vorgesetzter an der Universität, nichts mehr von Naughton hört und schließlich von dessen Frau Judith einen verstörenden Brief ihres Mannes vorgelegt bekommt, reist er selbst nach Kuwait, um seinen Freund ausfindig zu machen, doch was er dort entdeckt, übersteigt jede Vorstellungskraft. 
Virga lernt einen geheimnisvollen Mann namens Michael kennen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Baal bis ans Ende der Welt zu jagen und unschädlich zu machen. Dr. Virga schließt sich dem Mann an und folgt ihm bis nach Grönland, wo Baal nach einem Zwischenfall im Nahen Osten mit einigen seiner Anhänger geflüchtet sein soll… 
„Wo ist Gott? fragte er sich. Ist die Menschheit so hoffnungslos verloren, dass Gott diesen Augenblick ohne einen einzigen barmherzigen Atemzug geschehen lässt? Ist Baal so mächtig geworden, dass selbst Er mit Entsetzen geschlagen ist? Der Gedanke machte ihn frösteln. Ihm schien, als wäre der gewaltige Mechanismus, der die letzten Augenblicke der Menschheit einläutete, in Bewegung gesetzt worden; er tickte die Sekunden fort wie eine gigantische Pendeluhr.“ (S. 238) 
McCammon bezeichnet seinen 1978 veröffentlichten Debütroman in dem 1988 geschriebenen Nachwort als „Zorniger junger Mann“-Roman, als ersten Versuch, aus der Tretmühle eines öden Jobs herauszukommen und seine Brötchen als Schriftsteller zu verdienen. Besonders originell wirkt der Plot dabei nicht. Die kurz abgehandelten Stationen von Baals Lebenslauf von seiner Zeugung über das Aufwachsen bei der überforderten Mutter und in katholischen Internaten bis zu seinen erfolgreichen Methoden, massenhaft Jünger zu rekrutieren, bewegen sich in vertrauten Regionen, die William Peter Blattys „Der Exorzist“ (1971) und dessen erfolgreiche Verfilmung durch William Friedkin sowie Filme wie „Das Omen“ (1976) und „Rosemaries Baby“ (1968) vorgezeichnet haben, um damit eine neue Welle des Horrorkinos loszutreten. 
Das Finale im eisigen Grönland erinnert zudem an Mary Shelleys „Frankenstein“. McCammons „Baal“ zeichnet sich eher durch die exotischen Schauplätze in Kuwait und Grönland aus, die der Autor eindrücklich vor den Augen des Lesers mit Leben erfüllt, und die gut gezeichneten Charaktere, während der Plot doch recht skizzenhaft ausgefallen ist und mehr Tiefe hätte vertragen können. Für einen Debütroman besticht „Baal“ zudem durch eine bildreiche Sprache, die in späteren Werken des Autors noch geschliffener zum Ausdruck kommt. 

 

David Morrell – (Thomas De Quincey: 2) „Die Mörder der Queen“

Montag, 21. Oktober 2019

(Knaur, 448 S., Tb.)
London, 1855. Beim sonntäglichen Elf-Uhr-Gottesdienst in der St. James Church sorgt bei den Mächtigen und Reichen des Viertels Mayfair, die die Kirche besuchen, die Ankunft einer nicht standesgemäß aussehenden Gruppe von vier Personen für Aufmerksamkeit, vor allem als die Fremden die oberste Bankschließerin bitten, sie zu der für Lord Palmerston reservierten Bank zu führen. Es spricht sich schnell herum, dass sich unter dieser Gruppe sowohl der berüchtigte Opiumesser Thomas De Quincey und seine Tochter Emily zählen, die gerade in Lord Palmerston Haus untergebracht sind, als auch Detective Inspector Ryan von Scotland Yard. Kaum hat Reverend Samuel Hardesty den Gottesdienst begonnen, bei dem der tapfer im Krimkrieg kämpfende Colonel Anthony Trask als Ehrengast begrüßt wird, bemerkt er, wie sich ein scharlachroter Fleck unter der Loge von Lady Cosgrove ausbreitet. Als die Dame mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden wird, übernehmen Ryan, sein Assistent Becker und De Quincey umgehend die Ermittlungen, denn der Täter könnte noch immer in der Kirche sein.
Aus der Hand der Toten sichern die Polizisten einen mit Trauerflor umrandeten Brief, der nur zwei Worte enthält, die Ryan an die schrecklichen Ereignisse vor fünfzehn Jahren erinnern. Damals haben verschiedene Männer versucht, ein Attentat auf Queen Victoria zu verüben. Zwar wurde bei dem Versuch, die Königin zu töten, niemand verletzt, aber der Attentäter Edward Oxford wurde verhaftet und verurteilt, aber wegen seiner offensichtlichen Hirngespinste um eine Gruppe von Verschwörern, die sich „Young England“ nennt, wegen Geisteskrankheit ins Bethlem Royal Hospital überführt. Offensichtlich versucht nun jemand, das damals praktizierte Unrecht wieder gutzumachen, denn nach Lady Cosgrove und ihrem Mann folgen noch weitere Opfer, die mitverantwortlich für den Umgang mit dem Angeklagten waren.
Vor allem dem gebildeten Autor Thomas De Quincey, der sowohl mit seiner Autobiographie „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ als auch mit seinem True-Crime-Werk „Der Mord als schöne Künst betrachtet“ für Aufsehen gesorgt hat, fallen bei der Art der inszenierten Morde und den hinterlassenen Botschaften Verweise zu dem Schicksal eines Jungen auf, der damals bei verschiedenen Stellen vergeblich versucht hatte, Hilfe für seinen Vater, seine Mutter und seine beiden Schwestern zu bekommen. Während Scotland Yard mit De Quinceys Unterstützung fieberhaft nach der Identität des Jungen sucht, versucht der Attentäter weiterhin, Queen Victoria das Leben zu nehmen …
„Er wollte Angst sehen. Er wollte Schmerzen sehen. Eine schnelle Bestrafung konnte nicht sühnen, was seiner Mutter, seinem Vater und seinen Schwestern angetan worden war, seiner geliebten Emma mit den leuchtend blauen Augen und der kleinen Ruth mit dem sonnigen Gemüt und der bezaubernden Zahnlücke.
Jetzt neigte er im fallenden Schnee den Kopf.
Heute Nacht zumindest werdet ihr vier in Frieden ruhen, dachte er. Unvermittelt packte ihn die Trauer um zwei weitere Menschen, die er liebte.“ (S. 353) 
Der kanadisch-US-amerikanische Schriftsteller David Morrell hat bereits mit seinem 1972 veröffentlichten Debütroman „First Blood“ Weltruhm erlangt, denn die daraus resultierende Filmreihe um den von Sylvester Stallone verkörperten Vietnam-Veteranen John Rambo trug erheblich zum Starruhm des Hauptdarstellers bei und ging dieses Jahr bereits in die fünfte Runde. In der Folge schrieb Morrell aber nicht nur Spionage-Romane wie „Der Geheimbund der Rose“, „Verschwörung“ und „Verrat“, sondern auch die Thriller „Testament“, „Massaker“ und „Totem“ sowie die Horror-Thriller „Creepers“ und „Level 9“, bevor er 2013 mit „Murder as a Fine Art“ den Start seiner Reihe um die historisch bedeutsame Persönlichkeit von Thomas De Quincey vorlegte. Knaur hat den im viktorianischen London spielenden Roman unter dem Titel „Der Opiummörder“ veröffentlicht und legt nun den mit Spannung erwarteten Nachfolger „Die Mörder der Queen“ vor, wobei Morrell geschickt historische Tatsachen und Figuren zu einem äußerst stimmungsvollen Gesellschaftsportrait und Thriller verwebt und die besonderen Fähigkeiten von Thomas De Quincey in den Mittelpunkt seiner historischen Thriller stellt.
Sowohl in der Einleitung als auch im Nachwort beschreibt Morrell, wie er dazu inspiriert wurde, De Quincey als Protagonisten einer hoffentlich noch lange fortgesetzten Reihe zu etablieren, und was den Mann besonders auszeichnet, der mit seinem 1821 veröffentlichten Buch „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ als Erster seine Drogensucht öffentlich machte und vor Freuds Traumdeutung die Ansicht vertrat, dass wir von Gedanken und Empfindungen geleitet werden, „von denen wir gar nicht wissen, dass wir sie haben“.
Zusammen mit seinem kriminalistischen Spürsinn sind das die Elemente, die dem Plot seine Spannung verleihen. Vor allem gelingt es Morrell aber, tief in die Atmosphäre des viktorianischen Englands einzutauchen und die Unterschiede zwischen den in Prunk und Luxus lebenden Adligen und den im Schlamm wühlenden Armen aufzuzeigen. Dabei sind ihm aber auch die Charakterisierungen seiner Figuren hervorragend gelungen. Wie sich der Laudanum-abhängige Thomas De Quincey und seine fürsorgliche Tochter Emily auch in höheren Kreisen zu bewegen verstehen und die Ermittlungen von Scotland Yard vorantreiben, bietet das größte Lesevergnügen, und die Auflösung des Rätsels, wer sich hinter dem potentiellen Attentäter verbirgt, bleibt bis zum Schluss spannend.
Leseprobe David Morrell - "Die Mörder der Königin"

Linwood Barclay – (Promise Falls: 4) „Kenne deine Feinde“

Samstag, 22. Juni 2019

(Knaur, 464 S., Pb.)
Barry Duckworth, Detective bei der Polizei in Promise Falls, wird in seinem Büro von Brian Gaffney erwartet, den seine Kollegen ziellos durch die Straßen herumirrend aufgegriffen haben. Nach einem Filmriss hegt Gaffney die Vermutung, von Außerirdischen entführt worden zu sein, die ihn in den Rücken gestochen haben, doch bei näherer Betrachtung stößt Duckworth auf eine stümperhafte Tätowierung, nach der Gaffney für den Tod eines gewissen Sean verantwortlich gemacht wird.
Das Letzte, an das sich der völlig verstörte junge Mann erinnern kann, ist ein Aufenthalt in der Kneipe Knight’s. Bei der Sichtung der Überwachungskamera stößt Duckworth auch auf ein bekanntes Gesicht, das seines Sohnes Trevor, der mit seiner Freundin wenig später nach Gaffney das Lokal verlassen hat.
Während Duckworth nach einer Übereinstimmung mit einem älteren, ähnlich gelagerten Fall sucht, wird Privatermittler Cal Weaver mit einer außergewöhnlichen Mission betraut: Er soll Jeremy Plimpton beschützen, nachdem dieser in einem aufsehenerregenden Prozess in Albany beschuldigt worden ist, während einer Party im betrunkenen Zustand mit dem Porsche eines der Gäste, Galen Broadhurst, ein junges Mädchen überfahren zu haben. Der achtzehnjährige Großneffe der in Promise Falls lebenden Madeline Plimpton konnte von seinem Verteidiger Grant Finch allerdings vor einer Gefängnisstrafe bewahrt werden, indem dieser geltend machen konnte, dass der junge Mann so verwöhnt und verhätschelt worden ist, dass er die Folgen seines Handelns nicht absehen konnte. Seither wurde Jeremy nicht nur von der Presse als Riesenbaby tituliert, sondern auch das Opfer einer beispiellosen Hetzjagd im Netz – beispielsweise über die Webseite „Gerechte Strafe“ - und in den sozialen Medien.
Da Jeremy in Albany um sein Leben fürchten musste, ist er bei seiner Großtante nach Promise Falls untergetaucht, wo auch seine Mutter Gloria und ihr Freund Bob Butler den Privatermittler empfangen. Da es auch in Promise Falls nicht mehr sicher für Jeremy ist, unternimmt Weaver mit dem verängstigten Jungen einen Road Trip und stößt bei seinen Ermittlungen auf immer größere Ungereimtheiten. Derweil sehnt sich ein Mann nach zweifelhaftem Ruhm, der ihm im Schatten seiner wohlgeratenen Geschwister bislang versagt geblieben ist.
„Er würde den Sprung in die Abendnachrichten schaffen. Auf CNN.
Die Welt würde seinen Namen erfahren.
Kannte die Welt den Namen seiner Schwester? Kannte sie den seines Bruders? Einen Scheiß. Und dabei hatten sie ihr Leben doch solch hehren Aufgaben geweiht. Was hatten sie jetzt davon? Hatten sie irgendetwas vorzuzeigen? Blindgänger.“ (S. 360) 
Mit seiner „Promise Falls“-Trilogie hatte der kanadische Thriller-Bestseller-Autor Linwood Barclay („Ohne ein Wort“) eine Reihe ungewöhnlicher Vorfälle in der Kleinstadt Promise Falls thematisiert, das durch die Vergiftung der Wasserversorgung in die Schlagzeilen geraten war. Nun kehrt Barclay mit seinem neuen Roman nach Promise Falls zurück, und damit sowohl zu dem sympathischen Detective Barry Duckworth und dem ebenfalls einst in Promise Falls beheimateten Ex-Cop Cal Weaver, der nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes von Buffalo zurück nach Promise Falls zog, um weiter als Privatermittler zu arbeiten.
Für den vierten Roman der Reihe ist es nicht nötig, die Trilogie zu kennen. Mit den notwendigen Hintergrundinfos versorgt der Autor den Leser zwischendurch. Allerdings erreicht „Kenne deine Feinde“ nie die Qualität der Trilogie. Dabei bieten die zunächst unabhängig voneinander bearbeiteten Fälle, mit denen es Duckworth und Weaver zu tun haben, durchaus Material für eine spannende Lektüre. Doch gerade der Fall des sogenannten Riesenbabys wuchert nach interessantem Beginn zu einer immer komplexeren und leider absolut unglaubwürdigen Story heran, zu der allzu viele Personen ihren Beitrag leisten, ohne dafür schlüssige Motive zu haben.
Während die Beziehung zwischen Weaver und seinem Schützling Jeremy noch einfühlsam charakterisiert wird, ist der Rest des Plimpton-Clans so unsympathisch und bis zur Karikatur klischeehaft gezeichnet, dass die vielen „überraschenden Wendungen“ im Schlussviertel nur noch ärgerlich sind.
Leseprobe Linwood Barclay - "Kenne deine Feinde"

John Katzenbach – „Der Reporter“

Dienstag, 6. März 2018

(Knaur, 427 S., Tb.)
Ein Jahr nach Richard Nixons Abdankung erschüttert der brutale Mord an der allseits beliebten 16-jährigen Cheerleaderin Amy ausgerechnet am Unabhängigkeitstag Miami. Malcolm Anderson, der als Polizeireporter beim „Journal“ gute Beziehungen zum Morddezernat unterhält, ist mit dem Fotografen Andrew Porter als erster Pressevertreter am Tatort und sorgt mit seiner exklusiven Titelstory für Angst und Unbehagen in der Bevölkerung. Denn als sich der Killer telefonisch bei Anderson meldet, gibt er zu, ein völlig unschuldiges Opfer ausgewählt zu haben, dem weitere ebenso beliebige folgen werden. Wenig später wird ein altes Ehepaar ebenfalls tot in seiner Wohnung aufgefunden, wie das Mädchen an den Händen gefesselt und mit einer großkalibrigen Waffe erschossen.
Die Angst, die die Stadt großflächig erfasst, macht auch vor dem Reporter und seiner Freundin, der Krankenschwester Christine, nicht halt, schließlich ruft der offensichtlich psychotische Killer Anderson auch zuhause an und erzählt ihm ausführlich von seinen traumatischen Kriegserlebnissen in Vietnam und der Beziehung zu seiner verführerischen Mutter und dem strengen Vater. Auf einmal machte sich der erschütternde Gedanke breit, dass der Täter nicht nur seinen perversen Sexualtrieb befriedigen will, sondern es auf jeden beliebigen Menschen absehen könnte.
Trotz der vielen Hinweise, die der redegewandte Mörder Anderson auf seine Identität gibt, gelingt es der Polizei nicht, eine Spur zu finden. Das mörderische Treiben sichert dem „Journal“ prächtige Auflagen, während die Detectives Wilson und Martinez weiterhin im Dunkeln tappen.
„Je mehr ich mir die Stimme und den Tonfall des Killers vergegenwärtigte, seine Erinnerungen, seine Ichbezogenheit, seine Arroganz, desto mehr verlagerte sich meine Loyalität vom Mörder zur Polizei. Doch statt darüber erleichtert zu sein, hatte ich ein mulmiges Gefühl, ohne dass ich sagen konnte, warum.“ (S. 219) 
Bereits mit seinem Roman-Debüt „In the Heat of the Summer“ aus dem Jahre 1982 avancierte der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach zum Thriller-Star. Schließlich wurde sein Debüt 1985 mit Kurt Russell in der Hauptrolle als „Das mörderische Paradies“ erfolgreich verfilmt, drei Jahre später erschien bei Bastei Lübbe die gleichnamige deutsche Erstausgabe, die nun als „Der Reporter“ in völlig neu bearbeiteter Ausgabe bei Knaur wiederveröffentlicht worden ist.
Dabei beweist der Sohn einer Psychoanalytikerin und des früheren US-Justizministers Nicholas Katzenbach viel Gespür für die Materie. Sowohl die Abläufe der polizeilichen Ermittlungsarbeit als auch die psychologischen Profilanalysen des Killers wirken absolut plausibel, zumindest die Haupt-Charaktere sind dazu gut gezeichnet.  
Katzenbach beschreibt nicht nur, was die erschreckend beliebigen Tötungsdelikte im Mikrokosmos der Beziehung von Ich-Erzähler Malcolm Anderson und seiner attraktiven und empathischen Freundin Christine anrichten, sondern wie verunsichert sowohl die Medien als auch die Bevölkerung mit dem Umstand umgehen, dass da draußen ein anonymer Killer herumläuft, der seine Geschichte in den Medien präsent haben will. Dabei thematisiert der Autor sowohl das Recht des Amerikaners auf den Besitz einer Waffe als auch die Verantwortung der Medien, die offenbar keine andere Möglichkeit sehen, als an der Story dranzubleiben. All dies verwebt Katzenbach zu einem gnadenlos packenden Thriller, der den Leser bis zum wendungsreichen Finale in Atem hält.
Leseprobe John Katzenbach - "Der Reporter"

Linwood Barclay – „Nachts kommt der Tod“

Sonntag, 28. Januar 2018

(Knaur, 560 S., Tb.)
Wegen seiner aufbrausenden Art musste Cal Weaver den Dienst als Cop in Promise Falls quittieren und lebt nun mit seiner Frau Donna in der Kleinstadt Griffon bei den Niagarafällen. In einer regnerischen Nacht gabelt er die siebzehnjährige Claire, Tochter von Bürgermeister Bertram Sanders, vor Patchett’s Bar auf, als sie sich als Freundin seines Sohnes Scott zu erkennen gibt, und will sie nach Hause fahren.
Seit Scott vor zwei Monaten im Drogenrausch beim Sturz vom Dach des örtlichen Möbelhauses tödlich verunglückt ist, sucht Cal, der nun als Privatermittler arbeitet, nach demjenigen, der Scott die Drogen angedreht hat. Doch Claire kann ihm in dieser Hinsicht nicht weiterhelfen. Da ihr angeblich übel ist, bittet sie Cal, sie im Iggy’s auf die Toilette gehen zu lassen, doch als sie nach längerer Zeit wieder ins Auto steigt, stellt der Detektiv fest, dass es sich um ein anderes Mädchen namens Hanna Rodomski handelt, die Claire so ermöglichen möchte, ihren mutmaßlichen Verfolger abzuschütteln.
Bevor Cal weitere Details dieses Täuschungsmanövers erfahren kann, stürzt Hanna an der nächsten roten Ampel aus dem Wagen und flüchtet in den nahegelegenen Wald. Am nächsten Morgen wird ihre halb entblößte Leiche am Flussufer gefunden. Cal gerät damit nicht nur ins Visier der örtlichen Polizei, die von seinem Schwager Augie Perry geleitet wird, sondern auch in den Konflikt zwischen Chief Perry und Bürgermeister Sanders, der der Polizei unlautere Methoden vorwirft.
Als auch noch Claire spurlos verschwindet und Hannas Freund Sean Skilling wegen Mordverdachts verhaftet wird, macht sich Cal auf die Suche nach dem vermissten Mädchen. Zu seiner Hartnäckigkeit gesellen sich aber auch immer wieder die Beziehungsprobleme mit Donna und sein aufwallendes Temperament.
„Es gab Zeiten, da litt ich unter der Wahnvorstellung, ein anständiger Mensch zu sein. Ich glaubte, ich hätte Ideale. Ich glaubte, mein Verhalten werde von edlen Motiven bestimmt.
Aber mit zunehmendem Alter kommt auch die Einsicht, dass jeder Tag einem Kompromisse abverlangt. Dass man die allgemeinen Regeln den eigenen Bedürfnissen anpasst, ist nichts, was einem schlaflose Nächte bereiten müsste.“ (S. 316) 
Seit seinem Debütroman „Ohne ein Wort“ zählt der kanadisch-US-amerikanische Schriftsteller Linwood Barclay zu den populärsten Vertretern des Thriller-Genres. Mit dem erstmals 2014 veröffentlichten Roman „Nachts kommt der Tod“ verweist er am Rande schon auf die kürzlich erschienene „Promise Falls“-Trilogie, denn Cal Weaver mischt auch im zweiten Band „Lügennacht“ als Ermittler mit.
In „Nachts kommt der Tod“ berichtet Weaver als Ich-Erzähler nicht nur von der Tragödie seines Sohnes, dessen Tod nach wie vor wie ein dunkler Schatten über seinem Leben und seiner Ehe liegt, sondern von den merkwürdigen Vorfällen, die mit dem Mord an Hanna und dem Verschwinden ihrer Freundin Claire ihren Anfang nehmen. Barclay erweist sich dabei als routinierter Spannungs-Autor, der seine Figur lebendig portraitiert und die Handlung bei hohen Tempo voranschreiten lässt. Das Ensemble in der Kleinstadt Griffon bleibt dabei angenehm überschaubar, die Verflechtungen innerhalb der städtischen Bewohner gestalten sich allerdings ungewöhnlich komplex.
Natürlich fügen sich kontinuierlich die einzelnen Puzzle-Teile allmählich zusammen, werden falsche Spuren gelegt und ebensolche Schlüsse gezogen. Zum Ende weist der Plot die obligatorischen Wendungen und Bekenntnisse der Schuldigen auf. Barclay bedient sich souverän der Genre-Konventionen und versteht es, die Spannung auf einem hohen Niveau zu halten.
Das macht auch „Nachts kommt der Tod“ zu einem kurzweiligen und packenden Lesevergnügen.

Linwood Barclay – (Promise Falls: 3) „Lügenfalle“

Montag, 27. März 2017

(Knaur, 493 S., Pb.)
Die kleine US-amerikanische Ostküstenstadt Promise Falls kommt einfach nicht zur Ruhe. Nachdem vor nicht mal einer Woche jemand das Autokino am Stadtrand in die Luft gejagt und dabei vier Menschen getötet hatte, hat Polizeichef Barry Duckworth am langen Memorial-Day-Maiwochenende nicht nur wie üblich mit seinem Übergewicht zu kämpfen, sondern auch den Ursprung einer echten Epidemie herauszufinden. Offensichtlich hat jemand das Trinkwasser der Stadt vergiftet, so dass im völlig überlasteten Stadtkrankenhaus bald über hundert Tote zu beklagen sind.
Nutznießer dieser Katastrophe scheint wieder einmal der frühere Bürgermeister Randy Finley zu sein, der nach wie vor plant, nach seiner skandalösen Affäre mit einer minderjährigen Prostituierten wieder zu kandidieren. Zum Glück hatte Finley die Produktion seiner Trinkwasser-Anlage seit einer Woche hochfahren lassen, so dass er die besorgten Bürger nun medienwirksam mit kostenlosem Wasser aus seinen Quellen versorgen kann.
Doch Duckworth hat sich kaum in den Fall einarbeiten können, da erreicht ihm vom örtlichen Thackeray-College die nächste Hiobsbotschaft: Dort wird die Studentin Lorraine Plummer in ihrem Zimmer ermordet aufgefunden, mit der gleichen Art von tödlicher Verletzung, die auch vor drei Jahren Olivia Fisher und kürzlich Rosemary Gaynor erlitten haben.
Ins Zentrum der Ermittlungen gerät Victor Rooney, der es offenbar nicht verwunden hat, dass vor drei Jahren zwar 22 Menschen den Mord an seiner Freundin Olivia mitbekommen, aber nichts unternommen haben, und sich dafür vielleicht an der ganzen Stadt rächen will.
„Wie wütend war Victor Rooney wirklich auf das Versagen dieser Stadt? Wütend genug, um es ihr heimzuzahlen? Wütend genug, um Botschaften zu senden? Dreiundzwanzig tote Eichhörnchen an einem Zaun, zum Beispiel? Drei rot beschmierte Schaufensterpuppen in Kabine 23 eines stillgelegten Riesenrads? Einen brennenden, außer Kontrolle geratenen Bus mit einer ‚23‘ auf dem Heck?“ (S. 318) 
Und schließlich sucht der ehemalige Journalist David Harwood, der nun die Öffentlichkeitsarbeit für Finley betreibt, nach Sam und ihrem Sohn Carl, die im Trubel der Trinkwasservergiftung ihre Sachen gepackt und spurlos verschwunden sind …
Im großen Finale seiner „Promise Falls“-Trilogie besinnt sich Thriller-Bestseller-Autor Linwood Barclay („Ohne ein Wort“, „Frag die Toten“) wieder auf seine originären Fähigkeiten und präsentiert von Beginn an einen atmosphärisch dichten, atemlosen Pageturner, in dem eine Katastrophe auf die nächste folgt. Zum Glück konzentriert sich der Autor diesmal wieder auf ein überschaubareres Figuren-Ensemble, nachdem es in „Lügennacht“ doch arg durcheinander herging.
Zwar macht sich Barclay auch diesmal wenig Mühe, seinen Figuren Charakter zu verleihen – abgesehen von dem immer mal wieder als Ich-Erzähler fungierenden Polizeichef bleiben die Einwohner und Verantwortlichen von Promise Falls ziemlich blass -, aber die Suche nach dem Trinkwasser-Attentäter einerseits, dem Frauenmörder andererseits und schließlich dem Zusammenhang mit der ominösen Zahl 23 und den früheren merkwürdigen Vorfällen in der Stadt ist absolut packend beschrieben.
Barclay thematisiert dabei nicht nur mangelnde Zivilcourage und die allgegenwärtige Angst vor Terrorismus, sondern auch generell den Zerfall zivilisierter Werte und Moralvorstellungen.
Leseprobe Linwood Barclay - "Promise Falls III: Lügenfalle"
 

Clive Barker – „Spiel des Verderbens“

Sonntag, 26. März 2017

(Knaur, 510 S., Tb.)
Nach sechs Jahren im Wandsworth-Gefängnis bekommt Marty Strauss die Gelegenheit, neu anzufangen. Ein gewisser Mr. Toy unterbreitet dem Häftling das Angebot, als persönlicher Leibwächter für den in die Jahre gekommenen Joseph Whitehead zu arbeiten, der als Selfmade-Mann mit der Whitehead Corporation eine der größten pharmazeutischen Firmen in Europa aufgebaut hat. Marty muss allerdings schnell feststellen, dass er von einem Gefängnis ins nächste gelangt ist. Das als „Asyl“ bezeichnete Anwesen stellt sich als wahre Festung dar, die der Firmenchef – und somit auch sein Leibwächter - nie verlässt.
Cover der späteren Heyne-Wiederveröffentlichung
Da Marty feststellen muss, dass seine Frau Charmaine kein Interesse mehr an einer Beziehung mit ihm hat, ist sein Freiheitsdrang auch nicht mehr besonders ausgeprägt. Außerdem findet er sehr schnell Gefallen an Whiteheads Tochter Carys, die allerdings von ihrem Vater mit Heroin versorgt wird, damit sie einigermaßen zurechtkommt.
Was Marty allerdings wirklich beunruhigt, ist der geheimnisvolle Mamoulian, der sich als einer der letzten „Europäer“ sieht und zusammen mit Breer, ebenfalls Mitglied einer weiteren aussterbenden Rasse, nämlich der Rasierklingenesser, bei Whitehead alte Schulden einzutreiben gedenkt. Marty erfährt, dass die Auseinandersetzung der beiden Kontrahenten vor sechzig Jahren in Warschau ihren Anfang nahm und nun in einer allumfassenden Apokalypse zu enden droht.
„Heiliger Jesus, dachte er, so musste die Welt enden. Eine Zimmerflucht, Autos auf der Straße, die nach Hause fuhren, und die Toten und beinahe Toten lieferten sich bei Kerzenlicht Handgemenge. Der Reverend hatte sich geirrt. Die Sintflut war keine Woge. Sie war blinde Männer mit Äxten; sie war die Großen auf den Knien, wie sie beteten, nicht durch die Hände von Narren sterben zu müssen, sie war das Jucken des Irrationalen, welches zur Epidemie geworden war.“ (S. 487) 
Der 1952 in Liverpool geborene Clive Barker kam über das Theater und den Film zur Schriftstellerei und fasste seine ersten Kurzgeschichten in den zwischen 1984 und 1985 veröffentlichten sechs „Büchern des Blutes“ zusammen, von denen bis heute immer wieder einzelne Geschichten verfilmt werden.
Durch seine drastisch unverblümte Darstellungsweise, seine ungebändigte Phantasie und seine bildgewaltige Sprache avancierte Barker in kürzester Zeit zum Erneuerer des Horror-Genres und lieferte 1986 mit „Spiel des Verderbens“ seinen ersten Roman ab, der beim Knaur Verlag in deutscher Erstausgabe in der kongenialen Übersetzung von Joachim Körber erschienen ist (aber mit einem so schlechten Cover, dass ich mich hier für das stimmungsvollere Cover der späteren Heyne-Wiederveröffentlichung entschied, die allerdings an Körbers Übersetzung herumgepfuscht hat).
Wie in seinen vorstellungskräftigen Kurzgeschichten kreiert Barker auch in seinem Romandebüt ein allumfassendes Grauen, das in diesem Fall aus den Scharmützeln des Krieges entstanden ist und aus der Gier der Protagonisten in weitschweifende Horror-Szenarien mündet.
Was mit dem Verstand schwer zu fassen ist, beschreibt Barker äußerst minutiös und fast schon genussvoll, so dass Schmerz und Tod nahezu eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Alltagsroutinen darstellen. Dazu nimmt sich Barker viel Zeit für die Beschreibung seiner außergewöhnlichen Figuren und der Atmosphäre, in der sich diese bewegen. Dass er sich dabei oft biblischer Motive bedient, hebt die Geschichte in einen mal sakralen, dann wieder ketzerischen Kontext. Wie Whitehead und Mamoulian im Finale für eine letzte Auseinandersetzung zusammentreffen, ist einfach großartig und entschädigt für manche Passagen, in denen die Story nicht so recht vorankommen mag.

Linwood Barclay – (Promise Falls: 2) „Lügennacht“

Sonntag, 11. Dezember 2016

(Knaur, 497 S., Pb.)
In Promise Falls, einer Kleinstadt an der US-amerikanischen Ostküste, gehen buchstäblich allmählich die Lichter aus. Nachdem bereits der Journalist David Harwood aus Boston in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, um bei der Lokalzeitung anzuheuern, die gleich darauf eingestellt wurde, öffnet nun mit dem Constellation auch das Autokino der Stadt zum letzten Mal seine Tore.
Wie üblich sollen auch bei der Abschiedsvorstellung drei Filme hintereinander gezeigt werden, um sowohl für die Kleinsten als auch für die Erwachsenen etwas zu bieten. Doch bevor der erste Film auf der Leinwand läuft, führt eine kleine Explosion dazu, dass die Leinwand in das Publikum fällt und vier Menschen zu Tode quetscht, darunter auch Adam Chalmers und vermutlich seine bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Frau Miriam.
Während der Constellation-Besitzer Derek Grayson davon ausgeht, dass die beauftragte Abrissfirma für den Unfall verantwortlich ist, will Ex-Bürgermeister Randy Finley die Katastrophe für seine erneute Kandidatur ausschlachten. Die Ermittlungen von Polizeichef Barry Duckworth kommen zunächst nicht voran, doch dann scheinen sich Verbindungen zu früheren Vorfällen aufzutun, in denen die Zahl 23 eine Rolle gespielt hatte, schließlich stürzte die Leinwand um 23:23 Uhr zusammen.
„Nun stellte sich die Frage, ob er diese Information, so spekulativ sie auch sein mochte, publik machen sollte. Vielleicht war es Zeit, die Öffentlichkeit um Mithilfe zu bitten. Irgendjemand wusste möglicherweise etwas. Vielleicht gab es in einer Familie ein Sorgenkind, einen Verwandten mit einer unerklärlichen Fixierung auf diese Zahl. Wenn Psalm 23 eine Rolle spielte – ‚Und ob ich schon wanderte im finstern Tal / fürchte ich kein Unglück‘ – war vielleicht ein religiöser Eiferer am Werk.“ (S. 126) 
Doch auch der Mord an Olivia Fisher vor drei Jahren und nun an Rosemary Gaynor hält den Detective auf Trab. Auch hier scheint es eine noch nicht aufgedeckte Verknüpfung zu geben. Währenddessen wird der Privatermittler Cal Weaver von Adam Chalmers-Tochter Lucy Brighton beauftragt, den Einbruch in das Haus ihrer Eltern aufzuklären. Dabei stößt er auf ein geheimes Zimmer, in dem offensichtlich Sextreffen stattfanden und auf Video aufgezeichnet wurden. Die dazugehörigen DVDs sind allerdings verschwunden …
Nachdem in „Lügennest“ der nach Promise Falls zurückgekehrte Reporter David Harwood als Ich-Erzähler fungierte und die merkwürdigen Vorkommnisse in der Kleinstadt untersuchte, setzt Linwood Barclay im zweiten Band seiner Trilogie nun den ebenfalls von außerhalb zugereisten Privatermittler Cal Weaver als Erzähler ein, der allerdings auch ein alter Bekannter von Detective Duckworth ist.
Auch wenn es bereits in Band I eine Vielzahl von Nebensträngen gab, die auf die zusammenhängende Bedeutung der Zahl 23 ausgerichtet war, war der Plot doch straff gestrickt und spannend zu lesen. Im nun vorliegenden Folgeband verzettelt sich der Autor allerdings zunehmend in einem unüberschaubaren Geflecht von Handlungen, die logischerweise an das Geschehen in „Lügennest“ anknüpfen, aber nur noch angerissen werden.
Allerdings kommen nun noch so viele neue Figuren und Verstrickungen dazu, dass dabei nicht nur die Spannung, sondern vor allem auch die Figurenzeichnung auf der Strecke bleibt. Das ist insofern schade, als dass viele Figuren – wie der Reporter, der Privatermittler, der Detective und Harwoods Love Interest Samantha – interessant genug erscheinen, um differenzierter ausgestaltet zu werden. Auf der anderen Seite wird die Ermittlungsarbeit eher skizzenhaft abgerissen, worunter die Atmosphäre leidet.
Bleibt nur zu hoffen, dass der abschließende Band „Lügenfalle“ wieder die Kurve bekommt, sich besser auf die Haupthandlung zu fokussieren versteht und die vielversprechend begonnene Trilogie zu einem versöhnlichen Ausklang bringt.
 Leseprobe Linwood Barclay - "Promise Falls II: Lügennacht"

Stefan Bonner/Anne Weiss – „Wir Kassettenkinder. Eine Liebeserklärung an die Achtziger“

Donnerstag, 27. Oktober 2016

(Knaur, 272 S., Pb.)
Wer wie ich in den 1980er Jahren aufgewachsen ist, weiß noch sehr genau, was er an ihnen gehabt hat: eine musikalische Vielfalt und Aufbruchsstimmung, die noch heute aus dem Programm halbwegs seriöser Radiosender nicht mehr wegzudenken ist; eine tiefe Bewunderung für technische Errungenschaften vom Ghettoblaster über die Stereoanlage und den Walkman bis hin zum Videorecorder, Videospielkonsolen und den ersten Heimcomputern; endlose Sommer in Badeanstalten, Blockbuster wie „Zurück in die Zukunft“, „Indiana Jones“ und Straßenfeger wie „Wetten, dass …?“.
Stefan Bonner und Anne Weiss erinnern sich ebenfalls noch sehr gut an das für viele Zeitgenossen goldene Jahrzehnt und rekapitulieren stellvertretend für uns alle in ihrem Buch „Wir Kassettenkinder“ die Besonderheiten, als Kind und Jugendlicher in den 80er Jahren aufgewachsen zu sein. Der Titel des Buches ist deshalb so passend gewählt, weil Tonbandkassetten damals die ersten Möglichkeiten geboten haben, nicht nur ausgewählte Sendungen und Lieblingshits der Charts-Sendungen am Wochenende aufzunehmen, sondern daraus auch allseits beliebte Mixtapes zu erstellen, die unseren Soundtrack zum Leben darstellten.
Besonders eindringlich beschreibt das Duo, welchen Zauber Vinyl-Platten auf uns ausübten.
„Das stolze Nachhausetragen der Langspielplatte, das Auspacken und erste Anhören waren ein Akt von beinahe sakraler Würde. Es war ein unglaubliches Gefühl, das neue Album zum ersten Mal vorsichtig selbst aus der Innenhülle des Covers zu ziehen, die ein wenig daran klebte – die Platte glänzte in frischem Schwarz, alles war makellos, kein Kratzer, und es roch neu nach Vinyl.“ (S. 229)
Auf höchst unterhaltsame Weise beschreiben die Autoren, in welcher Art von Elternhaus wir aufgewachsen sind, mit Wohnzimmer-Schrankwand, Spirituosen hinter einer Schiebetür und nebst einem mehrbändigen Lexikon Bestsellern von Simmel, Eco und Allende im Regal. Vater verdiente das Geld, Mutter kümmerte sich um Haushalt und die Kinder.
Mit leichter Hand beschreiben Bonner/Weiss, wie wir Kassettenkinder uns mit Brettspielen wie „Cluedo“, „Spiel des Lebens“ und „Scotland Yard“ vergnügten, wie wir das Leben unserer Stars in der BRAVO, POPROCKY und POPCORN verfolgten und „Formel Eins“ zu einem Höhepunkt in der Woche avancierte. Es war die Zeit von Bum-Bum-Boris und Vierfarb-Kugelschreibern, unvergesslichen Werbeslogans („Nur, wo Nutella draufsteht, ist auch Nutella drin.“) und der Neuen Deutschen Welle, von Punks, Poppern, Rappern und Gruftis.
Urlaubsreisen wurden noch im Reisebüro gebucht, nachdem Unmengen von entsprechenden Katalogen gewälzt worden sind. Die Achtziger waren aber natürlich kein reines Spaß-Jahrzehnt. Die Autoren verweisen auch auf den drohenden Dritten Weltkrieg, den Ausbruch der AIDS-Epidemie, Umweltkatastrophen und das Reaktor-Unglück von Tschernobyl, auf das Erwachen eines politischen Bewusstseins, mit dem wir uns bemühten, unseren eigenen Kindern eine lebenswerte Erde zu hinterlassen.
Alles in allem ist dem Autorengespann eine höchst vergnügliche Zeitreise in die Achtziger gelungen, die etliche Erinnerungen an Fernsehshows und -sendungen, Markenartikel und Freizeitaktivitäten wachruft, von denen zum Glück einige die Zeit überdauert haben – auch das schöne Vinyl.
Leseprobe Stefan Bonner, Anne Weiss - "Wir Kassettenkinder"

Linwood Barclay – (Promise Falls: 1) "Lügennest“

Donnerstag, 1. September 2016

(Knaur, 503 S., Pb.)
Nach dem Tod seiner Frau Jan vor fünf Jahren kündigte der Reporter David Harwood seinen Job bei dem Promise Falls Standard und zog mit seinem Sohn Ethan nach Boston, wo er allerdings wegen seiner Arbeitszeiten beim Boston Globe kaum Zeit für seinen Sohn aufbringen konnte. Deshalb ist David mit dem nun neunjährigen Ethan in sein Elternhaus zurückgekehrt und hat wieder bei seiner alten Zeitung zu arbeiten begonnen. Allerdings bekommt er schon am ersten Arbeitstag von der Herausgeberin zu hören, dass der Standard eingestellt wird. Doch das ist nur der Anfang einer Reihe von merkwürdigen bis erschreckenden Ereignissen, die die Kleinstadt heimsuchen. Zunächst muss David beim Besuch seiner Cousine Marla Pickens feststellen, dass sie plötzlich zu einem Kind gekommen ist, das ihr – so ihre Aussage – ein Engel in die Arme gelegt hat.
Vor neun Monaten verlor Marla ihr eigenes Kind bei der Geburt, dann ist sie auffällig geworden, als sie aus dem Krankenhaus, das ihre Tante Agnes leitet, ein fremdes Kind mitnehmen wollte. Als David den Jungen zur eigentlichen Familie zurückbringen will, findet er Mrs. Gaynor tot in ihrem Haus vor. Da ihr Mann in Boston bei einer Konferenz gewesen ist und über ein Alibi verfügt, wird Marla verdächtigt, Rosemary Gaynor getötet und Matthew entführt zu haben.
Doch Detective Barry Duckworth stößt bei seinen Ermittlungen bald auf Ungereimtheiten. Zudem hat er mit Überfällen auf Frauen auf dem Campus des Thackaray Campus zu tun, mit 23 auf einer Schnur aufgehängten toten Eichhörnchen und einem Riesenrad auf dem stillgelegten Ferienpark, das von unbekannter Hand in Gang gesetzt worden ist und in dessen Kabine mit der Nummer 23 drei Puppen platziert wurden. David setzt alles daran, Marlas Unschuld zu beweisen, und macht sich auf die Suche nach dem Kindermädchen der Gaynors, das plötzlich spurlos verschwunden ist.
„Der Mörder hätte einfach verschwinden können. Das Baby wäre zu guter Letzt gefunden worden. Aber nein. Der Mörder – oder sonst jemand – will das Baby in die Obhut von jemandem geben. Warum in die von Marla?
In Promise Falls gab es genügend Menschen, bei denen Matthew hätte abgegeben werden können, warum ausgerechnet bei Marla? Die genau am anderen Ende der Stadt wohnt. Und die bereits – wenn auch nur einmal – als Kindesentführerin auffällig geworden war.“ (S. 231) 
Tatsächlich kommen David und der Detective allmählich einem vertrackten Komplott auf die Spur, in die ganz prominente Persönlichkeiten der Stadt verwickelt sind.
Linwood Barclay, der 2007 mit seinem Debütroman „Ohne ein Wort“ gleich einen internationalen Bestseller veröffentlicht hat, gibt mit „Lügennest“ den Startschuss einer vielversprechend startenden Trilogie. Im Mittelpunkt des dramaturgisch geschickt konstruierten Thrillers steht der sympathische Ich-Erzähler David Harwood, der seiner Familie zuliebe in seine Heimatstadt zurückkehrt und sofort mit einer Reihe von Problemen konfrontiert wird, von denen das Fehlen eines Jobs und einer eigenen Wohnung noch die geringsten sind. Nachdem er ausführlich seine eigene Geschichte geschildert hat, werden auch die weiteren Protagonisten eingeführt, ohne allerdings allzu viel von ihnen preiszugeben. Einzig Marlas bedauerliches Schicksal erhält etwas mehr Raum, schließlich ist sie auch die Hauptverdächtige.
Auch wenn der Mord an Rosemary Gaynor und die Frage, wie Marla an deren Sohn gekommen ist, im Zentrum von „Lügennest“ steht, werden auch die Nebenhandlungen immer wieder aufgegriffen, ohne am Ende aufgelöst zu werden. Schließlich stehen mit „Lügennacht“ (Dezember 2016) und „Lügenfalle“ (April 2017) noch zwei Folgebände an.  
Barclay gelingt es sehr überzeugend, einzelne Facetten der geheimnisvollen Vorgänge in Promise Falls zu enthüllen, aber noch sehr viele offene Fragen, gerade um Figuren wie Bürgermeisterkandidat Randall Finley, ungeklärt zu lassen, so dass man mit Spannung die Fortsetzungen erwartet.
Leseprobe Linwood Barclay - "Promise Falls I: Lügennest"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 1) „Schwarzes Echo“

Mittwoch, 11. Mai 2016

(Knaur, 425 S., eBook)
Harry Bosch, Vietnam-Veteran, ehemaliges Aushängeschild des Morddezernats von Los Angeles und Vorlage für einen Spielfilm und eine Fernsehserie, wurde zu den berüchtigten Hollywood Detectives strafversetzt, nachdem einen unbewaffneten Tatverdächtigen in vermeintlicher Notwehr erschossen hat. Nun wird er zum Mulholland-Damm gerufen, wo nach einem anonymen Notruf die Leiche von Boschs Vietnam-Kollegen William Meadows gefunden wurde. Da Bosch keine verwertbaren Spuren außer dem Schriftzug eines Graffiti-Künstlers findet und nicht an die gelegte Fährte glaubt, dass das Opfer an einer Überdosis gestorben ist, unternimmt er weitere Untersuchungen.

Allerdings hat er dabei nicht nur Lewis und Clarke von der Abteilung für Innere Angelegenheiten im Hacken, sondern bekommt auch die FBI-Ermittlerin Eleanor Wish als neue Partnerin in dem Fall zugeteilt.
Der Überfall auf ein Pfandhaus in der Nähe des Zeitpunkts, an dem Meadows ermordet worden ist, ein Pfandschein in Meadows‘ Haus und ein Banküberfall führen Bosch auf eine Spur, die bis nach Vietnam zurückreicht und schließlich bis in durchaus vertraute Kreise in Boschs Umfeld führen.
„Er glaubte, dass Meadows seit seiner Entlassung von TI oder zumindest seit der Charlie Company etwas im Sinn gehabt hatte. Er war planmäßig vorgegangen, hatte legale Jobs angenommen, bis seine Bewährung zu Ende ging. Dann hatte er gekündigt und mit der Ausführung des Planes begonnen. Da war Bosch ganz sicher. Und er vermutete, dass Meadows entweder im Gefängnis oder im offenen Vollzug auf die Männer gestoßen war, mit denen er die Bank ausgeraubt hatte. Und von denen er dann ermordet worden war.“
Michael Connelly wurde 1986 für eine seiner Polizeireportagen für den Pulitzer Preis nominiert und wechselte anschließend als Polizeireporter zur Los Angeles Times. Als er 1992 für sein Thriller-Debüt „Schwarzes Echo“ gleich den Edgar Award, einen renommierten amerikanischen Krimi-Preis, erhielt, war der Startschuss für eine bis heute überaus erfolgreiche Thriller-Serie gelegt.

Tatsächlich kam es später auch – wie Harry Boschs Biografie schon im Debüt „prophezeit“ - zu einer Verfilmung eines seiner Fälle. In „Schwarzes Echo“ wird Bosch als Einzelgänger charakterisiert, der nach einem tragischen Unglück vom Morddezernat zu den Hollywood Detectives versetzt worden ist und auch dort immer wieder bei Vorgesetzten und Kollegen aneckt. Aus seiner Vergangenheit wird in „Schwarzes Echo“ vor allem seine Zeit in Vietnam aufgearbeitet.

Connelly erweist sich als sorgfältiger Autor mit präziser Sprache, wobei er bereits mit seinem Debüt dokumentiert, dass er die Regeln des Genres beherrscht – was „Schwarzes Echo“ leider auch etwas vorhersehbar macht: die obligatorische Wendung im Finale, das Geständnis der Schuldigen in der finalen Konfrontation, die „überraschende“ Rettung des Helden in buchstäblich letzter Sekunde … Von diesen Standard-Bausteinen abgesehen bietet das Bosch-Debüt durchweg spannende und kurzweilige Thriller-Kost mit einem charismatischen Cop, der bis heute zurecht erfolgreich ermittelt. 

Michael Connelly – (Harry Bosch: 2) „Schwarzes Eis“

Sonntag, 27. März 2016

(Knaur, 364 S., eBook)
Harry Bosch schiebt gerade Bereitschaftsdienst an Weihnachten und bereitet sich bei Coltranes „Song of the Underground Railroad“ sein Weihnachtsmenü zu, als der Polizeiscanner nach einem Deputy Chief in einem Motel in Hollywood verlangte. Kaum hat sich Bosch gefragt, warum man ihn als Bereitschaftsdetective von Hollywood nicht als erstes benachrichtigt hat, macht er sich schon auf den Weg. Offensichtlich hat sich Boschs Kollege Calexico Moore mit einer doppelläufigen Schrotflinte den Kopf weggeschossen, der Fall wurde an das Raub-Mord-Dezernat abgegeben. In seiner rechten Hosentasche finden die Ermittler einen Zettel, auf der nur eine Zeile geschrieben steht: „Ich fand heraus, wer ich war“.
Moore leitete die Einheit, die im Bezirk den Straßenhandel mit Drogen bekämpfte, war von seiner Frau getrennt und in das Visier des Dezernats für interne Ermittlungen geraten. Bosch hatte sich vor einigen Wochen mit Moore getroffen, um Hintergrundinformationen zu einem ermordeten Drogenkurier zu bekommen, der mit einer Superdroge zu tun hatte, die als Schwarzes Eis bezeichnet wird und eine Mixtur aus Kokain, Heroin und PCP darstellt.
Statt sich weiter mit dem Fall zu beschäftigen, bekommt Bosch von seinem Chief Pounds den Auftrag, einige Fälle des ausgebrannten Kollegen Lou Porter zu übernehmen und vor Jahresende einige davon zum Abschluss zu bringen, um die Statistik zu verbessern. Als er sich Porters jüngste Fälle ansieht, stößt er auf ein unbekanntes Opfer, das in den Akten als Juan Doe #67 geführt wird. Der ungefähr 55-jährige Lateinamerikaner wies eine Tätowierung auf und wurde von Moore hinter einem Restaurant gefunden, einen Tag, bevor er sich in einem Motel das Gesicht zerfetzte. Doch Bosch glaubt nicht an die Selbstmordtheorie macht sich auf nach Mexiko, um den Verbindungen zwischen Juan Doe, Moore und dem Drogenbaron Humberto Zorillo nachzugehen.
„Vor zwei Nächten hatte Bosch in einem heruntergekommenen Hotelzimmer gestanden und aus dem, was er gesehen hatte, auf Selbstmord eines Polizisten geschlossen. Es war ein Irrtum gewesen. Er ließ die Fakten zusammen mit den neuen Informationen Revue passieren und wusste, er hatte es mit der Ermordung eines Cops zu tun, die mit den anderen Morden zusammenhing. Wenn Mexicali die Nabe des Rads war, dann war Moore der Bolzen, der das Rad festhielt.“ (Pos. 2271) 
Auch in seinem zweiten Fall erweist sich Harry Bosch als unbequemer Detective, der sich immer wieder querstellt, wenn sich seine Vorgesetzten als sture Bürokraten erweisen, denen es nicht um Gerechtigkeit, sondern gute Aufklärungsquoten geht. Auch wenn Bosch in den eigenen Reihen wenig Freunde hat, findet er bei seinen Ermittlungen immer wieder Verbündete, diesmal vor allem in Mexico, wo es zum Ende hin zu einem furiosen Showdown mit halbwegs überraschendem Ende kommt.
Schon mit seinem zweiten Bosch-Roman „Schwarzes Eis“ hat Michael Connelly 1993 einen sympathischen Antihelden geschaffen, der mit seiner geradlinigen und ehrlichen Art aber auch einen Schlag bei den Frauen hat und so ein wenig Abwechslung vom rauen Polizeialltag genießen kann.
Leseprobe Michael Connelly - "Schwarzes Eis"

Linwood Barclay – „Schweig für immer“

Freitag, 18. März 2016

(Knaur, 505 S., Tb.)
Cynthia Archer wird die Traumata in ihrem Leben einfach nicht los. 1983 zog sie mit dem schon siebzehnjährigen Vince Fleming los, wurde von ihrem zornigen Vater aufgespürt, aus dem Mustang des Jungen gezerrt und nach Hause gebracht, wo sie am nächsten Morgen feststellen musste, dass das Haus leer war. Fünfundzwanzig Jahre lang wusste sie nicht, was mit ihren Eltern und ihrem Bruder geschehen war. Vor sieben Jahren geriet dann erneut das Leben ihrer eigenen Familie in Gefahr. Als Konsequenz der dramatischen Ereignisse hat sich Cynthia nun eine Auszeit von der Familie genommen, nachdem sie ihre vierzehnjährige Tochter Grace versehentlich verletzt hat.
Ihr Ehemann Terry, der als Englischlehrer arbeitet, hat alle Mühe, die Familie zusammenzuhalten. Als die rebellische Grace eines Abends mit ihrem Freund Stuart eine Spritztour unternimmt, endet der Ausflug in einem vermeintlich unbewohnten Haus, aus dem Stuart die Schlüssel für den Porsche in der Garage holen will. Allerdings befindet sich ein weiterer ungebetener Gast in der Wohnung, ein Schuss löst sich, Stuart verschwindet spurlos. Sie ruft ihren Dad an, der sie an einer Tankstelle abholt und mit Grace versucht, die Ereignisse zu rekonstruieren.
Parallel dazu ermittelt Detective Rona Wedmore in einem Mordfall, der sich in der Nachbarschaft der Archers ereignet hat, wo ein unbescholtenes Lehrerehepaar hingerichtet worden ist. Die Ermittlungen führen zu einer Gangster-Truppe, in der auch Vince Fleming seine Finger im Spiel hat …
„Was hatte es mit dem Haus auf sich? Warum war Vince so erpicht darauf, zu erfahren, ob Stuart und Grace dort noch etwas anderes vorhatten, als den Porsche zu stehlen? Warum wollte er wissen, ob sie außer im Keller und im Erdgeschoss sonst noch wo gewesen waren? (…)
Wenn alles herauskam, was für einen Preis würde sie dafür zahlen, dass sie nicht gleich zu Beginn zur Polizei gegangen und mit der Wahrheit herausgerückt war?“ (S. 218) 
Mit „Schweig für immer“ präsentiert der amerikanische, in Kanada lebende Autor Linwood Barclay eine offizielle Fortsetzung seines erfolgreichen Debüts „Ohne ein Wort“ aus dem Jahr 2007. Zwar lässt sich Barclays neues Buch auch ohne Kenntnis des Bestsellers lesen, aber die Zusammenhänge und vor allem die tragische Geschichte der Archer-Familie wird verständlicher, wenn der Leser auch die Geschichte von „Ohne ein Wort“ im Hinterkopf hat, denn Barclay bringt die vergangenen Ereignisse nur sporadisch und bruchstückhaft zur Sprache.
Der Plot entwickelt sich zunächst aus zwei dramaturgisch interessant gestalteten Episoden. Nach dem Mord an dem Lehrerehepaar im Prolog erläutert Ich-Erzähler Terry die momentane angespannte Familiensituation, die in dem heimlichen Ausflug seiner Tochter mit seinem ehemaligen, nicht sehr hellen Schüler Stuart und dessen spurlosen Verschwinden mündet.
Was folgt, sind ganz unterschiedliche Handlungsstränge, Dialoge und Figurenkonstellationen, die in ihrer Komplexität nicht unbedingt förderlich sind für den Spannungsaufbau. Leider gelingt es Barclay im Verlauf der 500 Seiten auch nicht, die unüberschaubaren Stränge sinnvoll zusammenzuführen. Mit dem Auslassen einiger Nebenhandlungen und dem Straffen des Figurenensembles wäre Barclay sicher besser gefahren. So bietet „Schweig für immer“ eher holperige Spannungsliteratur, die wenig nachhallt.
Leseprobe Linwood Barclay - "Schweig für immer"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 16) „Black Box“

Sonntag, 28. Februar 2016

(Knaur, 441 S., Tb.)
1992 wurde Detective Harry Bosch mit seinem Partner Jerry Edgar von der Hollywood Division abgestellt, um in South Central von Tatort zu Tatort zu fahren, ohne sich lange mit einem Mord aufzuhalten. Nachdem Plünderer von Geschäft zu Geschäft zogen und die Gangs von South L.A. gegen die Polizei angetreten waren, wurden Bosch, Edgar und zwei Streifenpolizisten am 1. Mai zum Crenshaw Boulevard beordert, wo in einer Durchfahrt eine junge Frau erschossen worden war.
Wie sich herausstellte, hieß die Ermordete Anneke Jespersen und arbeitete für die dänische Zeitung „Berlingske Tidende“, für die sie vor allem Reportagen aus Kriegs- und Krisengebiete fotografierte und schrieb. Doch außer einer Neun-Millimeter-Remington-Patronenhülse war am Tatort nichts Beweiskräftiges zu finden gewesen, der Fall wanderte als ungelöst zu den Akten.
Zwanzig Jahre später bekommt es Bosch in der Abteilung Offen-Ungelöst erneut mit diesem Fall zu tun. Der Ballistikbefund führt Bosch zunächst zum in San Quentin inhaftierten Rolling-Sixties-Mitglied Rufus Coleman und dem Gang-Oberhaupt Truman Story, der allerdings seit drei Jahren tot ist.
„Seine Bemühungen hatten ihn Anneke Jespersen zwar nähergebracht, ihm aber letztlich zu keinerlei Einsichten verholfen, weswegen sie ein Jahr nach Operation Desert Storm in die Vereinigten Staaten gereist war. Er war auf keinen einzigen Hinweis gestoßen, warum sie nach Los Angeles gekommen war. Es gab keine Reportage über Kriegsverbrechen, nichts, was weitere Recherchen, geschweige denn eine Reise nach Los Angeles gerechtfertigt erschien. Woran Anneke Jespersen gearbeitet haben könnte, bliebt ihm weiterhin verborgen.“ (S. 224) 

Durch Jespersens Bruder erfährt Bosch jedoch, dass die Reporterin nicht wie zuvor angenommen Urlaub in den USA gemacht hatte, sondern einer Spur gefolgt war, die bis zu Angehörigen der 237th Company führten, die sowohl im Golfkrieg als auch bei den Unruhen in Los Angeles beteiligt gewesen waren.
Bosch wird von seinem Chef O‘ Toole dazu aufgefordert, sich einem neuen Fall zu widmen und handelt sich eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein, so dass er eine Woche Urlaub nimmt, um sich die vier Männer vorzuknöpfen, die mit der Reporterin auf dem Kreuzschiff „Saudi Princess“ Urlaub von der Front gemacht haben.

Seit der ehemalige Polizeireporter Michael Connelly 1992 mit „Schwarzes Echo“ sein Romandebüt und gleichzeitig den ersten Band um den hartnäckigen Detective Hieronymus „Harry“ Bosch vorgelegt hat, zählt der Pulitzer-Preis-Nominee zu den erfolgreichsten Thriller-Autoren weltweit. Auch mit seinem bereits 16. Band erweist sich Connelly wieder als routinierter Spannungsautor, der seine Leser ohne große Umschweife in die Handlung einführt und ihn sukzessive von einer Spur zur nächsten mitnimmt. Zwischenzeitlich fließt auch etwas von Boschs Privatleben, vor allem mit seiner 16-jährigen Tochter Maddie ein, die ebenfalls Polizistin werden möchte, doch der Plot von „Black Box“ ist ganz auf die Aufklärung eines zwanzig Jahre alten Mordfalls fokussiert.
Wie hartnäckig Bosch dabei auch die Forderungen seines Vorgesetzten ignoriert und sogar dem Polizeichef die Meinung sagt, demonstriert einmal mehr, dass er auf dem Weg zur Lösung eines Falls keine faulen Kompromisse eingeht. „Black Box“ reiht sich souverän in die gute bis hervorragend geschriebene Harry-Bosch-Reihe ein, bietet aber auch keine echten Überraschungen, wenige Einblicke ins Boschs Privatleben und endet recht konventionell in einem actiongeladenen Finale.