Gilbert Furian & Nikolaus Becker - “Auch im Osten trägt man Westen”

Donnerstag, 2. April 2009

(Tilsner, 122 S., Pb.)
In Sachen Jugendkulturen leistet das Berliner Archiv der Jugendkulturen beispielhafte Arbeit nicht nur hinsichtlich der Sammlung von Materialien, sondern auch im Bereich eigener Veröffentlichungen zu verschiedenen Aspekten jugendlicher Protestbewegungen. Im Gegensatz zu vielen Publikationen der sogenannten seriösen Presse, in denen Außenstehende Phänomene zu beschreiben und zu analysieren versuchen, die sie weder verstehen wollen, noch ausreichend kennen, liegt der Hauptaugenmerk der in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Jugendkulturen veröffentlichten Bücher eindeutig auf der direkten Einbezugnahme der jeweiligen Jugendgruppierungen.

Auch in dem aktuellen Werk, das sich mit Punks in der DDR befasst, stehen ausführliche und vor allem auch aussagekräftige Interviews mit und Fotos von ehemaligen DDR-Punks im Mittelpunkt, so dass der Leser ein faszinierend authentisches Bild der Punk-Szene im ehemaligen Ostdeutschland erhält. Die Gründe, warum man in der DDR Punk geworden ist, welche Vorstellungen man damit verbunden hat und was letztlich aus den Punks von damals heute geworden ist, stellen sich dabei ebenso vielseitig dar wie das individualistische Outfit der einzelnen Punks. Einen besonderen Aspekt, der im vorliegenden Werk auch entsprechend gewürdigt wird, stellt allerdings die Konfrontation zwischen Punks und DDR-Staatsorganen dar. Mit Abbildungen von Dokumenten, die die staatlichen Ermittlungen, Kontrollen und Strafverfolgungen demonstrieren, wird deutlich aufgezeigt, wie man in der DDR mit Hetzern “gegen die bestehende gesellschaftlichen Verhältnisse” umgegangen ist, aber das Buch zeigt auch, wie die Punks ihren Willen zur Selbstentfaltung bis heute gestärkt haben und in der Lage sind, “mit kraftvoller Phantasie ihre Lebensentwürfe zu zeichnen und zu leben” (Furian).

Archiv der Jugendkulturen e.V. (Hrsg.) - „50 Jahre BRAVO“

(Archiv der Jugendkulturen e.V., 264 S., Pb.)
Als am 26. August 1956 die erste BRAVO mit einer Startauflage von 30.000 Exemplaren erschien, konnte man für 50 Pfennig eine „Zeitschrift für Film und Fernsehen“ erwerben, deren Titelbild Marilyn Monroe und Richard Widmark zierten und die den farbigen Roman „Gepeinigt bis aufs Blut!“ enthielt. Seitdem hat die BRAVO wie kaum eine andere Zeitschrift jugendkulturelle Trends dokumentiert und bedient, bis sie Ende der 70er und Anfang/Mitte der 90er auf eine stolze Auflage von 1,4 Millionen verkaufter Exemplare Woche für Woche kommt.
Der Schwerpunkt der vorliegenden Dokumentation liegt bei den Aspekten „BRAVO als Spiegelbild des Zeitgeistes“, „Kommerzialisierung von Jugend(kulturen)“ und „Sexualität“. Dr. Martin Goldstein alias „Dr. Jochen Sommer“ schreibt hier erstmals über seine 15-jährigen Erfahrungen als Deutschlands bedeutendster Sexualaufklärer. Weitere Schwerpunkte liegen in der BRAVO-Berichterstattung über Punk, Techno und Drogen. Das ist alles sehr fundiert recherchiert und analysiert, mit vielen BRAVO-Scans illustriert und schließlich durch einen ausführlichen Anhang mit etlichen Charts abgerundet. Insofern stellt dieses großformatige Buch auch eine wunderbare Zeitreise durch die bundesdeutsche Jugendkultur(en) dar.

Irmela Schneider/Christian W. Thomsen (Hrsg.) - “Hybridkultur. Medien - Netze - Künste”

Mittwoch, 1. April 2009

(Wienand, 368 S., Paperback)
Was Kraftwerk seit den 70er Jahren mit ihrem Mensch-Maschine-Konzept thematisiert haben, ist mittlerweile zu einer weit verbreiteten kulturellen Phänomen geworden, das kaum noch mit dem Instrumentarium moderner und postmoderner Theorien erklärt werden kann. Die vorliegende Aufsatzsammlung versucht, die gewaltigen sozialen und kulturellen Veränderungen unserer Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Hybridkultur, also der Vermischung und Durchdringung von bislang getrennten sozio-kulturellen Aspekten und dem damit einhergehenden Wertewandel, zu erklären, wobei die fünfzehn Autoren zwar aus ihren jeweiligen Disziplinen der Philosophie, Soziologie, Medien- und Kulturwissenschaft, Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte heraus die Positionen ihrer Forschungsgebiete markieren, aber dabei die Notwendigkeit eines fruchtbaren Dialogs zwischen den Wissenschaften erkennen.
Nur der grenzüberschreitende Blick auf die Erscheinungen, wie sie in der Transkulturalität, der virtuellen Realität, dem Infotainment und der allseitigen Multimedialität zum Ausdruck kommen, so die These des Buches, lasst ein erhellendes Licht auf fundamentale Umstrukturierungen auch in der Art, Entwicklungen zu beobachten und zu beschreiben, werfen. Den Autoren geht es dabei nicht um eine neue Form einer den Kulturverfall thematisierenden Medienkritik, sondern zunächst um die Bewusstmachung, dass Medien, Künste und Wissenschaften immer mehr miteinander verwoben sind. Die Fragen, die sich aus diesen Erkenntnissen auch für die Zukunft stellen - und das ist der eigentlich bemerkenswerte Beitrag des Buches -, betreffen dabei aber nicht nur die manchmal die Alltagsrealität nur peripher durchdringenden Kunst- und Medienformen, sondern ganz elementar auch die Ausgestaltung sozialer Rollen und das Verhältnis der Geschlechter.

George Lipsitz - „Dangerous Crossroads - Popmusik, Postmoderne und die Poesie des Lokalen“

(Hannibal, 262 S., Pb.)
Dass sich die heutige Musikszene auf eine spannend zu beobachtende Öffnung der einzelnen Stile und Gattungen hin zu mehr oder weniger benachbarten musikalischen Ausdrucksformen eingelassen hat, ist sicherlich ein hervorragendes Beispiel für die postmoderne Vielfalt und Beliebigkeit, die mittlerweile in fast allen kulturellen Bereichen zu beobachten ist. Der an der Universität von San Diego Ethnic Studies lehrende Professor George Lipsitz entwirft in seinem nachdenklich stimmenden, ungemein anregenden Buch „Dangerous Crossroads“ ausgehend von der sogenannten Weltmusik ein vielschichtig angelegtes Panorama von sich einander begegnenden und miteinander vermischenden Musikstilen, wobei sich Lipsitz nicht mit der Analyse der rein musikalischen Stilmittel begnügt, sondern in erster Linie auf die Auswirkung der Weltökonomie auf kultureller Ebene abzielt, was gleichermaßen Chancen und Risiken birgt.
Bereits im umfangreichen Vorwort zur deutschen Ausgabe zieht der Autor Parallelen zwischen den Unruhen in Los Angeles von 1992 und den fremdenfeindlichen Gewaltanschlägen in Deutschland nach der Wende, sieht die Ursachen in jahrelanger rassischer, ökonomischer und politischer Unterdrückung ethnischer Minderheiten. Lipsitz beschreibt im folgenden, wie interethnische Zusammenarbeit zwar nicht unbedingt zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt, aber doch gewisse nationale kulturelle und politische Diskurse über die engen Staatsgrenzen hinaus anregen kann. Wer sich nicht scheut, den allgegenwärtigen Crossover auch jenseits seiner populären Ausprägungen, nämlich im indischen Reggae, in der Discomusik oder in der haitianischen Popmusik zu betrachten und seine politischen und interkulturellen Dimensionen zu erfassen, erhält mit Lipsitz’ detaillierter und anregend geschriebener Analyse einen interessanten Blick auf die Mechanismen und Auswirkungen von Begegnungen verschiedener Musikstile und -traditionen.

Ruth Mayer & Mark Terkessidis (Hrsg.) - „Globalkolorit - Multikulturalismus und Populärkultur“

(Hannibal, 340 S., Pb.)
Einen interessanten Beitrag zur Diskussion um die Mechanismen und Auswirkungen des Multikulturalismus, wie in er in der Postmoderne zur alltäglichen Wirklichkeit auch in Deutschland geworden ist, leistet die von Ruth Mayer und Mark Terkessidis zusammengestellte Aufsatzsammlung „Globalkolorit“, in der Autoren aus der ganzen Welt Beobachtungen und Analysen zu einzelnen multikulturellen Phänomen angestellt haben.
Dabei konzentrierten sie sich auf das vielschichtige Feld der Populärkultur, weil diese nicht mehr nur als verflachende, gleichgeschaltete Kultur der Massen zu begreifen ist, sondern als ambivalenter und dynamischer Prozeß wechselseitiger Abgrenzungen und Aneignungen.
Wie sehr sich Mainstream und Subkulturen mittlerweile durchdringen, demonstriert jedes Jahr aufs Neue die Berliner Love Parade. Der Tenor der hier versammelten Aufsätze geht schließlich auch hinsichtlich der multikulturellen Thematik des Bandes in die Richtung, vom Kulturbegriff als ein für allemal gegebenes Gut Abstand zu nehmen, da in ihm auch stets „rassistische“ Konnotationen mitschwingen. Dagegen wird hier Kultur als dynamischer Prozess, als flexible Struktur verstanden, die sich über die Verdichtung von Machtkämpfen, über Verschiebungen und Umkehrungen politischer, sozialer und ökonomischer Hierarchien und ästhetischer Symbolsysteme immer wieder neu gestaltet. An Beispielen wie Graffiti, einem türkischen Männercafé, deutsch-türkischem Rap in Berlin, dem Zusammenhang von schwarzer Musik und weißer Identität, deutschem Alternativtourismus in Griechenland oder Multikulturalismus und Aliens bei „Independence Day“ versuchen die Autoren des anspruchsvollen Bandes, mögliche Bezugspunkte für eine Diskussion um Multikulturalismus und Populärkultur in Deutschland zu geben und damit den Blick des Lesers für kulturelle Erscheinungen zu öffnen, die auch mal jenseits trivialer alltagsästhetischer Schemata streng nationaler Ausprägung zum Ausdruck kommen.

William Peter Blatty - „Der Exorzist“ + David Seltzer - „Das Omen“ + Ira Levin - „Rosemaries Baby“

(Area, 800 S., HC)
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lust am Grauen für lange Zeit gestillt, so dass die Horror-Literatur bis in die 70er Jahre hinein kaum nennenswerte Höhepunkte zu verzeichnen hatte. Schriftsteller wie Shirley Jackson, Richard Matheson und Fritz Leiber blieben vereinzelte Ausnahmen. Das änderte sich erst 1971 mit William Peter Blattys Roman „Der Exorzist“, der auf fesselnde Weise die Besessenheit des 12jährigen Mädchen Regan durch den Teufel und der Versuch seiner Austreibung durch einen Exorzisten schildert.
Die Angst vor einem Atomkrieg wich in den 70ern nun der Sorge um die Herrschaft des Antichristen, die auch in David Seltzers „Das Omen“ aufgegriffen wurde. Hier schlüpft der Antichrist in den Körper des Jungen David Thorn, der am 6. Juni um 6 Uhr geboren wurde und in dessen Umgebung die Menschen auf mysteriöse Weise sterben, bis sich die dunkle Prophezeiung von Satans Königreich auf Erden zu erfüllen scheint. Und in Ira Levins „Rosemaries Baby“ geht der erfolglose Schauspieler Guy Woodhouse einen Pakt mit dem Teufel ein, um seine Karriere anzukurbeln. Seine schwangere Frau Rosemarie, ohnehin von Sorgen und Ängsten gequält, ahnt nicht, dass bei der Geburt ihres Sohnes der Teufel seine Finger im Spiel hat. Zwar sind vor allem die erfolgreichen Verfilmungen durch William Friedkin („Der Exorzist“), Richard Donner („Das Omen“) und Roman Polanski („Rosemaries Baby“) berühmt geworden, doch es lohnt sich auf jeden Fall, auch die packenden literarischen Vorlagen zu studieren, die der Area-Verlag in einer extrem preisgünstigen und sehr handlichen gebundenen Ausgabe zusammengefasst hat.

Uli Wunderlich - „Der Tanz in den Tod“

(Eulen, 144 S., HC)
Wie so viele andere Themen, die im Mittelalter von alltäglicher Bedeutung waren und uns heute so geheimnisvoll anmuten, üben auch die Totentänze noch immer eine ausgesprochen ausgeprägte Faszination auf uns aus. Uli Wunderlich, Präsidentin der „Europäischen Totentanz-Vereinigung“, zeigt in ihrem reichhaltig illustrierten Buch die Ursprünge und Bedeutungen des Totentanzes zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen. Deutlich wird vor allem die enge Verbindung der Totentänze mit der uralten Angst des Menschen vor dem Tod und seine starke Ausprägung gerade im christlichen Europa. Schließlich diente der Totentanz im mitteleuropäischen Raum vor allem dazu, Tänze und Totenkult in Nähe von Gräbern als Teufelswerk zu verdammen.
 In allen Teilen der Welt symbolisieren die Darstellungen von tanzenden Skeletten Fürsorge und Abwehrriten, denn das Bild vom Tod war stets ambivalent, ein Helfer und Zerstörer. Ausgehend vom spanischen Danza de la Muerte, dem französischen Danse Macabre und dem ober- wie niederdeutschen Totentanz, spannt die Autorin einen weiten Bogen über Legenden, Totentanzaufführungen in der restlichen Welt über Totentanzdarstellungen in der Kunst bis hin zu seiner Bedeutung im 20. Jahrhundert. Eine Bibliografie und ein Verzeichnis der Totentänze im deutschsprachigen Raum rundet das mit 82 Farb- und 117 Schwarzweißabbildungen herrlich anschauliche Werk ab.