Maarten ´T Hart - „In unnütz toller Wut“

Sonntag, 21. Juni 2009

(Piper, 348 S., HC)
Das Leben im südholländischen Örtchen Monward treibt wie ein langer ruhiger Fluss so dahin. Unruhig wird es erst, als die junge und fesche Fotografin Lotte Weeda auftaucht und den ehrgeizigen Plan umzusetzen gedenkt, die zweihundert markantesten Gesichter des Dorfes für einen Fotoband zu fotografieren. Viele der katholischen, oft abergläubischen Einwohner haben so ihre Bedenken, vor allem Taeke Gras, der unter keinen Umständen sein Gesicht mit einem Blatt Papier teilen möchte, oder Abel, der plötzlich von dem Wahn befallen wird, dass seine Kinder nicht von ihm seien, aber letztlich erliegen sie allesamt Lottes Charme.
Auch der Ich-Erzähler, ein ehemaliges Mitglied des Führungsstabs der Abteilung für Evolutionäre und Ökologische Wissenschaften, leidenschaftlicher Musikliebhaber und Hobby-Schriftsteller, lässt sich dafür einspannen, das Vorwort zu „Verschlusszeiten“ zu schreiben. Wirklich turbulent geht es allerdings in Monward zu, nachdem Lotte Weeda wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint, als ihr Buch erscheint und einer der Portraitierten nach dem anderen stirbt. Die meisten Einwohner wollen an einen Zufall nicht glauben, auch wenn es sich zumeist um ältere Menschen handelt, die Lotte fotografiert hat. Dieses Unbehagen bekommt vor allem der Erzähler zu spüren, der sich indes von einigen attraktiven Frauen wie der Malerin Molly oder Sirena aus dem Schönheitssalon umgarnt sieht… Herrliche Posse über den Aberglauben, die Eitelkeit, Liebe und Lust.

Sam Shepard - „Der große Himmel“

Samstag, 20. Juni 2009

(S. Fischer, 157 S., HC)
Der 1943 geborene Sam Shepard hat sich nicht nur als hervorragender Schauspieler („Die Akte“, „Fool For Love“) auf sich aufmerksam machen können, sondern sich auch als Regisseur, Drehbuchautor („Paris, Texas“) und vor allem Theaterautor einen Namen gemacht und wurde bereits mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Seit 1977 erscheinen seine Geschichten auch in Buchform. „Der große Himmel“ ist sein fünfter Prosa-Band, in dem er sich einmal mehr mit dem kleinen Mann und seinen Ängsten und Sehnsüchten auseinandersetzt.
Auf gerade mal 157 Seiten finden sich 18, gelegentlich gerade mal zwei Seiten kurze Geschichten, in denen die Protagonisten Abschied von ihren Träumen nehmen oder unfähig sind, ihre zwischenmenschlichen Konflikte zu lösen, geschweige denn ihre eigene innere Zerrissenheit zu heilen. Dabei schwanken die Stories zwischen rührender Komik und Absurdität. Da flüchtet in „Coalinga auf halbem Weg“ ein Mann vor Frau und Kind zu einer anderen Frau, wie schon so oft zuvor, doch seine neue Geliebte, zu der er unterwegs ist, ist bereits dabei, mit ihrem Mann ebenfalls weiterzuziehen. In „Das blinkende Auge“ macht sich eine Frau mit der großen, grüne Urne, in der sich die sterblichen Überreste ihrer Mutter befinden, auf den Weg zur Familientrauerfeier in Green Bay und nimmt dabei einen am Straßenrand verletzt liegenden Bussard mit, der mit dafür verantwortlich zeichnet, dass sich die Asche der Mutter im ganzen Auto verteilt. „Die Botschaft leben“ erzählt die Geschichte eines Reisenden, der in einem Fast-Food-Restaurant auf das Schild „Leben ist das, was passiert, während du irgendwelche Pläne machst“ aufmerksam wird und unbedingt den Autoren kennen lernen will. So reiht sich eine irrwitzige, warmherzige Episode aus den zivilisationsfernen amerikanischen Dörfern an die andere.

Adam Thirlwell - „Strategie“

(S. Fischer, 320 S., HC)
Der von der Presse allseits gefeierte Debütroman des 26-jährigen Oxford-Absolventen Adam Thirlwell beginnt damit, dass Moshe seiner Freundin Nana (die eigentlich Nina heißt, aber da sie als Baby nicht Nina sagen konnte, sondern nur Nana, hieß sie eben fortan Nana) pinkfarbene, plüschbesetzte Handschellen anlegen will, die aber zu groß für Nanas schmale Hände sind, also nimmt er stattdessen das pinkfarbene Bondageseil.
Alles muss richtig arrangiert sein, schließlich ist Sex eine ernste Sache. Zumindest nehmen Moshe und Nana den Sex sehr ernst. Als die geplante Penetration in Nanas Arsch aber nicht gelingt und Moshe stattdessen in die für den Geschlechtsverkehr vorgesehene Öffnung rutscht, ist das nur eine weitere von vielen kleinen Katastrophen. Denn auch die vorherigen Experimente wie Oralverkehr, Rollenspiele, Lesbianismus, Undinismus, Dreier und Fisten waren nicht wirklich von Erfolg gekrönt. Problematisch wird es, als Nanas Freundin Anjali mit ins Spiel kommt, erst mit Nana eine Affäre (aber unter Moshes Aufsicht) anfängt und dann so guten Sex mit Moshe hat, dass sich Nana von Moshe trennt. Der versteht die Welt nicht mehr… Adam Thirlwell betont zwar immer wieder, dass es in seinem Buch nicht um Sex geht, aber er macht auf witzige Weise deutlich, wie wichtig Sex für eine funktionierende Beziehung offenbar ist und wie schwierig es ist, guten Sex zu haben.

Benjamin Prado - „Als einer von uns Laura Salinas töten wollte“

Freitag, 19. Juni 2009

(Luchterhand, 190 S., HC)
Um seinem Traum von einem besseren Leben Ausdruck zu verleihen, sieht sich der Versicherungsangestellte Alcaén Sanchez teure zum Verkauf stehende Häuser an, die er sich zwar nie im Leben leisten kann, doch liebt er das Spiel mit der Identität eines wohlhabenden Mannes – bis er eines Tages der schönen Immobilienmaklerin Laura Salinas begegnet. Dieser Frau verfällt Sanchez dermaßen, dass er sogar mit dem Gedanken spielt, den Tresor seines Arbeitgebers auszurauben, um seiner Angebeteten das Leben zu bieten, das sie seiner Meinung nach verdient.
Tatsächlich verabredet er sich einige Male mit Laura, doch als es zur Unterzeichnung der Papiere für den Hauskauf kommen soll, zieht Sanchez den Geldraub, den er bereits so minutiös vorbereitet hat, doch nicht durch und gesteht Laura seine wahre Identität. Entsetzt zieht sich Laura von dem verzweifelten Verehrer zurück und bringt auf einmal einen gewalttätigen Ehemann ins Spiel, den Sanchez gewillt ist, aus dem Wege zu räumen. Derweil schreibt sein Freund Iker Obáiz an einem Roman, der nicht so recht vorankommen will, und bittet Sanchez darum, Ereignisse aus seinem Leben verwenden zu dürfen, um die Geschichte voranzutreiben. Der Arzt Ángel Biedma versorgt ihn dabei ständig mit Ideen und schmückt Episoden aus Sanchez’ Leben entsprechend aus. Als es schließlich zur Katastrophe kommt, fragt sich der Leser, welche Motive jeder der drei Freunde gehabt haben könnte… Benjamin Prado gibt als allwissender Erzähler erst nach und nach die pikanten Details der ungewöhnlichen Männerfreundschaft preis und sorgt mit allerlei Finten für kurzweilige Unterhaltung.

Benjamin Prado - „Nicht nur das Feuer“

(Luchterhand, 240 S., HC)
Als sich die rassige wie schöne Studentin Ruth in den jungen, wilden und radikalen Studentenführer Samuel verliebte, war das der Anfang einer feurigen Liebe, die mit vielen Träumen und Hoffnungen für die Zukunft verbunden gewesen ist. Etliche Jahre später scheint jeder Funken des ehemaligen Feuers vollkommen erloschen. Der damals so beliebte wie gefürchtete Samuel konnte die Hoffnungen in sein Talent nie erfüllen und nervt Ruth nun mit seiner zunehmenden Kleinlichkeit.
Beide fragen sich, wohin der Zauber ihrer Liebe entschwunden ist. Während Samuel sich Hoffnungen macht, die Beziehung wieder ins Lot zu bekommen, überlegt Ruth bereits, wie sie ihm beibringen soll, dass sie ihn verlassen wird. Doch gerade dann wird ihr Sohn Maceo von einem Blitz getroffen und lässt sich am Krankenbett tagelang die schönen Geschichten seines Großvaters Truman erzählen, der noch immer seiner Geliebten Cecilia nachtrauert. Derweil plagt Samuels und Ruths Tochter Marta heftigster Liebeskummer. Ihr Freund Lucas, für den sie alles tun würde, scheint nichts mehr von ihr wissen zu wollen, und schlägt sie auch noch. Auf einmal sehen Samuel und Ruth wieder eine Chance für ihre Liebe. Der spanische Autor Benjamin Prado, der bereits mit Raymond Chandler und Paul Auster verglichen wird, erzählt die Krise einer Liebe auf rasant episodenhafte Weise, dass einem anfangs etwas schwindelig wird. Schade, dass nach 240 Seiten schon wieder Schluss ist.

DBC Pierre - „Jesus von Texas“

Donnerstag, 18. Juni 2009

(Aufbau, 384 S., HC)
Eigentlich wäre die Lebensgeschichte von DBC Pierre allein schon ein Buch - oder besser noch – einen Film wert. Der 42-jährige Australier heißt eigentlich Peter Warren Finlay und führte bis vor einigen Jahren ein wildes Leben jenseits aller Legalität, schlug sich als Grafiker, Schmuggler, Filmemacher und Schatzjäger eher erfolglos durch, machte immense Schulden und betrog etliche Frauen – bis er sich zu einem Lebenswandel entschloss, sich in D(irty) B(ut) C(lean) Pierre umbenannte und noch Irland zog, wo er seinen mittlerweile vielfach prämierten Debütroman „Jesus von Texas“ schrieb.
Der 15-jährige Vernon Gregory Little wird in ein Massaker verwickelt wird, bei dem sein bester Freund Jesus Navarro in der texanischen Kleinstadt Martirio 16 Mitschüler, einen Lehrer und am Ende sich selbst erschießt. Vernon war unterwegs, für seinen Lehrer eine Besorgung zu erledigen und entkam so dem Massaker. Als Überlebender scheint er für diesen Umstand nun büßen zu müssen und wird wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Schnell wird klar, dass ich Vernon wie Jesus auf der Verliererstraße befindet. Falsche Beweise, falsche Beschuldigungen, eine überambitionierte Polizistin, schon steckt Vernon in Untersuchungshaft und in einem noch größeren Schlamassel. Seine Flucht nach Mexiko und der große Medienrummel tun ihr Übriges, dass sich die Schlinge um Vernons Hals immer enger zieht… DBC Pierre nimmt mit beißendem Humor gleich mehrere wunde Punkte der amerikanischen Gesellschaft aufs Korn: das Schulmassaker, die Todesstrafe, die Gier der Medien nach Sensationen und beschreibt auf lakonische Art und Weise, wie die sozial Minderbemittelten in dieser unerbittlichen Mühle untergehen.

Nino Filastò - „Fresko in Schwarz“

(Aufbau, 280 S., HC)
Der Florentiner Anwalt Corrado Scalzi gilt als Alter ego des ebenfalls in Florenz lebenden Rechtsanwalts und Krimiautors Nino Filastò, der seinen Avvocato Scalzi bereits vier knifflige Fälle lösen ließ. Auch sein neuer Auftrag lässt sich mit konventionellen Polizeimethoden, denen Scalzi wie überhaupt dem juristischen Apparat sehr skeptisch gegenübersteht, kaum lösen. Der in ärmlichen Verhältnissen lebende Bibliothekar Jacopo „Ticchie“ Branca, ein Experte für das alte Florenz, wird nämlich eines Tages über einem Buch aus dem 17. Jahrhundert erdrosselt in der kleinen Kammer einer Bibliothek aufgefunden, in die er sich während seiner Recherchen stets einsam zurückzog.
Doch in letzter Zeit teilte er den Arbeitsplatz mit einem weiteren Bibliothekar, Signor Chelli, der Branca murmeln hörte, dass ihn die Erkenntnisse aus dem Buch zum Millionär machen könnten. Chellis Bemühungen, bei der Polizei seine Aussage protokollieren zu lassen, fruchten wenig. Stattdessen stellt Scalzi eigene Forschungen über die Bedeutung des Buches und den kryptischen handschriftlichen Notizen des Ermordeten an, die ein befreundetes Mädchen aus der Nachbarschaft in Ticchies Wohnung gefunden hatte. Das unter einem Pseudonym von einem Rechtsgelehrten aus Bologna verfasste Buch beschäftigt sich mit einem alten Manuskript, das im florentinischen Gefängnis „Le Stinche“ von zwei Verfassern geschrieben wurde und die Umstände des Todes des großen Künstlers Masacchio zum Inhalt hatte, über dessen Lebensende so gut wie nichts publik geworden ist. Darin wird nicht nur beschrieben, dass Masacchio vergiftet worden ist, sondern auch einer Geheimgesellschaft namens „Fedeli d’Amore“ vorstand, die der Heiligen Römischen Kirche in ihrem Inquisitionswahn natürlich ein Dorn im Auge war. Scalzi muss aber erst die letzten beiden dem Buch entrissenen Seiten ausfindig machen, ehe er das Geheimnis nicht nur von Brancas, sondern auch Masacchios Tod lösen kann… Spannendes, wunderbar die italienische Kultur einfangendes Renaissance-Pendant zu Umberto Ecos Mittelalter-Krimi „Der Name der Rose“.