Stewart O’Nan – „Das Glück der anderen“

Freitag, 4. September 2009

(Rowohlt, 221 S., HC)
Mitten in Wisconsin liegt die sterbende alte Bergarbeiterstadt Friendship, in der Jacob Hansen nicht nur als Sheriff, sondern auch noch als Leichenbestatter und Pastor tätig ist. An einem heißen Sommertag wird er von der kleinen Bitsi zu Hilfe gerufen. Old Meyer, ihr Vater, habe einen unbekannten Toten hinter seinem Bienenstock gefunden. Als Hansen zum Fundort radelt, kann er bei dem ausgemergelten Uniformierten keine offensichtliche Todesursache entdecken.
Er lässt den Toten zu Doc Guterson bringen und seinen Kollegen im benachbarten Shawano, Bart Cox, informieren, dass er nach Landstreichern Ausschau halten möge. Als der Doc die erschütternde Diagnose stellt, dass der Soldat an Diphtherie gestorben sei, muss Jansen an die Epidemie denken, die die halbe Bevölkerung von Endeavor vor ein paar Jahren dahingerafft hatte. Doch von einer Quarantäne will der Doc noch nichts wissen. Hansens Frau Marta will mit ihm und Tochter Amelia am liebsten weggehen, doch pflichtbewusst bleibt Hansen bei seiner Gemeinde, in der sich die Toten häufen. Bald bleibt auch Hansens Familie nicht von der Epidemie verschont, dazu nähert sich rasch ein Feuer von Norden, das mit rasender Geschwindigkeit durch die staubtrockenen Wälder fegt. Hansen muss sich zwischen dem Glück seiner Liebsten, der Verantwortung für seine Gemeinde und für die Menschen in den benachbarten Dörfern entscheiden …
Vor dem apokalyptischen Szenario einer vernichtenden Feuersbrunst und Epidemie stellt Stewart O’Nan in seinem 1999 veröffentlichten Roman „A Prayer for the Dying“ aus der Perspektive des verantwortungsbewussten Ich-Erzählers Jacob Hansen wesentliche Fragen nach den Werten sozialer Bindungen und religiöser Ideologie, nach dem Abwägen zwischen persönlichen Bedürfnissen und der Verantwortung für die Gemeinschaft. Ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, regt O’Nan den Leser zu tiefgründigen Fragen über die menschliche Natur an.

Stewart O’Nan - „Abschied von Chautauqua“

(Rowohlt, 700 S., HC)
Jahr für Jahr macht die Großfamilie Maxwell in ihrem Sommerhaus am Lake Chautauqua im Staat New York für eine Woche Urlaub. Nachdem nun Emilys Mann Henry gestorben ist, soll das Haus verkauft werden, und so finden sich zum letzten Mal die Hausherrin Emily, ihre Schwester Arlene, Emilys Tochter Meg mit ihren beiden Kindern Justin und Sarah, Emilys Sohn Ken mit seiner Frau Lise und den Kindern Sam und Ella zusammen, um sich von dem Haus zu verabschieden und Sachen, an denen man hängt, mitzunehmen. Doch schnell wird deutlich, wie schwierig die Beziehungen untereinander geraten sind. Die Alkoholikerin Meg wurde von ihrem Mann Jeff wegen einer Jüngeren verlassen. Ken, leidenschaftlicher, wenn auch untalentierter Fotograf und stets auf der Suche nach dem passenden Motiv, hat seinen Job verloren und weiß nicht, wie er mit seiner Frau und den Kindern über die Runden kommen soll.
Anstatt sich seinem Problem zu stellen, verfolgt er wie besessen das Verschwinden einer jungen Angestellten von der Tankstelle, an der Ken auf dem Weg zum Sommerhaus getankt hatte. Und die wenig selbstbewusste Ella verliebt sich in ihre hübsche Cousine Sarah, die gerade von ihrem Freund Mark abserviert worden ist, aber schon wieder Ausschau nach einem Jungen in der Nachbarschaft hält … Stewart O’Nan hat die kleinen und großen Probleme der Maxwell-Familie mit großem psychologischen Feingefühl und voller Sympathie für seine Figuren beschrieben, so dass man niemandem wegen seiner Schwächen wirklich böse sein kann. Selten schreibt jemand mit so viel Verständnis über die einfachen Menschen wie O’Nan.

Jonathan Franzen - „Die 27ste Stadt“

(Rowohlt, 670 S., HC)
Mit seinem letzten Roman „Die Korrekturen“ ist dem amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen eine allseits gefeierte literarische Sensation gelungen, so dass jetzt auch endlich sein 1988 veröffentlichtes Debüt „Die 27ste Stadt“ endlich in deutscher Übersetzung erschienen ist, das bereits Zeugnis von Franzens außergewöhnlicher Erzählkraft ablegt. Er erzählt darin von den besonderen politischen und wirtschaftlichen Konflikten und Intrigen in St. Louis, jener einstmals vielversprechenden Metropole, die noch im Jahre 1870 die viertgrößte Stadt Amerikas war und aufgrund der Abwanderungen der Eliten und des wirtschaftlichen Abstiegs in den 80er Jahren nur noch auf Platz 27 rangierte.
Die Geschichte beginnt mit dem Amtsende von Polizeichef William O’Connell, dessen Nachfolger die 35-jährige Frau S. Jammu antritt, einer zwar in Amerika geborenen, aber lange Zeit der Polizei von Bombay vorstehenden Inderin, deren Auftritt in St. Louis mit großer Skepsis von Medien und Wirtschaftselite beobachtet wird. Unruhen machen sich schnell breit, als erst eine Autobombe explodiert, die beinahe Mr. Hutchinson, den Generalintendanten der Sendeanstalt KSLX das Leben gekostet hätte, dann eine Bombendrohung gegen das gefüllte Footballstadion im Stadtzentrum bei der Evakuierung mehrere Schwerverletzte fordert. Die Polizei ist jedoch ungewöhnlich schnell bei den Krisenherden und löst die Probleme souverän. Schon vermuten einige führende Köpfe der Stadt ein Komplott, und tatsächlich treibt Jammu ebenso ihre Machtspielchen wie die verschiedenen Immobilien-Spekulanten und Bauherren der Stadt. Franzen schildert nicht nur minutiös, amüsant und scharfsinnig die Intrigen, die eine amerikanische Metropole allmählich zugrunde richten, sondern auch das Schicksal der weißen amerikanischen Mittelschicht, die ihrer Träume beraubt wird.

Jonathan Franzen - „Schweres Beben“

(Rowohlt, 685 S., HC)
Seitdem Jonathan Franzen mit seinem Roman „Die Korrekturen“ für eine mittlere literarische Sensation auch hierzulande gesorgt hat, sind zunächst sein Erstling „Die 27ste Stadt“ und nun auch der 1992 verfasste Nachfolger „Schweres Beben“ ins Deutsche übersetzt worden. Der sehr üppige, detaillierte und verschachtelte Roman beginnt mit der Professorenfamilie Holland, die in Evanston, Illinois, aufwuchs, wo der Vater von Louis und Eileen als Professor für Geschichte an der Northwestern University beschäftigt war.
Mittlerweile hat es Eileen nach Cambridge gezogen und Louis gerade erst von Houston nach Somerville, einen ärmlichen Nachbarort von Cambridge, wo er als Radiomoderator jobbt. Da erhält er auch schon einen Anruf von seiner Großmutter Rita, die sich als Esoterikautorin einen Namen gemacht hat und mit der er sich gleich verabredet. Doch da erschüttert Boston ein Erdbeben und tötet Louis’ Großmutter. Was folgt, sind wütende Auseinandersetzungen über das Erbe und problematische Beziehungen zwischen Louis und Lauren einerseits und Louis und der durch das Erdbeben in die Stadt gekommene Seismologin Renée andererseits. Renée macht bald einen Chemiekonzern aus, der für die Erdbeben verantwortlich zu sein scheint, womit die Handlung des vielschichtigen Familienromans durch Krimi-Aspekte erweitert wird und auch eine komplizierte Liebesgeschichte und Weltuntergangsszenarien bereithält. Franzen erweist sich als stilsicherer Erzähler, der es mit seiner Gründlichkeit manchmal etwas zu genau nimmt.

Paul Auster - „Die Brooklyn Revue“

Mittwoch, 2. September 2009

(Rowohlt, 351 S., HC)
Nachdem der fast sechzigjährige ehemalige Versicherungsvertreter Nathan Glass die Scheidung von seiner Frau Edith hinter sich gebracht und das Haus in Bronxville verkauft hat, kehrt er nach 56 Jahren wieder in seine Heimat nach Brooklyn zurück. Dorthin will er sich zum Sterben zurückziehen, nachdem ihm Lungenkrebs diagnostiziert worden war, doch es bestehen gute Chancen auf Heilung.
Auch wenn seine 29-jährige Tochter Rachel insistiert, er solle sich eine Beschäftigung suchen, genügt es Nathan vorerst, fast täglich sein Mittagessen im Cosmic Diner einzunehmen, wo er sich hoffnungslos in die puertoricanische Kellnerin Marina verknallt hat, nimmt dann aber ein Projekt in Angriff, das er „Das Buch menschlicher Torheiten“ nennt, in das Nathan all seine begangenen Blamagen und Fehltritte einzutragen gedenkt. Bei einem Besuch im antiquarischen Buchladen „Brightman’s Attic“ trifft er zufällig seinen Neffen Tom Wood, dem Nathan eine grandiose akademische Karriere vorhersagte, der aber jahrelang Taxi gefahren war und schließlich bei Harry Brightman eine Anstellung in dessen Laden gefunden hat. Brightman kann auf ein schillerndes Leben verweisen, zu dem auch ein längerer Gefängnisaufenthalt zählt. Als Inhaber der Kunstgalerie „Dunkel Frères“ förderte er erfolgreich den Künstler Alec Smith und verkaufte nach dessen Tod weiterhin Bilder mit seinem Namen, die jedoch von einem anderen Künstler gefälscht wurden. Und schon plant Brightman den nächsten Coup, den Verkauf eines gefälschten Hawthorne-Manuskripts. Nathan rät dringend von dem Plan ab, doch Harry ist schon längst Feuer und Flamme für das ambitionierte Projekt … Gewohnt sprachgewandt und mit leisem Humor spinnt der Brooklyner Autor ein faszinierendes Geflecht von aneinander gereihten Torheiten.

Paul Auster - „Nacht des Orakels“

(Rowohlt, 286 S., HC)
Nachdem der 35-jährige Schriftsteller Sidney Orr im Januar 1982 an einer Subwaystation zusammenbricht, wird er mit inneren Blutungen, Knochenbrüchen, zwei Kopfverletzungen und neurologischen Schäden ins Krankenhaus eingeliefert. Nach einigen Wochen geben die Ärzte die Hoffnung auf, doch Sid hält durch und wird sogar nach vier Monaten aus dem Krankenhaus entlassen und von seiner bezaubernden Frau Grace liebevoll gepflegt. Als er wenige Monate darauf im „Paper Palace“ von Mr. Chang ein wundervolles blaues Notizbuch aus Portugal entdeckt, ist sogar seine Schreibblockade aufgehoben.
Die Geschichten strömen mit unglaublicher Leichtigkeit aus Sids Feder, enden aber immer irgendwie in einer Sackgasse. Er beginnt aber sogar ein Drehbuch für ein Remake von H.G. Wells’ „Die Zeitmaschine“ zu schreiben. Doch auf einmal beginnt sein gerade erst wieder in geordnete Bahnen gelenktes Leben aber ebenfalls wieder aus den Fugen zu geraten. Seine Frau benimmt sich äußerst merkwürdig, nachdem sie erfährt, dass sie schwanger ist, und bleibt sogar über Nacht fort. Mr. Chang kündigt ihm aus heiterem Himmel die Freundschaft, und Sid beginnt, merkwürdige Szenarien auch um seinen besten Freund, den berühmten Schriftsteller John Trause, zu spinnen… Paul Auster erweist sich einmal mehr als virtuoser Erzähler des Zufalls und geht der spannenden Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem „Vorher“ und dem „Nachher“ nach, der Möglichkeit, ob das Schreiben das Leben beeinflussen könne. „Wir leben in der Gegenwart, aber die Zukunft ist in jedem Augenblick in uns“, lässt Auster Trause am Ende sagen. „Vielleicht geht es beim Schreiben nur darum. Nicht Ereignisse der Vergangenheit aufzuzeichnen, sondern Dinge in der Zukunft geschehen zu lassen.“

Paul Auster - „Das Buch der Illusionen“

Dienstag, 1. September 2009

(Rowohlt, 384 S., HC)
Den Literaturprofessor David Zimmer kennen wir bereits aus Austers vorzüglichem Roman „Mond über Manhattan“. Mittlerweile ist er ein sehr einsamer, fast gebrochener Mann, der den Schmerz durch den Tod seiner Frau und seiner beiden Söhne nach einem Flugzeugabsturz mit Whiskey zu betäuben versucht. Vor ein paar Jahren schrieb er ein Buch über den Stummfilmkomiker und –regisseur Hector Mann, der im Januar 1929 spurlos verschwand. „Die stumme Welt des Hector Mann“ erschien 1988 – wenig später erhält Zimmer einen geheimnisvollen Brief, in dem ihm die Möglichkeit eröffnet wird, Hector Mann kennenzulernen.
 Es tauchen überall in der Welt längst für verschollen gehaltene Filme auf, und Zimmer setzt seine Lehrtätigkeit aus, um die Filme in Paris, London und in den USA zu betrachten. Mit neuem Lebenswillen macht er sich an die Übersetzung von Chateaubriands umfangreichen Memoiren, bis eines Abends eine Frau vor dem Haus des Professors auftaucht und ihn mit gezückter Pistole auffordert, sie nach New Mexico zu begleiten, um den im Sterben liegenden Hector Mann zu treffen. Zimmer tritt in eine mysteriöse Welt aus Liebe und Leidenschaft, Kunst und Täuschung. Paul Auster erweist sich mit seinem neuen Roman wieder mal als brillanter Geschichtenerzähler, der trotz aller liebevoll geschilderter melancholischer Stimmungen stets auch Hoffnungsschimmer zu transportieren versteht, die sich hinter all den rätselhaften Ereignissen verbergen, deren Zeuge nicht nur der Protagonist des Romans, sondern auch der Leser wird.