Tom Wolfe - „Ich bin Charlotte Simmons“

Freitag, 27. November 2009

(Blessing, 791 S., HC)
Tom Wolfe zählt nicht unbedingt zu den produktivsten Schriftstellern. Der preisgekrönte Sachbuchautor erzielte 1987 mit seinem Romandebüt „Fegefeuer der Eitelkeiten“ gleich einen von Brian de Palma verfilmten Hit. Nun liegt mit „Ich bin Charlotte Simmons“ erst sein dritter Roman vor. Der aber hat es in sich. Auf fast 800 Seiten gewährt er tiefe Einblicke in das rege, absolut nicht standesgemäße Treiben auf einer amerikanischen Elite-Uni.
Die junge, überaus strebsame Charlotte Sometimes ist die erste aus dem 900-Seelen-Kaff Sparta in North Carolina, die ein Stipendium für die traditionsreiche Dupont University in Pennsylvania erhält. Doch schon beim Einzug in die Freshmen-Unterkunft wird Charlotte etwas mulmig zumute. Ihre Zimmergenossin Beverly spielt fraglos in einer ganz anderen Liga. Schon früh schleppt sie Jungen ab und schickt Charlotte ins „Sexil“. Dabei wurde ihr von der Resident Assistant Ashley doch gesagt, dass diese Art von „Heimzest“ allgemein ziemlich verpönt sei. Auch das strikte Alkoholverbot wird bei jeder Gelegenheit mühelos umgangen. Während sich die unbedarfte Charlotte in den Waschräumen der gemischten Unterkunft nur noch ekelt, fühlt sie sich bald ziemlich allein und wird so doch empfänglicher für die Annäherungsversuche drei ganz unterschiedlicher Männer. Da ist auf der einen Seite der fast schon berühmte Basketballstar Jojo, der es als einziger Weißer in die Startmannschaft des Teams geschafft hat, seine Aufsätze aber von seinem Tutoren Adam schreiben lassen muss, weil er einfach nichts in der Birne hat. Adam wiederum nähert sich Charlotte als einer der wenigen, wie er glaubt, Intellektuellen auf dem Campus, während Hoyt der allgemeine Mädchenschwarm ist, der schon darum wettet, die Frauen in sieben Minuten rumzukriegen … Tom Wolfe beschreibt seine Charaktere sehr präzise, ebenso das soziale Umfeld und die Gepflogenheiten von Sex, Drugs und Rap. Das ist höchst amüsant zu lesen und kann durchaus als treffendes Portrait der amerikanischen Jugendkultur gelten.

David Schickler - „Fette Klunker“

(Blessing, 288 S., HC)
Dass der Verbrecherbande Floyd, Roger und Henry auf dem Weg zu einem Auftrag, den sie für ihren Boss Honey Pobrinkis ein Bussard in die Windschutzscheibe kracht, mutet schon wie ein schlechtes Omen an. Tatsächlich läuft die geplante Aktion, Honeys Diamantenhändler Charles Chalk wieder die so genannten „Planeten“, eine Reihe von sieben perfekt in Form der sieben 1790 bekannten Planeten geschliffenen Diamanten, abzunehmen, die er Honey geklaut hatte. Als Roger sich an Charles’ heiße Braut Helena heranmacht, schlägt Henry erst Roger zusammen und geht dann selbst mit dem Diamantenkoffer stiften. Auf seiner Flucht macht der 32-jährige Gauner die Bekanntschaft der abgedrehten Grace McGlone, die im Alter von 14 Jahren die Orgasmen ihrer zwei Jahre älteren Freundin überwachen musste und dann wenig später selbst von Reverend Bertram Block in seinem Wohnwagen entjungfert wurde.
Während Honey sich selbst mit seinen Männern an Henrys Fersen, verfolgt Grace ihre ganz eigenen Pläne. Noch an dem Tag, an dem sie Henry kennen lernt, suchen die beiden einen Priester auf, der die beiden traut, damit Henry die gottesfürchtige Grace endlich vögeln kann. Sie nimmt Henry das Versprechen ab, dass sie sowohl Reverend Block als auch Graces Jugendfreund Stewart aufsuchen, doch vorher kommt es bereits zur Konfrontation mit den Pobrinkis-Jungs… Schickler ist mit „Fette Klunker“ ein rasanter Road-Movie-Roman voller skurriler Typen, erfrischendem Humor, netter Prügel-Action und natürlich viel Sex gelungen.

Cees Nooteboom - „Paradies verloren“

Donnerstag, 26. November 2009

(Suhrkamp, 159 S., HC)
Eingerahmt in zwei Zitate aus John Miltons „Verlornes Paradies“ (womit schon mal ein Bezug zum Titel hergestellt wäre), erzählt der niederländische Erfolgsschriftsteller Cees Nooteboom in seinem neuen Roman die Geschichte von Alma, die mit ihrer langjährigen Freundin Almut in Brasilien lebt, wohin ihre beiden Väter nach dem Krieg ausgewandert sind.
Als Alma eines Abends in einem schlimmeren Viertel von Sao Paulo vergewaltigt wird, unternehmen die beiden Freundinnen eine Reise in das Land ihrer Kindheitsträume, Australien, wo sich Alma in einen Aborigines-Künstler verliebt und durch ihn in die Geheimnisse der Traumzeit eingeführt wird. Schließlich reisen die beiden Frauen nach Perth, wo Alma an einem Angel Project teilnimmt, sich als Engel verkleidet und an einem bestimmten Ort darauf wartet, von den Besuchern entdeckt zu werden. Vor allem der holländische Literaturkritiker Erik Zondag, der in Perth Abstand zu seinen Alltagsproblemen zu gewinnen sucht, ist von der Engelsgestalt besonders angetan und bringt so auch Alma ins Leben zurück … Wundervoll poetischer Roman über die Macht der Phantasie und die Magie der Engel.

Asko Sahlberg - “Die Stimme der Dunkelheit”

Mittwoch, 25. November 2009

(Luchterhand, 256 S., HC)
Der namenlose Ich-Erzähler in Asko Sahlbergs prämierten Debütroman hat sich scheinbar ganz aus der realen Welt verabschiedet. Nachdem er das geerbte Anzeigenblättchen in seiner schwedischen Heimat verkauft und seine Frau Ursula verlassen hatte, wanderte er nach Finnland aus, um dort seine Ersparnisse langsam aufzubrauchen und gelegentlich für einen finnischen Bauunternehmer zu jobben, nur um ab und zu mal was zu tun zu haben.
Er schläft tagsüber, um mit dem Leben der anderen so wenig wie möglich in Berührung zu kommen. Und obwohl er die Anonymität in einer Großstadt gesucht hat, wo ihn niemand kennt, kann er sich doch nicht ganz dem Leben entziehen. Er macht die Bekanntschaft seiner arbeitslosen Nachbarin Karin, einer Dänin, die sich von einem reichen Schweden aushalten lässt und das sexuelle Abenteuer sucht. Und er lernt auch die verzweifelte Anna kennen, die unfreiwillig ihre finnische Heimat verlassen musste und sich aufgrund der Verständigungsprobleme so einsam in Finnland fühlt. Wider Erwarten kümmert er sich um die beiden Frauen, empfindet Sehnsüchte und Anteilnahme und findet letztlich doch seinen Platz im urbanen Treiben der Stadt, die für ihn anfangs nicht mehr als eine Mülldeponie war. Sahlberg schildert eindringlich Empfindungen von Einsamkeit und Mitgefühl und drückt stimmungsvoll das großstädtische Seelenleben unserer Zeit aus.

David R. MacDonald - „Die Straße nach Cape Breton“

(S. Fischer, 352 S., HC)
Nach einigen Autodiebstählen wird Innis Corbett nach Kanada ausgewiesen, obwohl er dort nur die ersten drei Jahre seines Lebens verbracht hatte. Ohne Geld in der Tasche macht er sich auf den Weg zu seinem Onkel Starr, der in einem verschlafenen Nest in den Wäldern von Cape Breton eine kleine Fernsehreparaturwerkstatt unterhält. Schon auf der Reise per Anhalter klaut Innes junge Föhren-Pflanzen, um sie in den Wäldern zum Schutz seiner geplanten Marihuana-Plantage anzubauen.
Es dauert nicht lange, da wird Innis schon wieder auffällig. Ohne rechte Motivation sägt er eine ausgewachsene Föhre in der Nähe seines neuen Zuhauses ab und wird dabei von einem Mann namens Finlay gestellt, der ihn mit zu sich nach Hause nimmt. Um den Schaden wieder gut zu machen, wird er von Finlays hellsichtigen Vater Dan Rory für einige Jobs eingeplant. Kein Problem für Innes, solange er nach wie vor Zeit findet, sich um seinen großen Traum zu kümmern, den Anbau seiner Marihuana-Plantage. Die Beziehung zu seinem Onkel Starr gestaltet sich indes schwierig. Ohnehin nicht besonders erfreut über die Zwangseinquartierung, wird das familiäre Verhältnis auch noch durch die Claire, einer attraktiven Frau Ende Dreißig, aus dem Gleichgewicht gebracht. Die aufkommenden Verdächtigungen und Rivalitäten zwischen den beiden Männern steuern letztlich auf einen gefährlichen Höhepunkt zu. MacDonald zeichnet seine Figuren psychologisch sehr eindringlich und beschreibt ihre Träume, Ängste und Leidenschaften vor dem Hintergrund einer ebenso geheimnisvollen Landschaft.

Carl-Johan Vallgren - „Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe“

(Insel, 377 S., HC)
Der Titel des neuen Romans des schwedischen Autors Vallgren, der viele Jahre in Berlin gelebt hat, macht neugierig. Was kann an einer Liebe „ungeheuerlich“ sein? Das Rätsel wird schnell gelüftet: Als Doktor Götz in einer unbarmherzigen Winternacht des Jahres 1813 ins prominenteste Bordell Königsberg gerufen wird, soll er gleich zwei Frauen entbinden. Das eine unglückliche Mädchen liegt seit vierzig Stunden in den Wehen und bringt eine Missgeburt zur Welt, ehe sie - erschöpft von der schwierigen Geburt – stirbt: einen verkrüppelten Jungen mit einem riesigen Kopf ohne Ohren und Gehörsinn, verstümmelten Armen und Händen, eigentlich zu einem frühen Tode bestimmt, doch wie durch ein Wunder bleibt das hässliche Kind, Hercule Barfuss mit Namen, am Leben.

Das zweite Kind wird ohne Komplikationen geboren, ein hübsches, groß gewachsenes Mädchen, das auf den Namen Henriette Vogel getauft wird. Die beiden Kinder wachsen gemeinsam auf und lieben sich inniglich. Im Alter von zehn Jahren soll Henriette versteigert werden, nachdem eine Frau des Etablissements bestialisch zugerichtet wurde und die Kunden abschreckt. Die Wege der beiden Kinder trennen sich. Hercule entwickelt unglaubliche Fähigkeiten, lernt mit seinen Füßen Orgel zu spielen und kann vor allem Gedanken anderer Leute lesen. Das macht ihm vor allem in den Augen der Kirche verdächtig. Nach einem Aufenthalt im Irrenhaus kommt Hercule in die Obhut des liebenswürdigen Mönchs Julian Schuster, kann sich dann aus den Fängen der wiederbelebten Inquisition befreien und verdingt sich bei dem Wanderzirkus unter dem Direktor Barnaby Wilson, einem kleinwüchsigen Zyklopen, der wie Hercule die Gabe des Gedankenlesens beherrscht. Von ihm lernt Hercule die Ideen der frühen Sozialisten und die Schätze der romantischen Literatur und Kunst. Das Ziel seiner aufregenden Reise bleibt aber Henriette. Fest davon überzeugt, dass auch sie ihn sucht, hält allein der Gedanke an die Liebe zu ihr, ihn am Leben... Eine bewegende wie turbulente Liebesgeschichte in historisch unruhigen Zeiten!

José Carlos Somoza - „Die dreizehnte Dame“

Samstag, 21. November 2009

(Claassen, 496 S., HC)
Als der arbeitslose Literaturdozent Salomón Rulfo jede Nacht von dem gleichen Albtraum heimgesucht wird, in dem er Zeuge von drei bestialischen Morden in einer Villa wird, vertraut er sich einem Arzt an, der Rulfo sogar begleitet, als die von ihm geträumte Villa in den Nachrichten als Schauplatz eben genau des Verbrechens erwähnt wird, das Rulfo in seinen Albträumen heimsucht. Als er später das Haus noch einmal aufsucht, trifft auf die junge Prostituierte Raquel, deren Träume sie ebenfalls zu dem Haus geführt haben. Bei der gemeinsamen Durchsuchung des Hauses fällt Rulfo auf, dass die ermordete Hausbesitzerin Lidia Garetti ebenso wie er selbst die Dichtkunst liebt.
So richtig mysteriös wird es aber, als Rulfo seinen alten Literatur-Professor César Sauceda aufsucht, dem er einen Zettel zeigt, den er in dem Haus gefunden hat und auf dem ein Vers aus Dantes „Inferno“ geschrieben steht. Sauceda erzählt darauf erschrocken die Geschichte von seinem Großvater, der diesen Zettel geschrieben hat – und von einem Essay, das nachzuweisen versucht hat, dass eine Sekte von dreizehn Damen als Musen Dichter wie Petrarca, Shakespeare, Hölderlin, Milton, Keats, Blake und Borges inspiriert haben sollen, die dreizehnte Dame aber nie erwähnt werden durfte. Mit immer gefährlicheren, geheimnisvolleren Ereignissen konfrontiert, begreift Rulfo, dass er unbedingt die dreizehnte Dame finden muss, um nicht weniger als die Welt zu retten… Wunderbar poetischer Roman um die Macht der Sprache, dazu ebenso geheimnisvoll und spannend!