Robert Ludlum (mit Eric Van Lustbader) – „Die Bourne-Intrige“

Sonntag, 30. Januar 2011

(Heyne, 574 S., HC)
Durch die Affäre um Geheimdienstzar Luther LaValle ist der amerikanische Verteidigungsminister Bud Halliday arg in Bedrängnis geraten. Nun hofft er durch einen außergewöhnlichen Coup wieder seine Position an der Seite des Präsidenten zu stärken. In München handelt er mit Boris Karpow, einem hohen Oberst bei der russischen Antidrogenbehörde FSB-2, einen Deal aus: Karpow bietet Halliday an, Jason Bourne zu beseitigen, der ohnehin auf der Abschussliste des amerikanischen Militärgeheimdienstes steht, dafür sollen die Amerikaner mit Abdulla Khoury den Führer der Östlichen Bruderschaft ausschalten. Karpow liefert sogar die dringend benötigten Beweise für die terroristischen Aktivitäten der Bruderschaft, die den Amerikanern bislang fehlten, um gegen sie vorgehen zu können.
Allerdings hat Halliday gar nicht mit Karpow verhandelt, sondern mit Bournes geschickt maskierten Erzfeind Leonid Arkadin, der entgegen Bournes Annahme den eigentlich tödlichen Sturz vom LNG-Tanker überlebt hat und nun erneut Jagd auf Bourne macht und ihn auf Bali mit einem gezielten Schuss niederstreckt. Doch Bourne überlebt mit Glück das Attentat und nutzt die Annahme von seinem Tod dazu, sich seinerseits an Arkadins Fersen heftet. Doch darüber hinaus plagt Bourne noch immer die Ungewissheit über seine wahre Identität.
„Er hatte sich noch nie befreit gefühlt, weder von der Bourne-Identität, die er von Alex Conklin bekommen hatte, noch von der quälenden Unvollkommenheit des Menschen, den er als David Webb kannte. Wer war Webb überhaupt? Tatsache war, dass er es nicht wusste – oder genauer gesagt, dass er sich nicht erinnern konnte. Gewiss, einzelne Bruchstücke waren von Psychologen zusammengesetzt worden, und es kam immer wieder vor, dass irgendein Detail explosionsartig aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervorbrach. Dennoch war er der Wahrheit über seine Vergangenheit um nichts näher gekommen – und es war von einer gewissen Ironie, vielleicht sogar von einer gewissen Tragik, dass er manchmal das Gefühl hatte, Bourne viel besser zu verstehen, als er Webb verstand.“ (S. 97 f.)
Allerdings wird dieser nach wie vor spannenden Frage nach Bournes Vergangenheit nicht weiter nachgegangen. Stattdessen muss der Abschuss eines amerikanischen Jets über ägyptischem Boden mit einer iranischen Kowsar-3-Rakete aufgeklärt werden. Für Verteidigungsminister Halliday scheint der Zeitpunkt gekommen, den Iran massiv zu bekämpfen. Da die CI-Chefin Veronica Hart einem Attentat zum Opfer fällt, verfolgt er außerdem weiterhin seinen ehrgeizigen Plan, die Geheimdienste zu vereinen. Doch Soraya Moore, die die CI-Sonderabteilung zur Terrorbekämpfung anführt, kommt mit Moira und Bourne einer viel umfangreicheren Verschwörung auf die Spur …
Da Robert Ludlum im März 2001 verstorben ist, kann man nur vermuten, wie viel von ihm selbst noch an den posthum veröffentlichten Werken stammt. Jedenfalls wird man bei der Reihe um den Superagenten Jason Bourne den Eindruck nicht los, als sollen die allzu komplexen Handlungsstränge und Verschwörungen darüber hinwegtäuschen, dass es nicht mehr allzu viel Neues zu erzählen gibt. Noch immer soll der US-amerikanische Geheimdienst unter eine Führung gestellt werden, noch immer kämpft Jason Bourne mit einigen wenigen Verbündeten darum, die wirklich ganz doll Bösen auszuschalten. Dies gelingt ihm natürlich auch unter widrigsten und mittlerweile zunehmend unglaubwürdigsten Umständen in „Die Bourne Intrige“.
Spannend, tempo- und actionreich ist der verzwickte Kampf gegen die amerikanischen, iranischen und russischen Schurken aber nach wie vor.
Lesen Sie im Buch: Ludlum, Robert - Die Bourne Intrige

Christoph Maria Herbst – „Ein Traum von einem Schiff“

Samstag, 29. Januar 2011

(Scherz, 208 S., HC)
Als Bernd Stromberg, eine Art asozialer wie inkompetenter Bürovorsteher einer Kölner Versicherung, hat Christoph Maria Herbst für Furore in der Comedy-Landschaft gesorgt. Die der britischen „The Office“-Serie nachempfundene Büro-Satire hat es immerhin auf vier Staffeln gebracht. Seitdem hat sich Herbst als unorthodox ermittelnder Kommissar in „Kreutzer kommt“ betätigt und – als Schriftsteller.
In „Ein Traum von einem Schiff“, das als „eine Art Roman“ untertitelt ist, beschreibt der beliebte Comedy-Star nämlich, wie es zu seinem Engagement für die seit 1981 enorm quotenträchtige Reise-Soap „Das Traumschiff“ gekommen ist und was er alles Abenteuerliches erlebt hat, beginnend mit dem Anruf seiner Agentin und dem Casting im Berliner Kempinski Hotel, wo er „Traumschiff“-Macher Wolfgang Rademann ganz anders kennenlernt, als er sich vorgestellt hat. Herbst sagt zu, macht sich aber nicht die geringsten Illusionen, was seinen Job angeht.
„Von jeher zeichnen sich die Spieler der Rollen in Soaps – und das Traumschiff ist nichts anderes als eine Soap, wenn auch im kolonialistischen Stil – vor allem dadurch aus, dass sie eben nicht mit dem Anderen spielen, sondern ausschließlich mit sich selbst, was dem Erfolg dieses neben der Sendung mit der Maus und dem Leopard-Panzer größten deutschen Exportschlagers allerdings keinen Abbruch tut; bei dieser Serie ging es ja immer schon darum, besonderes Augenmerk auf das Abfotografieren der attraktiven Motive zu verwenden und die Akteure auf eine Weise dorthineinzunageln, dass sie möglichst wenig stören, getreu dem Motto: Location vor Drehbuch!“ (S. 40)
Das ist sicher ebenso keine Überraschung wie viele andere Klischees, die Herbst bestätigt, aber er beschreibt das Stürmen der Buffets, die Dummheit seiner Kollegen, die oft beängstigenden Begegnungen mit „Stromberg“-Fans und die Katastrophen in den Hotels und auf dem Schiff eben so amüsant wie selbstironisch, dass sich der Reisebericht durchweg kurzweilig weglesen lässt. Es ist nicht das „Meisterstück der literarischen Reportage“, als das David Foster Wallace‘ ganz ähnlich entstandene Reportage „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ gefeiert worden ist, doch erweist sich Christoph Maria Herbst durchaus als gut beobachtender, erfrischend humorvoller Erzähler absurder Episoden eines unvergesslichen „Traumschiff“-Abenteuers.

Willy Vlautin – „Motel Life“

Sonntag, 23. Januar 2011

(Berlin Verlag, 207 S., Pb.)
Frank Flannigan ist eigentlich zu besoffen, um noch irgendetwas zu merken, aber dass eine Ente durch das Motelzimmer im dritten Stock geflogen und vor seinen Füßen verendet ist, bekommt er doch mit. Schließlich herrschen draußen klirrende Minus fünfzehn Grad. Die Ente wird kurzerhand wieder aus dem Fenster geschmissen, die Heizdecke voll aufgedreht und dann weitergepennt. Doch wenig später steht Franks älterer Bruder Jerry Lee vor dem Bett und heult sich die Seele aus dem Leib.
Er erzählt, dass er sich nach einem Streit mit Polly Flynn betrunken ins Auto gesetzt habe und auf der Fifth Street morgens um vier Uhr bei heftigem Schneefall einen Jungen auf dem Fahrrad angefahren habe. Nun liegt er tot in eine Decke gehüllt auf dem Rücksitz seines Dodge Fury. Am nächsten Morgen beschließen die beiden Brüder, den Jungen, dem nicht mehr zu helfen ist, vor dem St. Mary’s Hospital abzulegen, von der Bank das letzte Guthaben zu holen und mit den knapp über dreihundert Dollar abzuhauen.
„Das Unglück, jeden Tag werden die Menschen damit geschlagen. Auf kaum etwas anderes kann man sich so sicher verlassen. Es ist immer im Spiel, die nächste Karte, die du aufnimmst, könnte das Unglück sein. Am meisten Angst macht mir, dass man nie genau weiß, wann es zuschlägt und bei wem. Aber an jenem Morgen, als ich die steifgefrorenen Arme des kleinen Jungen hinten im Wagen sah, da wusste ich, das Unglück hatte meinen Bruder und mich gefunden. Und wir, wir nahmen das Unglück und banden es uns wie einen Klotz ans Bein. Wir taten das Schlimmste, was man machen kann. Wir liefen weg. Wir stiegen einfach in seinen abgewrackten 1974er Dodge Fury und hauten ab.“ (S. 13 f.)
Mit einem vollen Tank, etwas Medizin gegen Franks Magenbeschwerden und genügend Alkohol machen sich die Jungs auf den Weg. Unterwegs werden Erinnerungen ausgetauscht, wie der spielsüchtige Vater früh abgehauen und die Mutter wenig später gestorben ist, wie man an verschiedene Jobs gekommen ist und sie wieder verloren hat, und Frank lässt sich immer neue Geschichten einfallen, um seinen Bruder zu unterhalten, auch als dieser sich ins ohnehin schon verstümmelte Bein schießt, weil er mit seinen Schuldgefühlen nicht mehr leben kann. Immer wieder wird in Rückblenden beleuchtet, wie und warum die Jungs auf die schiefe Bahn geraten sind, und doch schlagen sie sich irgendwie durch, nehmen die undankbarsten Jobs an, haben Pech mit den Mädchen, aber irgendwann auch Glück im Spiel.
Willy Vlautin, seines Zeichens Frontmann der amerikanischen Folkrock-Band Richmond Fontaine, legt mit „Motel Life“ ein erstaunliches Debüt hin, dessen 200 Seiten mit den kurzen Kapiteln und einleitenden Illustrationen von Nate Beaty schnell wegzulesen sind. Die herzerwärmende Geschichte eines verloren wirkenden Bruderpaars ist mit ebenso viel Tragik wie Humor durchtränkt und lässt seine sympathischen Antihelden alle schluchzenden Täler durchschreiten, die man sich so vorstellen kann, Alkoholismus, Spielsucht, Pech in der Liebe und bei dem kläglichen Versuch, eine Arbeitskarriere aufzubauen. Vergleiche mit Annie Proulx‘ „Schiffsmeldungen“ oder John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ kommt einem dabei in den Sinn, aber Vlautins traurig-humorvoller Road-Movie-Blues nimmt durchaus eine eigene Stellung in dieser Art von amerikanischer Literatur ein.

Dean Koontz – „Blindwütig“

Donnerstag, 20. Januar 2011

(Heyne, 432 S., HC)
Der 34-jährige Cubby Greenwich hat wahrhaftig Glück in seinem Leben. Bereits mit seinem ersten Roman eroberte er die Bestsellerlisten, gewann die Liebe der bezaubernden Kinderbuchautorin und –Illustratorin Penny Boon und zeugte mit ihr den mittlerweile sechsjährigen geistigen Überflieger Milo, der bereits über ein Highschool-Diplom verfügt. Gerade ist Cubbys sechstes Buch „One O’Clock Jump“ erschienen, zu dem er am frühen Morgen dreißig Radiointerviews gibt, da erhält er einen Anruf von seiner Lektorin Olivia, die ihm drei Zeitungsrezensionen gemailt hat, zwei wohlwollende und eine vernichtende – ausgerechnet vom renommiertesten Literaturkritiker des Landes, Shearman Waxx. Cubby ist zwar entrüstet, dass Waxx den Roman offensichtlich gar nicht gelesen hat, weil er einen falschen Namen aus der Presseinfo übernommen hat, aber er will Pennys Rat folgen und die Sache auf sich beruhen lassen. Doch als der gekränkte Schriftsteller erfährt, dass Waxx nicht nur ganz in der Nähe wohnt, sondern auch im gleichen Restaurant zu speisen pflegt, legt es Cubby auf eine Begegnung mit dem offenbar zurückgezogen lebenden, etwas merkwürdigen Kritiker an.
Auf der Toilette des Restaurants kommt es zu einem überraschenden Zusammenstoß, und der Kritiker murmelt dabei nur ein Wort: „Verdammnis“. Wenig später glaubt Cubby, Waxx nachts in seinem Haus herumschleichen gesehen zu haben. Doch das ist der Anfang eines nicht enden wollenden Albtraums. In der nächsten Nacht malträtiert Waxx seine Opfer mit Elektroschockern, am nächsten Tag erhält Cubby einen beunruhigenden Anruf des untergetauchten Schriftstellerkollegen John Clitherow, der Waxx eine ähnlich ätzende Kritik und den Verlust seiner Familie zu verdanken hat.
„Die größte Strafe, dachte ich, war nicht er eigene Tod, sondern der Verlust jener, die man am meisten liebte. Wie viel schlimmer musste dieser Verlust sein, wenn man mit dem bitteren Wissen weiterleben musste, dass Menschen, die dir vertraut und sich auf dich verlassen hatten, stellvertretend für dich und deine Fehler ermordet worden waren.
Waxx war nicht nur ein mordlüsterner Psychopath, sondern auch – im eigentlichen Wortsinn – ein Terrorist.“ (S. 131)
Von nun an befindet sich Cubby mit seiner Familie auf der Flucht. Von einem Kollegen, der bereits seine Familie durch Waxx verloren hat, erfährt Cubby, mit welcher Effizienz und Grausamkeit der psychopathische Kritiker zu Werke geht. Um herauszufinden, mit wem sie es zu tun haben, machen sich die Greenwichs auf eine gefährliche Odyssee …
Stephen King hat in „Sie“ auf eindringliche wie beängstigende Weise geschildert, wie ein Schriftsteller von einem wahnsinnigen Fan malträtiert wurde. Dean Koontz setzt sich nun mit der anderen Klientel auseinander, mit denen Schriftsteller vornehmlich zu tun haben, mit ihren Kritikern. Leider lässt Koontz das Potenzial einer solchen Auseinandersetzung nicht nur ungenutzt, durch seinen vollkommen unglaubwürdigen Plot verschaukelt er auch noch bewusst seine Leser. Dass zwei von Beginn an erfolgreiche Schriftsteller auch noch einen hochbegabten Sohn haben, der über höchst komplexe naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügt, ist zwar schon außergewöhnlich genug, aber noch zu schlucken. Schon schwieriger wird es, die Motivation des Killers auch nur im Ansatz nachzuvollziehen. Deshalb kommt diese auch erst im abstrusen Finale zur Sprache, wenn eh schon Hopfen und Malz verloren ist. Denn da hat auch ein teleportierender Hund (!) ins Geschehen eingegriffen, und Milo hat praktischerweise ein Gerät entwickelt, mit dem man die Zeit zurückdrehen kann. Man muss schon Durchhaltevermögen beweisen, um der absurden Story zu folgen, aber was Koontz am Schluss abfackelt, spottet jeglicher Beschreibung!
Lesen Sie im Buch: Koontz, Dean - Blindwütig

Jack Ketchum – „The Lost“

Dienstag, 11. Januar 2011

(Heyne, 432 S., HC)
Sparta, New Jersey, im Juni 1965. Als der psychopatische Teenager Ray Pye mit seinen beiden Freunden Tim und Jennifer auf einem abgelegenen Zeltplatz beobachtet, wie zwei junge Mädchen sich küssen, brennt bei ihm eine Sicherung durch. Mit fünf Gewehrschüssen streckt er die beiden Mädchen brutal nieder. Während Lisa sofort ihren schweren Verletzungen erliegt, kann sich Elise ins Gebüsch retten, fällt jedoch ins Koma. Vier Jahre später stirbt das Mädchen im Krankenhaus. In der Zwischenzeit war Ray zwar der Hauptverdächtige in beiden Mordfällen, doch da er sich selbst meldete, am Abend zuvor am Tatort gewesen zu sein, und so seine vielen Fußspuren erklärte, konnten ihn Charlie Schilling und seine Kollegen nicht festnageln.
Charlies Kollege Ed Anderson hat schon vor Jahren den Dienst quittiert, als die Arbeit nicht mehr darin bestand, Katzen aus Dachrinnen zu retten und dafür zu sorgen, dass die Kinder sicher zur Schule kamen, sondern auf einmal die Untersuchung von schrecklichen Morden auf der Tagesordnung standen. Dafür vergnügt sich der alte Ed jetzt mit der jungen Sally Richmond, die ausgerechnet einen Job in dem von Ray geleiteten Motel annimmt und gleich an ihrem ersten Arbeitstag von ihrem Chef angebaggert wird. Ray ist zwar immer noch mit Jennifer zusammen, hat aber auch andere Mädchen am Start, feiert wilde Partys und verdient sich im Drogenhandel ordentlich was dazu. Die Zeiten haben sich geändert. Das hat nicht nur Ed zur Aufgabe seines Polizistenjobs bewogen, auch die junge Sally bemerkt die deutlichen Zeichen.
„Sie fragte sich, ob das Lokal sich verändert haben würde, wenn sie in einigen Jahren aus dem College kam. Es geschah so vieles in der Welt jenseits von Sparta. Rassenunruhen. Flowerpower. Vietnam. Hasch und Timothy Leary. Eine Imbissstube-Schrägstrich-Eisdiele, selbst eine gut besuchte wie diese, war bereits ein Anachronismus. Das Ende war abzusehen. Wie konnte das schlichte Vergnügen, einen Milchshake zu trinken, mit einem LSD-Trip mithalten? Sie fragte sich, ob die Neuntklässler von heute Lust hatten, den ganzen Abend – oder zumindest bis zehn, wenn der Laden dichtmachte – über einer Cherry-Cola zu hocken, wie sie früher mit ihren Freunden, während sie die neusten Geschichten aus dem Ort austauschten, einander anschmachteten, die im Regal ausliegenden Comics und Magazine lasen und auf den Drehhockern herumwirbelten wie auf einem Karussell im Vergnügungspark. Sie glaubte, die Antwort bereits zu kennen. Es war wirklich ein Jammer, dachte sie. Der nachfolgenden Generation von Jugendlichen würde eine Menge Spaß entgehen. Und etwas, an dem ihr Herz hing, wäre früher oder später für alle Zeiten verschwunden.“ (S. 133 f.)
In dieser Atmosphäre weitreichender Veränderungen der Lebenswelt vergnügt sich Ray nach Belieben mit Drogen und jüngeren Mädchen, kann es aber auf den Tod nicht leiden, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen kann. Das muss nicht nur Sally bitterlich am eigenen Leib erfahren …
Jack Ketchum wird nicht umsonst von Stephen King für den besten Horror-Autor Amerikas gehalten. Mit feinem Gespür für Situationen und Personen beschreibt Ketchum gnadenlos, wie in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld die Gewalt ausbricht. Oft gehört nicht viel dazu, kann der kleinste Funken einen Waldbrand auslösen. Vor dem Hintergrund von Woodstock und der Manson-Morde an Roman Polanskis hochschwangerer Frau Sharon Tate entwickelt der Autor ein bedrückendes Szenario junger Menschen, die in einer amerikanischen Kleinstadt alles andere als den amerikanischen Traum erleben, sondern sich Sorgen darüber machen, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Während die klügeren Mädchen das College vor sich haben, hat der Schulabbrecher Ray nur sein aufgeblasenes Ego und seinen Rauschgifthandel, um wenigstens in seiner Heimatstadt das Großmaul zu mimen. Wie die tickende Zeitbombe schließlich explodiert, beschreibt Ketchum bis zum ernüchternd brutalen Finale in gewohnt drastischer, aber psychologisch gut beobachtender wie extrem spannende Weise.
Lesen Sie im Buch: Ketchum, Jack - The Lost

James Patterson – (Alex Cross: 1) „Morgen, Kinder, wird’s was geben“

Donnerstag, 6. Januar 2011

(Weltbild, 480 S., HC)
Vor drei Jahren wurde Maria, die Frau von Alex Cross, stellvertretender Leiter der Washingtoner Kriminalpolizei, aus einem fahrenden Auto erschossen, was den Detective und Psychologen in schwere Depressionen gestürzt hat. Nun lebt er in Ghettos von Washington mit seiner Großmutter und seinen beiden bezaubernden Kindern, dem sechsjährigen Damon und der vierjährigen Janelle, und hat es mit einem entsetzlichen Blutbad zu tun. Im Schlafzimmer der Familie Sanders wurden die 32-jährige Jean, ihre vierzehnjährige Tochter Suzette und der dreijährige Mustaf ermordet aufgefunden, wobei die Brüste der Frauen abgeschnitten und ihr Schamhaar abrasiert worden ist.
Doch Cross und sein Freund und Partner John Sampson werden von dem Fall abgezogen, um bei einer Entführung an der Georgetown-Tagesschule zu ermitteln. Dort hat der Mathematiklehrer Gary Soneji mit Maggie Rose Dunne die Tochter einer berühmten Schauspielerin und mit Michael Goldberg den Sohn des Finanzministers entführt. Bei den Ermittlungen werden die beiden Cops nicht nur vom FBI, sondern auch von der Secret-Service-Agentin Jezzie Flanagan unterstützt. Doch Soneji entpuppt sich als äußerst raffinierter Killer, der bereits über 200 Menschenleben auf dem Gewissen hat.
„Ich dachte über den Kidnapper Soneji nach, ganz allein in seiner trostlosen Wohnung. Er hatte sorgfältig alle Fingerabdrücke abgewischt. Das Zimmer selbst war so klein, so mönchisch. Er war ein Leser, umgab sich jedenfalls gern mit Büchern. Und dann die Fotogalerie. Was sagte sie uns? Spuren? Irreführungen?
Ich stand vor dem Spiegel über dem Waschbecken und schaute hinein, wie er es viele, viele Male getan haben musste. Was sollte ich sehen? Was hatte Gary Soneji gesehen?“ (S. 73)
Überraschenderweise finden Cross & Co. Soneji recht schnell, doch der Fall zieht sich in die Länge. Denn der Gefangene gibt sich als Gary Murphy aus, der sich an nichts erinnern kann, was Soneji zur Last gelegt wird. Haben es Cross und seine Kollegen etwa mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun? Als eine junge Augenzeugin aussagt, an einem der Tatort gesehen zu haben, wie Soneji von einem anderen aus einem Auto heraus beobachtet worden zu sein, wird der Fall jedoch neu aufgerollt. Dabei steht Cross mehr im Mittelpunkt der Presse, als ihm lieb sein könnte …
„Morgen, Kinder, wird’s was geben“ war 1993 der erfolgreiche Auftakt der Serie um den Detective und Psychologen Alex Cross, der im Jahre 2000 auch ebenso gewinnträchtig mit Morgan Freeman in der Hauptrolle unter dem Titel „Im Netz der Spinne“ verfilmt worden ist (nachdem drei Jahre zuvor der zweite Alex-Cross-Roman „… denn zum Küssen sind sie da“ den Anfang gemacht hatte).
Im Gegensatz zu einigen späteren Thrillern der Reihe bietet James Patterson hier noch alle Zutaten für einen gelungenen Psycho-Thriller, interessante, wenn auch nicht immer detailliert gezeichnete Figuren, Kompetenzgerangel zwischen örtlicher Polizei, FBI und Secret Service, psychologisch raffinierte Fragestellungen und wendungsreiche Entwicklungen in einer Reihe von Fällen, die es in sich haben. Nachdem die ersten beiden Alex-Cross-Romane jahrelang vergriffen waren, sind sie nun endlich wieder erhältlich, wenn auch nur im Rahmen einer schlecht lektorierten Weltbild-Sammeledition.

James Patterson – (Alex Cross: 2) „... denn zum Küssen sind sie da“

(Weltbild, 464 S., HC)
Im Juni 1975 hatte ein jugendlicher Killer in Boca Raton, Florida, bereits wochenlang das schöne Strandhaus der Familie Pierce ausgekundschaftet, um dann eines Nachts zunächst seiner Schulbekanntschaft Coty unter seinem selbst gewählten Namen Casanova einen tödlichen Besuch abzustatten, danach ihrer Mutter und schließlich auch ihrer kleinen Schwester. Fast zwanzig Jahre später taucht der Name Casanova erneut in einer Reihe von Verbrechen auf, in die auch Detective Alex Cross involviert wird, als er erfährt, dass seine Nichte Naomi seit vier Tagen in North Carolina vermisst wird, wo sie Jura studiert.
Doch die in Durham ermittelnden Beamten Ruskin und Sikes geben sich wortkarg. Laut FBI laufen die Ermittlungen im Fall von mehreren vermissten hübschen jungen Frauen und drei bereits tot aufgefundenen Mädchen unter dem Etikett „streng geheim“. Sogar Ronald Burns, zweiter Mann beim FBI, befindet sich vor Ort und erklärt Cross, dass es sich um einen Riesenfall handelt. Dann taucht mit Kyle Craig ein weiterer FBI-Bekannter in Durham auf und macht Cross das Angebot, für das FBI zu arbeiten, so dass er ungehinderten Zugang zu den Informationen erhält, die Cross für das Psychogramm des Täters benötigt.
Es kommt natürlich viel schlimmer. Mit dem „Gentleman“ taucht ein ähnlich brutal auf hübsche Frauen abonnierter Killer an der anderen Küste auf. Dank der Reporterin Beth Lieberman, der der Killer seine Taten in Tagebuchform zukommen lässt, kommen Cross und das FBI dem plastischen Chirurgen Dr. Will Rudolph auf die Spur. Mit der Hilfe der attraktiven Dr. Kate McTiernan, die bislang als einzige von Casanovas entführten Frauen das Glück hatte, Casanova entkommen zu sein, stellt Cross eine Verbindung zwischen den beiden Killern her:
„Mir war ein wichtiges psychologisches Phänomen durch den Kopf gegangen. Es wurde Zwillingsbildung genannt und konnte ein Schlüssel sein. Vielleicht war Zwillingsbildung die Erklärung für die bizarre Beziehung zwischen den Ungeheuern. Die Ursache der Zwillingsbildung war ein starkes Bindungsbedürfnis, meistens zwischen zwei einsamen Menschen. Als ‚Zwillinge‘ werden sie ein ‚Ganzes‘; sie werden voneinander abhängig, häufig auf zwanghafte Weise. Manchmal entwickelt sich zwischen den ‚Zwillingen‘ eine starke Rivalität.
Zwillingsbildung war wie eine Sucht, ein Paar zu werden. Zu einem Geheimclub zu gehören. Nur zwei Menschen, kein Kennwort. In der negativen Form war es die Verschmelzung zweier Menschen aus ihren individuellen, ungesunden Bedürfnissen heraus.“ (S. 243 f.)
Fortan nimmt die Suche nach Cross‘ Nichte und den beiden geheimnisvollen Killern fieberhafte Formen an. Vor allem Cross und die dem brutalen Entführer entkommene Ärztin nehmen den Fall extrem persönlich, kommen sich während der Jagd auf Casanova und dem Gentleman auch näher, was beide gleichermaßen irritiert.
„Kiss The Girls“, so der Originaltitel des 1994 veröffentlichten zweiten Alex-Cross-Romans war der erste verfilmte Roman des schnell zum Bestseller-Autoren avancierten James Patterson, der unter dem Titel „… denn zum Küssen sind sie da“ 1997 in die Kinos kam. Die Idee mit den zwei Killern macht den Roman extrem vielschichtig. Zwar ist die Identität des Gentlemans bald gelüftet, doch Patterson führt sowohl die Ermittler als auch den Leser immer wieder auf die falsche Fährte, was Casanova angeht. Kein Wunder, dass Hollywood diese spannende Story für sich entdeckt hat und drei Jahre später auch den ersten Cross-Roman „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ für die Leinwand adaptiert hat (unter dem Titel „Im Netz der Spinne“). Neben den Ermittlungen mit psychologischen Profilen sorgt auch die Beziehung zwischen Alex Cross und Kate McTiernan für gute Unterhaltung.
In späteren Romanen hat sich Patterson leider oft nicht mehr ganz so viel Mühe mit den Charakterisierungen seiner Protagonisten gegeben, auf jeden Fall hat er mit Alex Cross einen echten Gutmenschen geschaffen, dessen Abenteuer mittlerweile von einem Millionenpublikum gelesen werden.