Simon Beckett - „Tiere“

Mittwoch, 16. März 2011

(Rowohlt, 284 S., Tb.)
Nach dem Tod seiner Eltern lebt der geistig etwas minderbemittelte Nigel allein in dem einst von den Eltern geführten, nun längst nicht mehr betriebenen Pub, arbeitet in einem Büro und liest in seiner Freizeit Comics und sieht sich mit Vorliebe Zeichentrickfilme an. Niemand würde ahnen, dass der junge Mann im Keller Menschen in Käfigen gefangen und sie mit Hundefutter und Wasser am Leben hält.
Darüber hinaus erfährt Nigel wenig Aufregendes in seinem Leben. Allein die Bekanntschaft mit seinen Kolleginnen Cheryl und Karen bedeutet etwas Abwechslung in seinem tristen Dasein, und entsprechend aufgeregt ist er, als sie für den Sonntag ihren Besuch ankündigen. Ansonsten hängt Nigel seinen Erinnerungen an seine Eltern nach.
„Als ich aufwachte, war ich total trübsinnig. Ich mag Sonntage nicht. Selbst im Fernsehen ist bis zum Nachmittag nicht viel los. Als Kind war es noch schlimmer, denn meine Mama wollte abends, bevor der Pub aufmachte, unbedingt die ganzen religiösen Sendungen sehen. Sie ging zwar nie zur Kirche oder so, aber sie war trotzdem religiös. Ganz egal, welche Sendungen auf den anderen Programmen liefen, meine Mama musste immer Lobgesänge oder so was gucken. Ich war jedes Mal froh, wenn es halb acht wurde und sie runterging, um meinem Papa hinter der Theke zu helfen.
Dieser Sonntag war nicht so schlimm, denn am nächsten Tag war Feiertag, und Cheryl und Karen wollten ja kommen. Wenn ich an Besuch dachte, wurde ich ganz aufgeregt, es reichte aber nicht, um meine Sonntagslaune aufzuheitern. Noch dazu war es draußen bewölkt.
Beim Frühstück in der Küche las ich meinen Spiderman-Comic zu Ende. Nicht mal der war besonders spannend …“ (S. 102)
Das trifft leider auch auf Simon Becketts zweiten Roman „Tiere“ zu, der 1995 in Becketts englischer Heimat erschien und im Zuge des Erfolges seiner Reihe um den forensischen Anthropologen Dr. David Hunter („Die Chemie des Todes“, „Kalte Asche“, „Leichenblässe“ und „Verwesung“) nun auch erstmals in deutscher Sprache erhältlich ist. Mit dem Schachzug, die Geschichte aus der Ich-Perspektive des geistig gehandicapten Nigel erzählen zu lassen, sollen Sympathien für den von allen Seiten gemiedenen Außenseiter geweckt werden, doch die will sich partout nicht einstellen. Abgesehen davon, dass seine Motivation, Menschen wie Tiere einzupferchen und zu füttern, nie überzeugend vermittelt werden kann, entwickelt die Geschichte kein Potenzial, weder so etwas wie Spannung, noch eine Entwicklung seines Antihelden zu präsentieren. Statt auf eine Wendung oder einen irgendwie gearteten Höhepunkt zuzusteuern, ergießt sich der Ich-Erzähler in wenig aufregenden Erinnerungen an eine bewegtere Zeit, als der Pub noch Gäste bediente, und lapidaren Beschreibungen der langweiligen Dinge, die mittlerweile seinen Alltag prägen.
Langweiliger und unspektakulärer geht es nicht, und die Möchtegern-Sprache des präsentierten Dummkopfes verleidet einem den letzten Rest eines rudimentären Lesevergnügens.
 Leseprobe “Tiere”

Richard Laymon - „Der Käfig“

Sonntag, 13. März 2011

(Heyne, 512 S., Tb.)
Diebe machen sich bei Robert Callahan daran zu schaffen, die Mumie der Pharaonenbraut Amara zu stehlen, doch Callahan und sein Ziehsohn Imad überraschen die Täter und verscharren ihre Leichen schließlich im Garten. Imad schlägt es allerdings auch in die Flucht, während sich die befreite Mumie am Hausherren gütlich tut. Nach Callahans Tod gelangt die Mumie in die Obhut des Charles-Ward-Museums, wo die stellvertretenden Kuratorin Sarah Connors erleben muss, wie ein Wachmann des Museums grausam verstümmelt wird.
Während die Mumie offensichtlich ihren vier Jahrtausende währenden Schlaf für einen Reanimationsblutbad beendet hat, plagen Ed Lake und Virginia ganz andere Probleme. Sie können sich nicht erinnern, wie sie in die Käfige gelangt sind, in die sie eingesperrt worden sind. Sie bekommen genug zu essen und zu trinken, müssen in dem oft abgedunkelten Raum ihren Entführern aber sexuell gefügig sein.
“Die Zeit verging. Ed Lakes Fuß heilte. Währenddessen gingen die seltsamen Spiele im Menschenzoo weiter. Immer wurde das Licht ausgeschaltet. Manchmal richtete sich die Aufmerksamkeit auf Virginia, manchmal auf Ed. Er bewahrte seine Kraft, so dass er die geforderte Leistung erbringen konnte. Und die Spiele dauerten stundenlang. Er lag immer auf dem Rücken auf der Plattform. Entweder wurde sein Schwanz von dem Mund bearbeitet oder von der anderen gierigen Öffnung. Aber er war jetzt sicher, dass es sich um eine Frau handelte. Natürlich sah er nie etwas. Zu dunkel. Und er achtete darauf, dass er nie zu einem Orgasmus kam, jedenfalls nie, ehe seine Entführerin befriedigt war.
Danach, egal was ihnen angetan worden war, sprach Ed jedes Mal mit Virginia. Sie teilten ihre Erlebnisse. Sie diskutierten jede Einzelheit – was ihre Peiniger getan hatten, wie sie rochen, wie sie sich anfühlten. Hat es sich schlecht angefühlt? Manchmal war es so schlimm, dass es unbeschreiblich war. Das Reden half ihnen. Es machte sie stärker. Sie begannen zu besprechen, wie sie zurückschlagen könnten.“ (S. 267)
Der 2002 posthum veröffentlichte Roman „Amara“ zählt zu den letzten Werken des großen amerikanischen Horrorautors Richard Laymon (1947-2001), allerdings nicht zu seinen besten. Zwar ist die für Laymon typische Mischung aus Sex und Horror wieder allgegenwärtig, aber der Plot wird durch zu viele Erzählstränge unnötig aus dem Rhythmus gebracht. Bis sich all die losen Fäden am Ende zusammenfügen, ist einiges an Sperma und Blut geflossen, doch so rechte Spannung will bei „Der Käfig“ leider nicht aufkommen. Wenig prickelnd ist leider auch das Vorwort von Laymons Freund und Kollegen Dean Koontz ausgefallen, dass sich ganz auf die Schilderung einer persönlichen Begegnung beschränkt.
Leseprobe "Der Käfig"

Michael Connelly - (Harry Bosch: 14) „Neun Drachen“

Freitag, 11. März 2011

(Knaur, 479 S., Tb.)
Harry Bosch und sein Familien-gestresster Partner Ignacio Ferras bekommen einen Überfall auf einen Getränkemarkt in South Normandie zugeteilt, wo zunächst alles nach einem Raubüberfall aussieht, bei dem der Ladenbesitzer John Li erschossen wurde. Der Täter hat zur Sicherheit die Überwachungs-DVD mitgenommen, doch auf den beiden DVDs, die zurückgelassen wurden, entdeckt Bosch einen ersten Hinweis auf eine Schutzgeldzahlung, die Li geleistet hat. Durch die Mithilfe von Detective David Chu von der Asian Gang Unit nimmt Bosch den Verdächtigen Bo-Jing Chang fest, der zur chinesischen Triade Yung Kim – Tapferes Messer – gehören soll.
Allerdings bleibt den Beamten nur das Wochenende, um Chang wegen Mordes dranzukriegen, sonst müssen sie ihn wieder auf freien Fuß setzen. Doch die Durchsuchung von Changs Wohnung, Auto und Handy bringt nicht die gewünschten Ergebnisse. Da bekommt Bosch eine Videobotschaft seiner 13-jährigen Tochter Maddie zugeschickt, die mit ihrer Mutter in Hongkong lebt. Das Entführungsvideo enthält ein paar Hinweise auf den Aufenthaltsort seiner Tochter. Bosch nimmt den nächsten Flieger nach Hongkong, um mit seiner Ex-Frau Eleanor und ihrem neuen Lebensgefährten Sun Yee nach Maddie zu suchen.
„Er würde seine Tochter finden und nach Hause bringen. Oder er würde bei dem Versuch, sie zu befreien, sterben. Sein ganzes Leben lang hatte Harry Bosch geglaubt, eine Mission zu haben. Und um diese Mission durchführen zu können, musste er kugelsicher sein. Er musste sich und sein Leben so gestalten, dass er unverwundbar war, dass ihm nichts und niemand etwas anhaben konnte. Das alles hatte sich an dem Tag geändert, an dem er der Tochter vorgestellt worden war, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie hatte. In diesem Moment hatte er gewusst, dass er gleichzeitig gerettet und verloren war. Von jetzt an war er mit der Welt für immer auf eine Weise verbunden, wie sie nur ein Vater kannte.“ (S. 227 f.)
Auch wenn „Neun Drachen“ ein ungewöhnlich persönlicher Fall für Detective Harry Bosch ist, fällt die Spannung recht moderat aus. Dabei wird weder besonders ausführlich auf die Triaden-Thematik eingegangen, noch auf den Menschenhandel in Hongkong. Ebenso unsicher wie Bosch ist, wem er bei seiner Suche nach seiner Tochter trauen kann, wird auch der Leser etwas unsicher durch den Plot geführt, der zumindest mit einer elegant aus dem Hut gezauberten Lösung aufwartet. 

Steve Mosby - „Spur ins Dunkel“

(Knaur, 377 S., Tb.)
Es sind einige Wochen vergangen, seit Amy einen Abschiedsbrief auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, in dem sie ankündigte, einige Probleme in den Griff bekommen zu müssen, aber sie würde auf jeden Fall zurückkommen. Doch ihr Freund Jason ist mittlerweile überzeugt, dass seiner Amy etwas zugestoßen sein muss. Er durchstöbert diverse Internet-Foren und bewegt sich unter dem Namen Amy17 in einem virtuellen Sex-Chatroom, wo er auch gleich einen Interessenten aufgabelt, von dem er hofft, nähere Informationen zum Aufenthaltsort von Amy zu erfahren. Als die Polizei bei ihm auftaucht, befürchtet er schon, dass sie tot aufgefunden wurde, doch tatsächlich geht es um Claire Warner, eine weitere Internet-Chat-Bekanntschaft, die er schließlich einmal in Schio getroffen hatte.
Kaum ist die Polizei gegangen, taucht ein alter Mann namens Walter Hughes bei Jason auf, der mit ihm über Claire reden will. Zusammen mit seinem Freund, dem Computer-Experten Graham, versucht Jason den wenigen Hinweisen nachzugehen, die er in Bezug auf Amy hat, lässt ihren Computer untersuchen und stößt schließlich auf eine Art Snuff-Literatur, die detailliert Vergewaltigungen dokumentiert.
„Es gibt einen tiefen Abgrund, in den man fallen kann und den man eigentlich nur entdeckt, wenn man jemanden sehr gernhat. Niemand bringt einem das je bei, und niemand redet viel darüber, es gehört zu den Dingen, die man selbst und allein lernen muss. Das erste Mal, wenn man in dieses Loch fällt, kommt es einem vor, als werde der Sturz nie enden, und wenn man dann hinabstürzt, dass man niemals entkommen wird, dass man aus einem so tiefen, dunklen Loch nie wieder herausklettern kann.“ (S. 49)
Je mehr sich Jason in diesen erschreckenden Kreisen bewegt, umso mehr gerät sein eigenes Leben völlig aus den Fugen und in tödliche Gefahr.
„The Third Person“ war 2003 der erste Roman des britischen Thrillerautors Steve Mosby, der hierzulande vor allem mit seinem zweiten Werk „Der 50/50-Killer“ bekannt geworden ist. „Spur ins Dunkel“, so der deutsche Titel des Debüts, lässt zumindest schon den eleganten Stil des Autors erkennen, wirkt aber als geschlossene Erzählung noch viel zu umständlich. Was als spannende Suche nach einer vermissten Lebensgefährtin beginnt, verstrickt sich zunehmend in eine immer verworrene Verschwörung, die weit über illegale Sex-Websites hinausgeht, unzählige Tote nach sich zieht und am Ende gar keinen Durchblick mehr zulässt.
Leseprobe “Spur ins Dunkel”

Philippe Djian – „Die Leichtfertigen“

Montag, 7. März 2011

(Diogenes, 218 S., HC)
Der 60-jährige Schriftsteller Francis lebt mit seiner zweiten Frau Judith, einer erfolgreichen Immobilienmaklerin an der Grenze zu Spanien und versucht, irgendwie mit den angehäuften Problemen seines Lebens fertigzuwerden. Natürlich schmerzt ihn noch immer der Verlust seiner ersten Frau Johanna und seiner Tochter Olga, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, aber auch Olgas Schwester Alice, die den Unfall damals überlebt hat, bereitet ihm immer wieder Kummer. Sie heiratete den ständig zugedröhnten Banker Roger, stürzte sich als bekannte Schauspielerin immer wieder in Affären und verschwindet auf einmal spurlos.
Roger, der endlich zur Vernunft gekommen war, nachdem er im Rausch zwei Fingerglieder seiner Tochter zerquetscht hatte, und schlagartig seine Finger von den Drogen ließ, kommt mit den beiden Zwillingen aus Paris zu Besuch; Francis kümmert sich eine Zeitlang um die Zwillinge, versucht aber auch, endlich an einem neuen Roman zu arbeiten. Währenddessen wird ihm bewusst, dass Judith und er sich zunehmend entfremden, und er engagiert den gerade aus dem Knast entlassenen Sohn seiner alten Schulfreundin A.M. , um Judith beschatten zu lassen. Doch der 24-jährige Jérémie kann Francis keine Beweise für Judiths Untreue vorlegen. Francis muss nicht nur tatenlos mit ansehen, wie A.M., die er als Detektivin auf die Suche nach Alice angesetzt hat, rasend schnell vom Krebs zerfressen wird. In dieser Atmosphäre von Misstrauen, Verlustängsten, Tod und Unbestimmtheiten ist es für Francis alles andere als einfach, sich aufs Schreiben zu konzentrieren.
„Viele glaubten, Johannas Tod habe mich am Boden zerstört, und niemand hätte einen Cent auf mein Comeback gesetzt. Gut möglich. Dass ich am Boden zerstört war und mir die Hoffnung, je wieder einen Roman zu schreiben, endgültig abschminken konnte, mochte durchaus zutreffen. Das hätte mich nicht allzu sehr verwundert. Es war aber noch zu früh, um es mit Bestimmtheit zu sagen.
Es gibt nichts Schwierigeres, als einen Roman zu schreiben. Keine menschliche Beschäftigung erfordert so viel Anstrengung, so viel Selbstverleugnung, so viel Widerstandskraft. Kein Maler, kein Musiker kann einem Romanschriftsteller das Wasser reichen. Das ist fast jedem klar.
Ich biss manchmal mitten in einem Satz so fest die Zähne zusammen, dass der ganze Raum zu pfeifen begann. Das war auch Hemingways Erfahrung. Das Gras wurde nicht von selbst grün. Die Landschaft glitt nicht wie durch ein Wunder an der Scheibe vorbei.
Es wäre mir lieber gewesen, mit meiner Tochter wieder eine normale Beziehung zu haben oder meine Eheprobleme mit Judith zu lösen, aber einen Roman zu schreiben war im Moment das Einzige, was mir realisierbar schien. Mit jedem Tag war ich mehr davon überzeugt. Nichts anderes kam für mich in Frage. Ich sah keinen anderen Ausweg. Selbst wenn ich mich nach allen Seiten umschaute, sah ich keine andere Möglichkeit. Ich hatte noch nie ein Buch in einer solchen Verfassung geschrieben.“ (S. 122 f.)
Philippe Djian erweist sich immer wieder als Meister von Erzählungen, in denen es vor allem um die Irrungen und Wirrungen eines Schriftstellers geht. Mittlerweile stehen dabei nicht mehr die erotischen Eskapaden im Mittelpunkt, die Djians frühen Meisterwerke „Betty Blue“, „Rückgrat“ oder „Verraten und verkauft“ geprägt haben; die Empfindungen des in die Jahre gekommenen Autors scheinen reifer geworden zu sein, doch taumelt er immer noch zwischen den verschiedensten, unausgegorenen Empfindungen hin und her. Mit gewohnt eleganter Sprache schildert Djian die Eindrücke, die sein Protagonist aufnimmt, die ihn immer aufs Neue verunsichern, verärgern und verwirren. Und das tut er so lebendig und eindrucksvoll wie selten zuvor in seinen letzten Werken. „Die Leichtfertigen“ ist sicher nicht das große Meisterwerk eines renommierten Schriftstellers, aber herrlich kurzweilig und amüsant zu lesen. Man merkt dem kurzen Roman überhaupt nicht an, dass das Verfassen solche Schwierigkeiten mit sich bringt, von denen Francis im Zitat berichtet, aber darin liegt wohl Djians Meisterschaft – in der Verbindung ungeschönter literarischer Reflexion und psychologisch einfühlsam beschriebener Tragödien, die seine Protagonisten zu bewältigen haben.

Leseprobe: Philippe Djian: „Die Leichtfertigen“

Håkan Nesser – „Die Perspektive des Gärtners“

Samstag, 5. März 2011

(btb, 320 S., HC)
Vor vierzehn Monaten beobachtete der Schriftsteller Erik Steinbeck am Küchenfenster seines Hauses in Saaren, wie ein Mann seine vierjährige Tochter Sarah im Garten ansprach und sie in sein grünes Auto einsteigen ließ. Bevor Erik an der Straße ankam, war der Wagen über alle Berge, die Polizei fand bis jetzt nicht einen einzigen Anhaltspunkt, was mit Sarah geschehen sein könnte. Vor allem Eriks Frau Winnie, die schon einmal eine Tochter in Sarahs Alter durch einen gewaltsamen Tod verloren hat, kam mit dem erneuten Verlust ihres Kindes nicht klar, verbrachte eine Zeit in einer psychiatrischen Anstalt und schlug schließlich vor, nach New York zu ziehen, um einen Neuanfang zu starten.
Doch Erik und Winnie finden nicht mehr zueinander und verbringen ihre Zeit meist getrennt voneinander. Während Winnie an einem fast fotografisch detaillierten Bild arbeitet, das die Entführungsszene aus Eriks Sicht darstellt und nur noch auf das Gesicht des Mannes wartet, an dessen Züge sich Erik aber nicht erinnern kann, arbeitet Erik in der Bibliothek an seinem neuen Roman. Als er Winnie zweimal überraschend in der Stadt sieht, leugnet sie jeweils, sich dort befunden zu haben. Dann behauptet sie plötzlich, Sarah sei noch am Leben. Erik macht sich Sorgen, dass Winnie wieder in ihren krankhaften Zustand nach dem Verschwinden ihrer Tochter zurückfällt.
„… wenn nun meine Ehefrau behauptet, unsere Tochter sei tatsächlich am Leben, dann will ich das nicht als Zeichen sehen, dass sie auf dem Weg zurück in die Dunkelheit ihrer Krankheit ist. Obwohl es natürlich so ist. Ich brauche eine gesunde Winnie – zumindest eine einigermaßen gesunde Winnie -, meine Kräfte reichen nicht für eine neue Welle des Wahnsinns. Guter Gott, denke ich, lass sie nicht den Verstand verlieren, lass nicht alles den Bach runtergehen. Lass etwas geschehen, das uns wieder ein bisschen Hoffnung gibt. Aber dass Sarah tatsächlich am Leben sein soll? Ich wage diesen Gedanken kaum zu denken.“ (S. 112f.)
Erik macht in der Bibliothek, in der er fast täglich arbeitet, die Bekanntschaft von Mr. Edwards, einem pensionierten Privatdetektiv, der dem Schriftsteller anbietet, herauszufinden, was Winnie mit ihrer Zeit, die sie nicht in ihrem Atelier verbringt, so treibt. Offensichtlich hat sie eine Parapsychologin namens Grimaux aufgesucht, und Erik fällt sofort der Zusammenhang mit dem gleichnamigen französischen surrealistischen Poeten auf, der ein Gedicht verfasst hat, das auf mysteriöse Weise Winnie und Erik einst zusammengeführt hat. Und je mehr Erik den immer geheimnisvolleren Hinweisen auf Winnie und Sarah folgt, desto mehr Rätsel geben Erik zu denken …
Dass der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser nicht nur Krimis nach Schema F produziert, hat er bereits mit „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ bewiesen. Sein neuer Roman ist in New York angesiedelt, wo der Autor einige Jahre gelebt hat, und trägt von Beginn an jene surrealistischen Züge, die auch einige Romane des New Yorker Schriftstellers Paul Austers tragen.
„Die Perspektive des Gärtners“ wirft immer wieder Fragen nach Namen und Identitäten auf, lässt die Grenzen zwischen Realität, Traum, Vorsehung und Wahnsinn miteinander verschmelzen und immer wieder neue Rätsel die bisherigen Merkwürdigkeiten in neuem Licht erscheinen. Dabei tritt Sarahs Schicksal nicht unbedingt in den Hintergrund, aber zunehmend geht es auch um die Frage, was es mit Winnie auf sich hat. Dadurch, dass der Leser das Geschehen allein aus Eriks Perspektive verfolgen muss, bleibt lange Zeit ungewiss, inwieweit vielleicht Erik selbst dem Wahnsinn verfallen ist. Nesser erweist sich wieder einmal als sprachlich versierter Autor, der mit viel Liebe zum psychologischen Detail einen außergewöhnlichen wie verstörenden Roman geschaffen hat, der mit einem ebenso überraschenden Ende aufwartet.
Lesen Sie im Buch: Nesser, Håkan - Die Perspektive des Gärtners

Simon Beckett – (David Hunter: 4) „Verwesung“

(Wunderlich, 444 S., HC)
Vor acht Jahren wurde der forensische Anthropologe Dr. David Hunter von Detective Chief Superintendent Simms nach Dartmoor gebeten, um dort eine Leiche im Moor zu identifizieren. Offensichtlich handelte es sich um eines der Mädchen, die dem verurteilten Serienmörder und Vergewaltiger Jerome Monk zum Opfer gefallen sind und deren Leichen noch nicht gefunden werden konnten. Doch die Ermittlungen standen unter keinem guten Stern. Hunter muss sich nicht nur dem besserwisserischen forensischen Archäologen Prof. Leonard Wainwright unterordnen, sondern hatte es auch mit Terry Connors zu tun, dessen Selbstgefälligkeit und Angeberei schon immer ein Dorn in Hunters Augen gewesen sind.
Nachdem die Torfleiche als Monks drittes Opfer Tina Williams identifiziert werden konnte, folgte eine großangelegte Suchaktion im Moor, hoffte man doch, die anderen beiden noch vermissten Leichen zu finden. Monk erklärte sich bereit, bei der Suche zu helfen, kann sich vor Ort aber an nichts erinnern, und die psychologische Ermittlungsberaterin Sophie Keller stößt nur auf einen Dachskadaver. Nach diesem Fiasko verschlug es Hunter an den Balkan, um an der Bergung eines Massengrabes mitzuwirken, dann verlor er seine Frau Kara und Tochter Alice bei einem Autounfall.
Acht Jahre später bekommt Hunter überraschenden Besuch von Terry Connors, der ihm erzählt, dass Jerome Monk aus dem Gefängnis geflohen ist, dann erhält er einen panischen Anruf von Sophie Keller, die ihn bittet, sich mit ihr in Dartmoor zu treffen. Als Hunter dort eintrifft, liegt Sophie allerdings auf der Intensivstation, wenig später kommt Leonard Wainwright zu Tode. Offensichtlich befindet sich Jerome Monk auf einem Rachefeldzug gegen alle, die damals mit seinem Fall zu tun gehabt haben. Er verfügt über das übliche Täterprofil:
„Mit fünfzehn Jahren war Monks Lebensweg vorgezeichnet. Von Geburt an verwaist, war er schon als Kind in doppelter Hinsicht ausgeschlossen, gemieden wegen seiner körperlichen Defekte und gefürchtet wegen seiner abnormen Kraft. Die wenigen Familien, die den störrischen, unberechenbaren Jungen in Pflege nahmen, schickten ihn bald wieder voller Entsetzen zurück. Bereits in der Pubertät war er kräftiger als die meisten erwachsenen Männer, sein Leben wurde durch Gewalt und Einschüchterung geprägt.“ (S. 357)
Simon Beckett beginnt seine David-Hunter-Romane stets mit der Schilderung nüchterner Fakten rund um den Verwesungsprozess, was an sich höchst informativ ist, doch leider setzt sich dieser abgeklärte Stil auch auf die Beschreibung der Handlung und der Zeichnung seiner Figuren fort. „Verwesung“ weist sicherlich alle Merkmale eines Bestsellers auf, eine interessante Hauptfigur, die nach „Die Chemie des Todes“, „Kalte Asche“ und „Leichenblässe“ zum vierten Mal im Mittelpunkt des Geschehens steht, einen mysteriösen Fall um einen mutmaßlichen Serienmörder und etliche persönliche Konflikte, die dem Geschehen seine „Würze“ verleihen. Doch man wird das Gefühl nicht los, dass Beckett in jeder Hinsicht auf Nummer sicher gehen wollte. Der Plot und die „überraschende“ Wendung zum Ende hin wirken wie am Reißbrett konstruiert, und Becketts abgeklärter Stil lässt nicht wirklich Sympathien für seine Figuren entwickeln, die aber immerhin alle ihre Päckchen zu tragen haben, auch David Hunter selbst, der sich immer noch Vorwürfe wegen des Todes seiner Familie macht. Sicher bietet „Verwesung“ spannende Unterhaltung, aber schon im vierten David-Hunter-Fall sind die Abnutzungserscheinungen nicht zu übersehen.
 Leseprobe “Verwesung”

Cody McFadyen – „Der Menschenmacher“

Donnerstag, 3. März 2011

(Lübbe, 605 S., HC)
Ein halbes Jahr nachdem David Rhodes seine alleinerziehende Mutter durch einen Autounfall verloren hatte, wurde er der sechsjährige Junge von einem Mann namens Robert Gray adoptiert, ebenso wie die fast gleichaltrigen Charlie Carter und Allison. Nahezu zehn Jahre lang wurden die drei Kinder von ihrem Ziehvater auf jede erdenkliche Art misshandelt, gequält, im dunklen Keller weggesperrt. Jede nicht erfüllte Anforderung, die dazu dienen sollte, die Kinder in ein höheres Dasein zu „evolvieren“, wurde bitter bestraft.
Doch eines Tages konnten die Kinder ihrem Gefängnis entkommen und ihren Peiniger töten. Seither hat jeder auf seine eigene Weise alles daran gesetzt, sein Leben dem Kampf gegen Kinderpornographie und Kinderprostitution zu widmen. David wurde Schriftsteller und erreichte bereits mit seinem ersten Thriller einen internationalen Bestseller. Seine Fähigkeit, die Menschen mit seinen Worten zu fesseln, kam seiner Stiftung Innocence Foundation zugute, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kindern in Not zu helfen, Kinderpornographieringe auszuheben und Menschenhändlerbanden auffliegen zu lassen. Charlie hat sich zu einem Elitesoldaten ausbilden lassen und übernimmt den schmutzigen Teil der Aufgabe. Mit dem Wissen, wie ihre Brüder gegen die Grausamkeit Kindern gegenüber vorgingen, konnte Allison jedoch nicht mehr ihren Dienst beim FBI ausüben. Doch nach zwanzig Jahren werden die drei Adoptivgeschwister mit ihrer grausamen Vergangenheit konfrontiert. Eine Videobotschaft an jeden von ihnen und Geiselnahmen machen deutlich, dass das Böse aus ihrer Vergangenheit offensichtlich noch nicht vollständig ausgemerzt worden ist. Wenn sie nicht binnen 36 Stunden eine bestimmte Ärztin, die Abtreibungen vornimmt, töten, müssen auch die ihnen nahestehenden Geiseln dran glauben. David, Charlie und Allison machen sich auf eine erschreckende Odyssee in ihre alte Heimat und stoßen auf entsetzliche Hintergründe:
„Wir wissen, dass Bob, als Kind selbst misshandelt wurde. Er wurde von seiner Mutter gequält. Sein Vater war Prediger und starb wahrscheinlich schon, als Bob noch ein kleiner Junge war. Nach allem, was wir wissen, war der Vater ein ultra-fanatischer religiöser Eiferer. Ein christlicher Fundamentalist sozusagen. Wir wissen außerdem, dass Bob noch kein Killer war, bevor er nach Vietnam ging, aber er war mit Sicherheit einer, als er zurückkam. Er kannte kaum noch Grenzen. Er war ein abgebrühter, brutaler Psychopath, lange bevor er uns drei adoptiert hat.“ (S. 426)
Nach vier Bestsellern um die psychisch wie physisch mit Narben übersäte Polizistin Smoky Barrett hat Cody McFadyen mit seinem neuen Roman „The Innocent Bone“, der etwas arg reißerisch als „Der Menschenmacher“ ins Deutsche übertragen wurde, einen kleinen Exkurs unternommen und sich eines brisanten wie schrecklichen Themas angenommen. Zwar bemüht er die üblichen Erklärungen von religiösem Fanatismus, Brutalität in der Erziehung und philosophische Verwirrungen, um das kaum vorstellbare Grauen zu erklären, dass nicht nur die drei Adoptivgeschwister, sondern auch ihre Angehörigen erleiden müssen, aber McFadyen schildert ihre schreckliche Geschichte sehr überzeugend, psychologisch nachvollziehbar und letztlich auch spannend, um „Der Menschenmacher“ in einem furiosen Finale münden zu lassen, das es wirklich in sich hat.
Lesen Sie im Buch: Mcfadyen, Cody - Der Menschenmacher

Ralf Husmann – „Vorsicht vor Leuten“

Mittwoch, 23. Februar 2011

(Scherz, 279 S., HC)
Als Autor von „Stromberg“, der deutschen Antwort auf die britische Comedy-Serie „The Office“, hat Ralf Husmann nicht nur den bemitleidenswerten Titel-Antihelden zur Kultfigur der deutschen Comedy-Szene erhoben, sondern sich selbst als „Pate des deutschen Humors“ („Die Welt online“) etabliert. Wie gut das auch verschriftlich funktioniert, bewies Husmann mit seinem großartigen Romandebüt „Nicht mein Tag“, dem er nun „Vorsicht vor Leuten“ folgen lässt.
Als Sachbearbeiter im Referat Planung und Bauaufsicht der Stadt Osthofen in Nordrhein-Westfalen hat der gut vierzigjährige Lorenz Brahmkamp keine große Lobby, weder bei seinem mürrischen, stark erkälteten Chef, noch bei seinen Kollegen, leider auch nicht mehr bei Katrin, seiner Kollegin aus dem Referat Haushalt und Finanzen, die ihn jüngst verlassen hat.
Doch Lorenz lässt sich nicht hängen und entwirft sogleich einen Schlachtplan, um sein verwurstetes Leben wieder in den Griff und vor allem Katrin wieder zurückzubekommen. Da heißt es 1. Abnehmen, 2. Job sichern, 3. Ehrlich werden und schließlich als das große Übermotto: Leben ändern.
Seine große Chance sieht Lorenz kommen, als er krankheitsbedingt für seinen Chef und dessen Stellvertreter das Treffen mit dem erfolgreichen Unternehmer Alexander Schönleben bestreiten soll, der in Osthofen aus der alten Bauschuttdeponie einen „Megapark“ machen will. Lorenz erkennt als Gewohnheitslügner schnell, dass Schönhofen ihm Geschichten auftischt, doch Schönhofen sieht in Lorenz fortan einen Verbündeten im Kampf gegen die Bürokratie. Schließlich sei auch für ihn was drin. Und ehe er sich versieht, sitzt Lorenz mit dem Selfmade-Millionär in einem Boot und hofft so, Katrin etwas bieten zu können. Eine neue Dusche steht ganz oben auf der Prioritätenliste, um Katrin zur Heimkehr zu bewegen.
„Er lässt es krachen. Katrin hatte recht. Er hat vieles zu lange schleifen lassen. Sie wird Augen machen, wenn sie demnächst wieder nach Hause kommt. Leben ändern mit einem Duschtempel. Irgendwo muss man ja anfangen. Der Corsa ist randvoll. Lorenz fährt quasi blind, vertraut aber darauf, dass das Schicksal kein Arschloch ist. Das Leben macht nicht erst Hoffnung und schickt einem dann von rechts einen Siebentonner, den man nicht sieht. Und tatsächlich: Alles geht gut. (…) Wie geht das also mit dem Duschtempel? Die Anleitung schreckt ab. Mehrsprachig. Mit Zeichnungen, die aussehen, als sei die Montage nicht so einfach. So schwer wird es aber wohl nicht sein. Aufstellen, ausmessen, andübeln, das wird er schon hinkriegen, denkt Lorenz. Heute ist ein guter Tag. Heute geht das. (…) Ein zweiter Mann wäre gut, denkt Lorenz, einer, der die scheiß Wand mal halten kann, während man die verschissenen Markierungen auf die Kacheln malt. Wie sich diese Genies vom Duschtempel ‚Sanistar deluxe‘ das wohl vorstellen? Wie soll man das alleine hinkriegen? Oder gehen die davon aus, dass der Mensch vier Arme hat? Oder Freunde?“ (S. 86f.)
Ralf Husmann schildert den Alltag des „kleinen Mannes“ mit gewohnt lässigem, kultverdächtigen Humor, ohne seinen einfachen Helden von der Straße zu demaskieren. Vielmehr entdeckt jeder Mann etwas in Lorenz wieder, das selbst in ihm schlummert und nagt, aber selten ausgesprochen wird. Wie sich Lorenz und Schönhofen schließlich auf Mallorca mit ihren Lügengeschichten die Bälle zuspielen, ist schon großartig. Immer wieder hat Husmann dabei einen coolen Spruch parat, aber darüber hinaus ist „Vorsicht vor Leuten“ auch einfach eine amüsante, abwechslungsreiche Geschichte, der man ebenso gern folgt wie den markanten Pointen, die Husmann gekonnt zu setzen versteht.
Leseprobe “Vorsicht vor Leuten”

Ray Bradbury – „Medizin für Melancholie“

Dienstag, 22. Februar 2011

(Diogenes, 223 S., Tb.)
Mit Meisterwerken wie „Fahrenheit 451“ oder den „Mars-Chroniken“ hat sich der amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury bereits zu Lebzeiten unsterblich gemacht. Quer durch die Genres der Fantasy, der Science-fiction oder des Horrors hat er vor allem herausragende Kurzgeschichten verfasst, von denen 22, die zwischen 1948 und 1959 entstanden sind, in dem kleinen Band „Medizin für Melancholie“ versammelt sind.
Als George und Alice Smith in Biarritz absteigen und vor allem George ganz begeistert ist, sich in „Picasso-Land“ aufzuhalten, begegnet er wenig später seinem großen Idol am Strand, wie er mit einem Eisstiel etliche Figuren in den Sand zeichnet („Zur warmen Jahreszeit“). In „Der Drache“ lauern zwei berittene Männer einem Ungetüm auf, von dem gesagt wird, dass es alle Menschen frisst, die allein von der Stadt in die nächste reisen:
„Über das düstere Land, voll Nacht und Leere, aus der Tiefe des Moores sprang der Wind auf, voll Staub von Uhren, die die Zeit mit Staub anzeigten. Schwarze, brennende Sonnen waren im Herzen dieses neuen Windes und Millionen verbrannter Blätter, die er von Herbstbäumen hinter dem Horizont herabgeschüttelt hatte. Dieser Wind schmolz Landschaften, zog die Gebeine wie Wachs in die Länge und trübte und verdickte das Blut zu einer schlammigen Ablagerung im Hirn. Der Wind war tausend sterbende Seelen und die ganze verworrene, vorübergehende Zeit. Es war ein Nebel in einer Dunkelheit, und dieser Ort hier gehörte niemandem, und es gab kein Jahr und keine Stunde, sondern nur diese Männer in der gesichtslosen Leere mit ihrem plötzlichen Frost, Sturm und weißen Donner, der hinter der großen fallenden Scheibe des Blitzes rollte. Ein nasser Windstoß fuhr über das Torfmoor, und alles verging, bis nichts mehr war als die Stille ohne Atem und die beiden Männer, die mit ihrer Wärme allein in der kalten Jahreszeit warteten.“ (S. 17f.)
In diesem wunderbar fabulierenden Ton geht es weiter, und so fantastisch die Sprache über die Seiten schwebt, so fantasievoll sind auch all die Geschichten geraten, die Ray Bradbury aus seinem wunderbaren Hut zaubert. Er lässt ein krankes Mädchen, dem keine Medizin helfen will, bei Vollmond draußen verweilen, bis ihm die einzig wahre Medizin begegnet („Medizin für Melancholie“). Sechs Mexiko-Amerikaner erstehen zusammen einen eiscremefarbenen Anzug und wechseln sind mit dem Tragen stündlich ab, um endlich ihr Glück zu erleben, eine Familie fliegt zum Mars und hängt dort fest, ein Mann hängt in der Dachkammer seines Hauses den Erinnerungen an jede erdenklichen Zeiten nach:
„Hier im irisierenden Glas der Kronleuchter schimmerten Regenbögen, Morgen und Mittage hell wie frische Bäche, die unaufhörlich durch die Zeit zurückflossen. Das zuckende Licht seiner Taschenlampe fing sie ein und weckte sie, die Regenbogen sprangen auf und drängten die Schatten mit Farben zurück, mit Farben wie Pflaumen, Erdbeeren und Trauben, mit Farben wie Zitronen und wie der Himmel, wenn nach dem Sturm die Wolken fortziehen und das Blau wieder hervorkommt. Und der Staub der Dachkammer war brennender Weihrauch und brennende Zeit, und man brauchte nur in die Flammen zu schauen. Sie war wirklich eine große Zeitmaschine, diese Dachkammer, das wusste und fühlte er …“ (S. 100)
In gewisser Weise geht es dem Leser ähnlich wie Mr. Finch in „Der Duft von Sarsaparilla“; Ray Bradbury lässt mit wunderbar poetischen Geschichten vergangene Zeiten und ihren ganz besonderen Zauber wiederauferleben, was für seine Sci-fi-Geschichten ebenso gilt wie für seine „Märchen“, die tief in die Ängste und Sorgen und Hoffnungen und Träume der Menschen eintauchen und sie zu zauberhaften Analogien webt.

Miriam Toews – „Die fliegenden Trautmans“

Sonntag, 13. Februar 2011

(Berlin Verlag, 255 S., HC)
Als die 28-jährige Hattie Trautman mitten in der Nacht einen Anruf von ihrer 11-jährigen Nichte Thebes erhält, wird ihr schnell der Ernst der Lage bewusst gemacht. Hatties Schwester Min liegt nur noch vollgedröhnt im Bett, Thebes‘ 15-jähriger Bruder Logan hat ständig Ärger in der Schule, und die Kleine ist schlichtweg überfordert, sich um alles zu kümmern. Da Hattie aber ohnehin in Paris ihre Vision des Künstlerdaseins nicht verwirklichen konnte und zudem von ihrem Freund Marc abserviert wurde, fällt es ihr nicht allzu schwer, die Zelte dort abzubrechen und nach Kanada zu fliegen, wo sie das vollkommene Chaos erwartet.
Min liegt mit schweren Depressionen im Krankenhaus und will niemanden sehen. Logan ist von der Schule geflogen, weil er mit bekannten Gang-Mitgliedern abhängt. Also tut Hattie das, was sie für das einzig Richtige hält: Sie fährt mit den Kindern Richtung South Dakota, wo sie deren Vater Cherkis zu finden hofft.
„Wir kamen allmählich auf die Zielgerade. Murdo war ein kleiner, unspektakulärer Fleck auf der Landkarte, aber für uns, jedenfalls für mich, baute es sich nun drohend vor uns auf wie King Kong Schatten oder Kandahar aus der Sicht einer amerikanischen Panzerbesatzung. Mir wurde mulmig. Ich hatte ja gar keinen richtigen Plan. Oder doch, ein geplantes Ergebnis immerhin. Bloß keinen Plan, der mich zwingend zu diesem Ergebnis führen würde, das natürlich darin bestand, Cherkis zu finden und zu beknien, dass er sich um seine Kinder kümmert. Ich wollte das nämlich nicht übernehmen – und konnte es auch gar nicht. Ich wusste überhaupt nicht, was ich zu ihnen sagen oder wie ich sie trösten sollte. Wahrscheinlich würde es Min nie wieder so gut gehen, dass sie nach Hause konnte, jedenfalls nicht als die Mutter, die die beiden brauchten. Ob Min an eine willkürliche Welt glaubte oder an eine mit einem göttlichen Sinn dahinter? Es gab so vieles, über das wir nie gesprochen hatte, und jetzt war es vermutlich zu spät.“ (S. 89)
Immer wieder ruft Hattie von unterwegs bei Min in der Psychiatrie an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, muss sich dabei immer wieder selbst vergewissern, dass sie gerade das Richtige tut und erinnert sich an eine glücklichere Kindheit. Während der Fahrt erzählt sich die neu gefundene Familie eine skurrile Geschichte nach der anderen, übernachtet in heruntergekommenen Motels, trifft die merkwürdigsten Menschen auf dem Trip, der das Trio auf der Route 66 weiter nach Twentynine Palms und bis zur mexikanischen Grenze führt.
Miriam Toews stattet ihre jenseits aller gängigen Vorstellungen von „normal“ befindlichen Charaktere mit liebenswürdigem Charme aus und dabei so detailliert, dass diese kaum wie erfundene Romanfiguren, sondern wie Fleisch und Blut wirken. Es braucht nur wenige Zeilen, um sich auf die Seite der anfangs völlig überforderten, im Liebeskummer taumelnden Hattie zu schlagen, und dann verfolgt der Leser die spannende Odyssee in den Süden meist mit einem Schmunzeln, gelegentlich auch mit ehrfürchtigem Staunen und echtem Mitgefühl. Die lebendige Sprache, immer ganz nah am Jugendjargon und der Popkultur, trägt ihr übriges dazu bei, „die fliegenden Trautmans“ mit wachsendem Vergnügen zu verschlingen. Schade, dass die familiäre Selbstfindung und der amüsante Roadtrip schon nach gut 250 Seiten vorbei ist …

Stieg Larsson - (Millennium: 1) „Verblendung“

Donnerstag, 10. Februar 2011

(Heyne, 688 S., Tb.)
Wie jedes Jahr bekommt der Großindustrielle Henrik Vanger auch zu seinem 82. Geburtstag anonym eine gepresste Blume in einem Bilderrahmen zugeschickt, so wie es seine Großnichte Harriet seit 1958 zu tun pflegte. Allerdings ist Harriet seit damals spurlos verschwunden. Der alte Vanger vermutet, dass sie umgebracht wurde, doch ihre Leiche konnte nie gefunden werden. Vor dreißig Jahren war das alljährliche Eintreffen der jeweils unterschiedlichen Blumen noch Gegenstand von kriminaltechnischen Analysen gewesen, mittlerweile wissen nur noch ein pensionierter Kommissar, Vanger selbst und der mysteriöse Versender von den seltsamen Geburtstagsblumen, die mal aus Madrid oder Bonn, aus Paris oder zuletzt aus Stockholm kamen.
Um dieses Rätsel endlich zu lösen, engagiert Vanger den Journalisten Carl Mikael Blomkvist, der gerade von einem Gericht zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe und 150000 Kronen Schadenersatz verurteilt worden ist, weil er den Industriellen Hans-Erik Wennerström in einem Artikel in der Zeitschrift „Millennium“ beschuldigt hatte, staatliche Mittel, die für Investitionen in Polen gedacht waren, für Waffengeschäfte missbraucht zu haben. Viel schlimmer als die empfindliche Strafe trifft Mikael allerdings der Verlust des Vertrauens in seinen journalistischen Spürsinn. Henrik Vangers Auftrag, das Verschwinden von Harriet aufzuklären, kommt ihm gerade recht, um Abstand zu der Sache zu bekommen und sich zu überlegen, wie es mit „Millennium“ und seiner Karriere weitergehen soll. Vanger hat seinen Anwalt
Frode beauftragt, den Background von Blomkvist zu überprüfen, worauf dieser Milton Security mit der Recherche beauftragte. Die überaus unkonventionelle, mit etlichen Tattoos und Piercings versehene Lisbeth Salander erstattet Frode ausführlich Bericht und lässt die Vermutung verlauten, dass Blomkvist bei der Wennerström-Affäre hereingelegt worden ist.
Als es für Blomkvist darum geht, die Geschichte der Familie Vanger auf der Insel Hedeby zu recherchieren, nimmt er die Mithilfe von Salander in Anspruch, weil sie sich als raffinierte Computer-Spezialistin erweist. Aber sie trägt auch ihre eigene problematische Geschichte mit sich herum. Nachdem sie ihren Vater in dessen Auto mit Benzin übergossen und angezündet hatte, wurde sie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und schließlich unter Vormundschaft gestellt. Doch ihr neuer Vormund, der Anwalt Bjurman, hat nichts Besseres zu tun, als Lisbeth zu vergewaltigen.
Als Blomkvist nach zwei Monaten aus dem Gefängnis entlassen wird, stößt er in einem Fotoalbum auf ein Bild, das Harriet bei einem Straßenumzug zeigt und wie sie verängstigt oder zornig jemand Bekannten ansieht. Doch bevor sie Henrik davon erzählen konnte, verschwand sie. Blomkvist und Salander stoßen auf komplizierte Verhältnisse und dunkle Machenschaften in der Vanger-Familienchronik …
Mit dem ersten Teil seiner „Millennium“-Trilogie präsentiert der leider schon 2004 verstorbene schwedische Autor Stieg Larsson auf den ersten Blick einen Kriminalfall, der über dreißig Jahre lang ungeklärt geblieben ist. Doch in erster Linie geht es um „Männer, die Frauen hassen“, wie der schwedische Originaltitel „Män som hatar kvinnor“ übersetzt lautet. Das ist nicht nur der Hintergrund der Familientragödie, die sich damals auf der durch einen Unfall abgeriegelten Insel zugetragen hat, sondern auch die ganz persönliche Geschichte der 26-jährigen Ermittlerin Lisbeth Salander, die mit dem engagierten Wirtschaftsjournalisten Mikael Blomkvist ein merkwürdiges, aber faszinierendes Team abgibt. Larsson nimmt viel Mühe auf sich, nicht nur die Vanger-Familiengeschichte zu enträtseln, sondern Mikael Blomkvist Lebenswandel und Salanders komplizierte Psyche zu beschreiben. Am Ende sind zwar der eigentliche Fall gelöst und Blomkvists Reputation wieder hergestellt, aber vor allem Salanders Background bleibt weiterhin größtenteils im Dunkeln. Da bringen erst die folgenden Teile „Verdammnis“ und „Vergebung“ die ersehnte Auflösung.

Stieg Larsson - (Millennium: 2) „Verdammnis“

(Heyne, 751 S., Tb.)
Nach dem erfolgreichen Streich gegen den Industriellen Wennerström, den die Computer-Hackerin Lisbeth Salander um sein illegal erwirtschaftetes Vermögen betrog, trennte sie sich wortlos von dem ehemaligen „Millennium“-Herausgeber Mikael Blomkvist und flog nach Grenada, wo sich die zierliche, gerade mal 1,50 Meter große und 40 Kilo leichte Ermittlerin mit dem fotografischen Gedächtnis einer Brustoperation unterzog und sich von dort aus eine Luxuswohnung in Stockholm kaufte. Nach einem tödlichen Zwischenfall kehrt sie nach Schweden zurück, wo Blomkvist von dem Journalisten Dag Svensson gerade eine Story über Mädchenhandel vorgelegt bekommt. Dessen Freundin Mia Bergman schreibt in ihrer Doktorarbeit über eine skrupellose Sexmafia, die 15- bis 20-jährige Mädchen aus dem sozialen Elend der ehemaligen Ostblockstaaten mit obskuren Jobangeboten nach Schweden lockt.
Nach Svensson Recherchen sind dabei Männer aus den höchsten Gesellschaftskreisen beteiligt. Doch bevor er sein Buchprojekt für „Millennium“ abschließen kann, werden Svensson und seine Freundin von Mikael tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Als Tatwaffe stellt die Polizei eine Pistole sicher, die auf den Anwalt Nils Bjurman zugelassen ist und auf der sich die Fingerabdrücke von Lisbeth Salander befinden. Schließlich findet die Polizei auch Bjurman tot in seiner Wohnung vor, auf dem Bauch amateurhaft die Worte tätowiert: „Ich bin ein sadistisches Schwein, ein Widerling und ein Vergewaltiger“. Während Salander als Mordverdächtige gesucht wird und untertaucht, versucht Blomkvist, ihre Unschuld zu beweisen. In einer Mail, die Svensson vor seinem Tod an Blomkvist geschrieben hatte, erwähnte er einen osteuropäischen Gangster namens Zala, dem er eventuell ein eigenes Kapitel widmen wollte.
Auch von Salander bekommt Blomkvist diesen Namen zugespielt.
„Mikael starrte auf den Namen. Dag Svensson hatte bei ihrem letzten Telefongespräch von Zala gesprochen, zwei Stunden bevor er ermordet wurde.
Was will sie damit sagen? Sollte Zala am Ende die Verbindung zwischen Bjurman, Dag und Mia sein? Wie? Warum? Wer ist Zala? Und woher weiß Lisbeth Salander davon? Wie kommt sie in Spiel?“ (S. 402)
Je mehr Blomkvist in Sachen Salander nachforscht und dabei der Polizei dank Lisbeths Unterstützung immer einen Schritt voraus ist, desto mehr erfährt er auch über den Hintergrund von Lisbeths Geschichte, die unmittelbar mit dem Mädchenhandel in Verbindung zu stehen scheint …
Einmal beleuchtet Stieg Larsson ein düsteres Kapitel international organisierter Verbrechen und knüpft damit nahtlos an den extrem spannenden Auftakt seiner „Millennium“-Trilogie an. Faszinierend ist dabei nicht nur das Katz-und-Maus-Spiel, das Salander sowohl mit Blomkvist als auch der Polizei betreibt, sondern die wieder sehr detaillierten Charakterisierungen, mit denen Larsson überaus schillernde Figuren – allen voran die in jeder Hinsicht ungewöhnliche Lisbeth Salander – geschaffen hat, denen man als Leser wie gebannt folgt.
Lesen Sie im Buch: Larsson, Stieg - Verdammnis

Stieg Larsson - (Millennium: 3) „Vergebung“

(Heyne, 862 S., Tb.)
Lisbeth Salander hat die Konfrontation mit ihrem Vater, dem ehemaligen russischen Agenten Alexander Zalatschenko, der als Überläufer in Schweden mit neuer Identität verbrecherische Geschäfte im großen Stil abwickelt, und ihrem Bruder, dem Zwei-Meter-Riesen Ronald Niedermann, schwer verletzt überlebt. Zwar konnte sie Zala eine Axt ins Gesicht und ins ohnehin schon lädierte Bein hauen, doch hat er Lisbeths Attacke ebenso überlebt wie sie die Kugel, die sie in den Kopf geschossen bekam. Nun liegen beide nur wenige Meter voneinander entfernt in der Intensivstation des Göteborger Sahlgrenska-Krankenhauses.
Vor allem Salander braucht eine längere Regenerationszeit, aber früher oder später muss sie sich der Polizei und der Anschuldigung stellen, einen weiteren Mordanschlag auf ihren Vater verübt und zwei weitere Menschen schwer verletzt zu haben. Eine geheime Sektion der schwedischen Sicherheitspolizei versucht derweil, Zalatschenko endgültig aus dem Verkehr zu ziehen, bevor dieser das ganze Unternehmen gefährden kann. Und Mikael Blomkvist arbeitet wie besessen daran, Lisbeths Unschuld zu beweisen und die Verschwörung aufzudecken, die über Jahre hinweg gegen sie inszeniert worden war.
„Er erklärte Schritt für Schritt, wie sie mit einer Bande Kalter Krieger der RPF/Sich aneinandergeraten und in die Kinderpsychiatrie gesperrt worden war, damit sie Zalatschenkos Geheimnis nicht verraten konnte. (…) Die Verschwörung gegen Lisbeth Salander – er bezeichnete die Verschwörer in Gedanken als Zalatschenko-Klub – kam aus den Reihen der Sicherheitspolizei. Er kannte einen Namen, Gunnar Björck, aber Gunnar Björck konnte unmöglich der einzige Verantwortliche sein. Es musste eine ganze Gruppe geben, eine Art Abteilung. Es musste Chefs, Verantwortliche und ein Budget geben. Doch er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, diese Personen zu identifizieren. Wo sollte er beginnen?“ (S. 189f.)
Zusammen mit seiner Schwester Annika Giannini, die Lisbeth als Anwältin vertritt, versucht „Kalle“ Blomkvist herauszufinden, welche Gruppierung innerhalb der Sicherheitspolizei seit 1991 konsequent versucht hat, Zalatschenko zu decken und gleichzeitig dessen Tochter wegzusperren. Dabei scheint vor allem Dr. Peter Teleborian eine besondere Rolle zu spielen, der als Chefarzt der psychiatrischen St.-Stefans-Klinik in Uppsala mit seinem Gutachten dafür gesorgt hat, dass Lisbeth Salander für unmündig und geisteskrank erklärt worden ist …
Da der schwedische Autor Stieg Larsson leider im Jahre 2004 an den Folgen eines Herzinfarkts gerade mal 60-jährig verstorben ist, bedeutet „Vergebung“ leider schon den Abschluss seiner „Millennium“-Reihe, die eigentlich auf zehn Teile angelegt war, es aber nur bis zur Trilogie geschafft hat.
Dennoch stellt „Vergebung“ einen würdigen Abschluss der komplexen Thriller-Reihe um die beiden so verschiedenen Ermittler Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander. Nachdem im vorangegangenen „Verdammnis“ Lisbeth im Mittelpunkt des oft actionreichen Geschehens stand, muss sie sich nun erst im Krankenhaus auszukurieren und dann vor Gericht verantworten. Nun ist es allein an Mikaels und seinen vielen Helfershelfern, Lisbeths Unschuld zu beweisen, wofür Larsson tief in die politischen Strukturen und Geschichte Schwedens eintaucht. „Vergebung“ ist trotz aller Komplexität eine äußerst spannende Genre-Mixtur aus Justizdrama, Politikthriller und Gesellschaftsroman und fasziniert vor allem durch die detaillierte Zeichnung seiner so unterschiedlichen Figuren.

James Patterson - (Mike Bennett: 2) „Blutstrafe“

Donnerstag, 3. Februar 2011


(Goldmann, 348 S., Tb.)
Mit dem Polizeipsychologen Alex Cross und der Reihe um den „Club der Ermittlerinnen“ hat James Patterson höchst erfolgreiche, aber leider – vor allem was Alex Cross angeht – auch allzu eingefahrene Thriller-Serien ins Leben gerufen, die mittlerweile etwas langweilige Automatismen entwickelt haben. Etwas Abwechslung soll da die neue Reihe um den New Yorker Detective Mike Bennett bringen ..
Knapp ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Maeve hat Bennett nicht nur seine zehn Adoptivkinder zu versorgen, sondern hat es auch mit einem Killer zu tun, der sich selbst „der Lehrer“ nennt und scheinbar wahllos Menschen umbringt. Dabei ändert er so stark sein Aussehen, dass zunächst kein Zusammenhang zwischen dem Vorfall in der U-Bahn, wo er als Anzugträger ein Mädchen auf die Gleise schubste, und den Morden an einem Ralph-Lauren-Angestellten und einem  Kellner im „21 Club“ hergestellt wird, wo der psychopathische Killer sich als Repräsentant der Unterschicht präsentierte. Allerdings hat der Mörder bei den beiden Toten jeweils eine kryptische Nachricht hinterlassen.
„Meine Vermutung war, dass  wir über einen Typen sprachen, der in Schnapsidee-Komposition eine eins gekriegt hatte und dies allen Menschen mitteilen wollte – um ihnen seinen Größenwahn als Intelligenz zu verkaufen. Die einzige Möglichkeit, diese Art von Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bestand in gemeinem, kaltblütigem Mord. Leider war er, wenn ich Recht behalten sollte, tatsächlich schlau und dazu noch vorsichtig. Unterschiedliche Aufmachung, kaum erkennbares Gesicht, keine Fingerabdrücke.“ (S. 102)
Soweit zur professionellen Einschätzung eines erfahrenen Polizisten. Leider macht sich Patterson nicht die Mühe, seine Figuren eingehender zu beschreiben. Der psychopathische Bösewicht ist einfach nur ein schlechtes Klischee, das sich leider auch viel zu häufig in den Plattitüden widerspiegelt, die der Autor von sich gibt (hat das wirklich Patterson geschrieben, oder war hier doch einer seiner Ghost Writer am Werk, von denen gerade bei ihm immer wieder die Rede ist?):
„Ich blieb stehen, wo ich war, und starrte auf die blutdurchtränkten Teppiche und Matratzen. Dies war das Schlimmste, das ich je gesehen hatte, eine Gräueltat, ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich sehnte mich danach, meine Glock auf diesen Kerl zu richten.“ (S. 216)
Leider bleiben solche Allgemeinplätze keine Ausnahme, und selbst eine kitschig beschriebene Nahtoderfahrung bleibt dem Leser nicht erspart. Zusammen mit einem 08/15-Plot, der lieblos runtergeschrieben wurde,  ist dies mit Abstand das schlechteste Buch, das ich von Patterson gelesen habe …

James Patterson - (Mike Bennett: 3) „Sühnetag“

(Goldmann, 319 S., Tb.)
Der New Yorker Detective Mike Bennett ist von der Mordkommission Manhattan Nord zur Abteilung für Kapitalverbrechen versetzt worden, die bei großen Banküberfällen, Kunstraub und Entführungen ermittelte. Mit letzteren hat er in großem Stil zu tun, als mit Jacob Dunning der einzige Sohn einer überaus prominenten Familie entführt wird. Donald Dunning, Gründer und Generaldirektor des multinationalen Pharmakonzerns Latvium and Company, lässt seine Verbindungen spielen und vom nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen die beste Agentin anfordern: Emily Parker von der FBI-Abteilung für Kindesentführungen und Serienmorde.
Ähnlich wie mit dem „Lehrer“ aus dem vorangegangenen Fall „Blutstrafe“ hat es Bennett wieder mit einem missionarischen Täter zu tun, der die Gier und Unmenschlichkeit weltweit operierender Konzerne anprangert.
„,Wir könnten so viel tun, aber wir sitzen nur rum und sehen zu, wie alles den Bach runtergeht. Dunning könnte mit dem, was er für seine Schuhe bezahlt, siebenundzwanzig Menschenleben retten. Die Latvium-Aktien gedeihen auf den Leichen der Armen dieser Welt … Der einzige Zweck solcher Firmen, egal, in welchem Industriezweig sie tätig sind, ist die Produktion sagenhaften Wohlstands für das obere Management. Nationale Verantwortung und Menschenleben sind für Menschen wie Dunning Nebensache. So war es schon immer und wird es immer bleiben.‘“ (S. 48 f.)
Der Entführer belässt es allerdings nicht bei mahnenden Worten, sondern lässt Bennett und Parker den Jungen mit einem Kopfschuss und einem lateinischen Bibelspruch auffinden. Auch die nächste Entführte, Chelsea Skinner, Tochter des Präsidenten der New Yorker Börse, kann nur tot geborgen werden. Die nächste Entführung fällt allerdings etwas aus dem Rahmen, wird für den behinderten Dan Hastings, doch erstmals Lösegeld gefordert, und zwar per Mail, während der Entführer sich bislang immer telefonisch mit den Eltern der Opfer in Verbindung gesetzt hat. Während Bennett und Parker kaum zur Ruhe kommen, was die Entführungen angeht, finden sie doch die eine oder andere Minute, sich näher kennenzulernen …
Immerhin, nach dem Komplettausfall, den James Patterson mit „Blutstrafe“ hingelegt hat, scheint er sich wieder etwas gefangen zu haben. Zusammen mit seinem Co-Autor Michael Ledwidge schrieb er mit „Sühnetag“ einen typisch rasanten, spannenden Thriller, der mit einigen obligatorischen Wendungen überzeugt, aber wie so oft etwas mehr Sorgfalt bei der Charakterisierung der Protagonisten hätte verwenden können.
Leseprobe „Sühnetag“

Heinz Strunk - „In Afrika“

Dienstag, 1. Februar 2011

(Rowohlt, 270 S., HC)
Mit seinen ersten beiden Büchern „Fleisch ist mein Gemüse“ und „Fleckenteufel“ hat der 1962 in Hamburg geborene Musiker, Schauspieler, Schriftsteller und „Studio Braun“-Komiker auf höchst unterhaltsame Weise die Hürden beschrieben, die man als junger Erwachsener gerade auf dem Land zu überwinden hat. In „Fleisch ist mein Gemüse“ war es noch die fröhliche Tanzkapelle, die auf Schützenfesten in der Lüneburger Heide Klassiker wie „An der Nordseeküste“ spielen musste, in „Fleckenteufel“ die christliche Ferienfreizeit in einem Zeltlager an der Ostsee, die Heinz Strunks Erlebnisse der Post-Adoleszenz Revue passieren ließen. Mittlerweile ist Strunk erwachsen und pflegt alljährlich das Ritual, mit seinem Freund C. in der Weihnachtszeit zu verreisen. Diesmal bucht C. eine Reise nach Kenia.
Strunk versucht noch verzweifelt, sich vor Reiseantritt einen vorzeigbaren Körper anzutrainieren, dann geht es auch schon los. Allerdings – und das scheint Comedy-Stars immer zu passieren – geht der Koffer unterwegs abhanden, so wie es Kollege Christoph Maria Herbst auf seiner „Traumschiff“-Reise („Ein Traum von einem Schiff“) ebenso ergangen ist. Und C., der aus Wien angereist kommt, schlägt mit eintägiger Verspätung auf, nur um im Hotel all die Klischees und Rentner zu erleben, vor denen man eigentlich Angst hat.
„Der Welcomedrink ist ein ekliger, dickflüssiger Schleim und erinnert von Aussehen, Geschmack und Konsistenz her an den Getränkesirup Tri Top. Wenn ich mich recht erinnere, reichte ca. eine halbe Verschlusskappe für ca. einhundert Liter Fruchtjauche, Tri Top dürfte somit das billigste Getränk der Welt gewesen sein. Zum Glück schon lange Geschichte. Oder behauptet sich Tri Top inzwischen im gutsortierten Fachhandel als Kultgetränk?“ (S. 81)
Als C. endlich eingetroffen ist, wollen sie sich an ein Treatment für eine Fernsehkomödie machen. Strunk beschreibt seine Erlebnisse am Pool, im Meer und auf den Straßen von Mombasa recht witzig und mit selbstironischer Note, doch ist der Schmunzel-Humor weit von dem krachenden Humor von Strunks „Frühwerken“ entfernt. „In Afrika“ lässt sich ebenso locker und unverbindlich weglesen wie Herbst‘ „Ein Traum von einem Schiff“, nur um am Ende festzustellen, dass Comedy-Stars ebenso schlechten Urlaub erleben wie Otto Normalverbraucher – nur schreiben sie darüber etwas witziger …

Robert Ludlum (mit Eric Van Lustbader) – „Die Bourne-Intrige“

Sonntag, 30. Januar 2011

(Heyne, 574 S., HC)
Durch die Affäre um Geheimdienstzar Luther LaValle ist der amerikanische Verteidigungsminister Bud Halliday arg in Bedrängnis geraten. Nun hofft er durch einen außergewöhnlichen Coup wieder seine Position an der Seite des Präsidenten zu stärken. In München handelt er mit Boris Karpow, einem hohen Oberst bei der russischen Antidrogenbehörde FSB-2, einen Deal aus: Karpow bietet Halliday an, Jason Bourne zu beseitigen, der ohnehin auf der Abschussliste des amerikanischen Militärgeheimdienstes steht, dafür sollen die Amerikaner mit Abdulla Khoury den Führer der Östlichen Bruderschaft ausschalten. Karpow liefert sogar die dringend benötigten Beweise für die terroristischen Aktivitäten der Bruderschaft, die den Amerikanern bislang fehlten, um gegen sie vorgehen zu können.
Allerdings hat Halliday gar nicht mit Karpow verhandelt, sondern mit Bournes geschickt maskierten Erzfeind Leonid Arkadin, der entgegen Bournes Annahme den eigentlich tödlichen Sturz vom LNG-Tanker überlebt hat und nun erneut Jagd auf Bourne macht und ihn auf Bali mit einem gezielten Schuss niederstreckt. Doch Bourne überlebt mit Glück das Attentat und nutzt die Annahme von seinem Tod dazu, sich seinerseits an Arkadins Fersen heftet. Doch darüber hinaus plagt Bourne noch immer die Ungewissheit über seine wahre Identität.
„Er hatte sich noch nie befreit gefühlt, weder von der Bourne-Identität, die er von Alex Conklin bekommen hatte, noch von der quälenden Unvollkommenheit des Menschen, den er als David Webb kannte. Wer war Webb überhaupt? Tatsache war, dass er es nicht wusste – oder genauer gesagt, dass er sich nicht erinnern konnte. Gewiss, einzelne Bruchstücke waren von Psychologen zusammengesetzt worden, und es kam immer wieder vor, dass irgendein Detail explosionsartig aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervorbrach. Dennoch war er der Wahrheit über seine Vergangenheit um nichts näher gekommen – und es war von einer gewissen Ironie, vielleicht sogar von einer gewissen Tragik, dass er manchmal das Gefühl hatte, Bourne viel besser zu verstehen, als er Webb verstand.“ (S. 97 f.)
Allerdings wird dieser nach wie vor spannenden Frage nach Bournes Vergangenheit nicht weiter nachgegangen. Stattdessen muss der Abschuss eines amerikanischen Jets über ägyptischem Boden mit einer iranischen Kowsar-3-Rakete aufgeklärt werden. Für Verteidigungsminister Halliday scheint der Zeitpunkt gekommen, den Iran massiv zu bekämpfen. Da die CI-Chefin Veronica Hart einem Attentat zum Opfer fällt, verfolgt er außerdem weiterhin seinen ehrgeizigen Plan, die Geheimdienste zu vereinen. Doch Soraya Moore, die die CI-Sonderabteilung zur Terrorbekämpfung anführt, kommt mit Moira und Bourne einer viel umfangreicheren Verschwörung auf die Spur …
Da Robert Ludlum im März 2001 verstorben ist, kann man nur vermuten, wie viel von ihm selbst noch an den posthum veröffentlichten Werken stammt. Jedenfalls wird man bei der Reihe um den Superagenten Jason Bourne den Eindruck nicht los, als sollen die allzu komplexen Handlungsstränge und Verschwörungen darüber hinwegtäuschen, dass es nicht mehr allzu viel Neues zu erzählen gibt. Noch immer soll der US-amerikanische Geheimdienst unter eine Führung gestellt werden, noch immer kämpft Jason Bourne mit einigen wenigen Verbündeten darum, die wirklich ganz doll Bösen auszuschalten. Dies gelingt ihm natürlich auch unter widrigsten und mittlerweile zunehmend unglaubwürdigsten Umständen in „Die Bourne Intrige“.
Spannend, tempo- und actionreich ist der verzwickte Kampf gegen die amerikanischen, iranischen und russischen Schurken aber nach wie vor.
Lesen Sie im Buch: Ludlum, Robert - Die Bourne Intrige