Richard Laymon: „Der Wald“

Sonntag, 9. Oktober 2011

(Heyne, 432 S., Tb.)
Karen ist recht aufgeregt, das erste Mal mit ihrem neuen Freund Scott O‘Toole, seinen Kindern Julie und Benny sowie der mit ihm befreundeten Familie Gordon eine Woche in den Bergen zu campen. Flash hat mit Scott in Vietnam gedient und wird immer wieder an die dramatischen Ereignisse dort erinnert. Zusammen mit seiner Frau Merle und den Kindern Nick, Heather und Rose will er in den Bergen ebenso wie die O’Tooles einfach eine unbeschwerte Zeit erleben.
Vor allem Karen und Scott genießen das prickelnde Gefühl, ihren ersten gemeinsamen Urlaub in der unberührt erscheinenden Natur zu verbringen und sich für ihr „erstes Mal“ aus ihren jeweiligen Zelten zu schleichen. Doch auch die beiden Teenager Nick und Julie finden Gefallen aneinander und erfreuen sich an ihren ersten sexuellen Erfahrungen.
„Seine Hüfte lag schwer auf ihrem Geschlecht. Keuchend reib sie sich daran. Eine Brust lag unter seinem Oberkörper, während er die andere massierte und den aufgerichteten Nippel streichelte. Stöhnend wand sie sich vor Verlangen und drückte Nicks Gesicht weg. Sie führte seinen Kopf tiefer. Er küsste die Brustwarzen. Er leckte sie. Er nahm sie in den Mund. Er saugte daran, und Julie wimmerte. Er hob besorgt den Kopf, aber sie drückte ihn hinunter und hielt ihn dort. Er saugte fester. Es tat weh, doch zugleich wurde Julie von Wellen der Lust überspült.“ (S. 343) 
Doch die erotischen Freuden erhalten einen empfindlichen Dämpfer, als die Camping-Gruppe von zwei Wilden überfallen wird. Nachdem Karen vergewaltigt worden ist, erschlägt Nick den Täter mit einem Beil, doch die Leiche verschwindet auf ominöse Weise. Als die meisten Camper mit unerklärlichen Schnittwunden den Urlaub abbrechen, glaubt vor allem Nick an einen Voodoo-Fluch, der von der Mutter des toten Jungen über sie gebracht wurde, und tatsächlich stoßen ihnen daheim seltsame Unfälle zu …
Richard Laymon hat es sich während seiner höchst erfolgreichen, durch seinen plötzlichen Tod im Jahre 2001 leider viel zu früh beendeten Karriere zur Aufgabe gemacht, vertraute Themen der Horror-Literatur mit neuen Aspekten zu versehen, wofür vor allem „Der Ripper“ und „Die Insel“ großartige Beispiele darstellen.
In dem 1987 verfassten „Der Wald“ kombiniert Laymon das beliebte Wilde-fallen-im-Wald-über-ahnungslose-Camper-her-Motiv mit Elementen aus der Voodoo-Kultur und ergötzt sich – wie obiges Zitat verdeutlicht – an lustvollen Beschreibungen sexueller Vergnügungen, die schon etwas pubertäres Voyeuristisches an sich haben. Aber wie für alle Laymon-Romane gilt auch hier, dass die Geschichte von lebendigen Dialogen und authentischen Normalbürgern geprägt wird, die in lebensbedrohliche Ausnahmesituationen geraten. Das ist einfach souverän geschriebene Horror-Literatur mit viel Sex und Action!
Lesen Sie im Buch: Richard Laymon – „Der Wald“

Claudie Gallay – „Die Brandungswelle“

Donnerstag, 29. September 2011

(btb, 558 S., HC)
Eine ehemalige Biologiedozentin an der Universität von Avignon hat sich nach dem Tod ihres Mannes zwei Jahre lang beurlauben lassen und arbeitet nun seit einem halben Jahr für das Ornithologische Zentrum von Caen. In La Hague, im Nordwesten der Normandie, zählt sie Vögel, ihre Nester und Eier, sucht Gründe für den Rückgang der Zugvögel in der Gegend. Sie liebt die Monotonie der Arbeit, die karge Natur am Ende der Welt, die Leere ihres Seelenlebens.
Doch kurz bevor ein mächtiger Sturm das kleine Fischerdorf heimsucht, taucht Lambert auf, ein geheimnisvoller Mann, der vor vierzig Jahren seine Eltern und seinen jüngeren Bruder bei einem Bootsunglück verloren hat. Er ist zurückgekommen, um das Unglück von damals aufzuklären. Eine Schlüsselrolle kommt dabei Théo zu, dem ehemaligen Leuchtturmwärter, der damals offensichtlich das Leuchtfeuer ausschaltete und damit den Tod von Lamberts Familie verschuldet haben könnte. Die Ornithologin ist fasziniert von dem Fremden, der kein wirklich Fremder ist, aber immer wieder gibt sie sich den Erinnerungen an ihren geliebten Mann hin, dessen Tod auch sie in gewisser Weise sterben ließ.
„Diese Gegend war dir ähnlich. Mich davon abzuwenden, hätte bedeutet, dich nochmal zu verlieren. Ich war wie besessen von deinem Körper gewesen. Ich kannte seine Umrisse, seine Unvollkommenheiten. Ich kannte seine ganze Kraft. Jeden Abend ließ ich dein Gesicht, die Bilder, die ganze Geschichte in einer Endlosschleife vor mir ablaufen. Dein Lächeln. Deine Lippen. Deine Augen. Deine Hände. Deine verfluchten Hände, viel größer als meine.“ (S. 111f.) 
Gallay gelingt es, die Verschrobenheiten ihrer Figuren in einer sehr poetischen, klaren Sprache zu schildern und sie so sehr plastisch dem Leser vor Augen zu führen. Es sind eigensinnige, zuweilen exzentrische Leute, mit denen es die Ich-Erzählerin zu tun hat, die alle ihre Bürden zu tragen haben – wie sie selbst, der Künstler, der auf einmal durch einen Fachartikel berühmt zu werden scheint; die Tochter, die ihren verhassten Vater pflegt, und dann taucht ein Foto auf, das all die sicher geglaubten Dinge in ein neues Licht rückt. Die französische Autorin lässt ihre Figuren in Worten sprechen, wie man sie sonst weniger hört. Aber die Skurrilität der Gespräche fügt sich nahtlos in das ohnehin sonderbare Ambiente der Handlung, Orte und verborgenen Geheimnisse ein, dass es eine Freude ist, die Puzzleteile am Ende wieder zusammengefügt zu wissen.
Leseprobe "Die Brandungswelle"

John Grisham – „Das Geständnis“

Montag, 19. September 2011

(Heyne, 527 S., HC)
Reverend Keith Schroeder staunt nicht schlecht, als eines Tages ein Mann namens Travis Boyette in sein Gemeindebüro kommt und ein ungewöhnliches Geständnis ablegt: Mit einem taubengroßen Tumor im Kopf habe er nicht mehr lange zu leben und sehne sich danach, sein Gewissen zu erleichtern. Was sich der Reverend schließlich anhören muss, ist die detaillierte Schilderung der Entführung, Vergewaltigung und Ermordung der siebzehnjährigen Nicole Barber, für die Boyette zu seinem eigenen Erstaunen nie belangt worden ist.
Obwohl die Leiche des Mädchens nie gefunden wurde, muss der schwarze Donté Drumm seit acht Jahren in der Todeszelle auf die Vollstreckung eines Urteils warten, das auf einem offenbar erzwungenen Geständnis und einer ebenso offensichtlichen Falschaussage eines Zeugen beruht. Obwohl er sich schuldig macht, bei dem Verstoß von Boyettes Bewährungsauflagen zu helfen, macht sich Schroeder nach der Überprüfung einiger seiner Angaben mit Boyette auf die Reise von Kansas nach Texas, wo Drumm in vier Tagen hingerichtet werden soll. Außer Drumms Familie und seinem engagierten Anwalt Robbie Flak ist allerdings niemand interessiert daran, Boyettes Geschichte zu überprüfen, schon gar nicht die Justiz, die den Verurteilten wie geplant hingerichtet sehen will. Selbst Dontés Schwester Andrea ist bei der perfiden Aufführung der Strafverfolger zu der Überzeugung gelangt, dass Donté schuldig sei.
„Wir saßen in diesem großen Gerichtssaal und sahen die neun Richter an, alle weiß und alle so furchtbar wichtig in ihren schwarzen Roben, mit ihrer ernsten Miene und ihrem Getue. Auf der anderen Seite Nicoles Familie und ihre großspurige Mutter, die sich viel zu wichtig nahm. Und dann stand Robbie auf und brachte unseren Fall vor. Er war großartig. Er ging den Prozess noch einmal durch und machte darauf aufmerksam, dass das Beweismaterial äußerst dürftig war. Er machte sich über den Staatsanwalt und den Richter lustig. Er hatte vor nichts Angst. Und er war der Erste, der darauf hinwies, dass die Polizei nichts von dem anonymen Anrufer gesagt hatte, der behauptet hatte, Donté sei es gewesen. Das hat mich schockiert. Wie konnten die Polizei und der Staatsanwalt es wagen, Beweise zurückzuhalten? Das Gericht störte sich nicht im Geringsten daran. Ich weiß noch, wie ich Robbie dabei beobachtete, wie er so voller Leidenschaft für Donté eintrat, und irgendwann wurde mir klar, dass er, der Weiße aus dem reichen Teil der Stadt, nicht den geringsten Zweifel daran hatte, dass mein Bruder unschuldig war. Und in diesem Moment glaubte ich ihm. Ich schämte mich so dafür, dass ich an Donté gezweifelt hatte.“ (S. 223)
Was folgt, ist ein packender Wettlauf gegen die Zeit, bei dem Dontés Anwalt einen Antrag nach dem nächsten bei allen möglichen zuständigen Stellen einreicht und Dontés Freund Joey Gamble zur Rücknahme seiner fatalen Falschaussage bewegen will, während der Gouverneur nicht daran denkt, einen Aufschub des Strafvollzugs zu gewähren und die Justiz sich damit begnügt, sich einzureden, alles richtig gemacht zu haben.
Für „Das Geständnis“ hat sich Bestseller-Autor John Grisham ein extrem heikles Thema ausgesucht, das auch die Befürworter der Todesstrafe arg ins Grübeln bringen dürfte. Mit messerscharfer Präzision und in schnörkelloser Sprache schildert Grisham einen Justizskandal von tragischer Reichweite und demontiert das US-amerikanische Justizsystem, entlarvt deren Amtsinhaber als machtbesessen, uneinsichtig und selbstgerecht. Grisham-Freunde und Thriller-Fans kommen dabei voll auf ihre Kosten!
Lesen Sie im Buch: John Grisham – „Das Geständnis“

David Baldacci - "Der Abgrund"

Dienstag, 23. August 2011

(Bastei Lübbe, 639 S., Tb.)
Der Name David Baldacci ist immer noch eng mit seinem ersten Bestseller „Der Präsident“ verknüpft, der von und mit Clint Eastwood erfolgreich als „Absolute Power“ verfilmt worden ist. Seither hat sich der amerikanische Bestseller-Autor als sicherer Garant für spannende, oft actionreiche Thriller erwiesen, die teilweise sogar Teil großartiger Reihen wurden. Mit dem 2001 (in Deutschland 2003) veröffentlichten Thriller „Der Abgrund“ nimmt David Baldacci das grandiose Scheitern einer groß angelegten FBI-Aktion zum Ausgangspunkt für eine komplexe Geschichte, in der der hochdekorierte Agent Web London mit seinem Team die mutmaßliche Finanzverwaltung eines Drogenkonzerns hochgehen lassen will.
Doch das achtköpfige Team gerät in einen Hinterhalt. Dass Web plötzlich in bewegungslose Starre verfällt, rettet ihm zwar als einzigen das Leben, doch dafür wird er von seinen Kollegen als Feigling gebrandmarkt und von den Witwen seiner getöteten Gefährten geächtet. Einzig ein schwarzer Junge, der Web am Tatort ein merkwürdiges „Donnerhall“ entgegenraunte, könnte Licht in das FBI-Desaster bringen, doch scheint er wie vom Erdboden verschluckt. Um der Medienhetze zu entgehen, muss Web untertauchen und auf eigene Faust ermitteln. Dabei stößt er auf eine Reihe von aktuellen Todesfällen, die sowohl mit der jüngsten FBI-Katastrophe in Zusammenhang stehen könnten als auch mit dem Massaker an der Schule in Richmond, bei dem Web fast selbst dran glauben musste.
„‘Zwei Leute, am gleichen Tag. Einmal Louis Leadbetter; er war der Richter in Richmond, der die ‚Freie Gesellschaft‘ verurteilt hat. Er wurde erschossen. Und Fred Watkins war bei diesem Prozess der Vertreter der Anklage. Sein Haus ist explodiert, als er gerade hineingehen wollte. Und dann das Charlie-Team. Wir waren die Einsatztruppe, die auf Anforderung des Richmond Field Office geschickt wurde. Ich habe zwei von Frees Leuten getötet, bevor mein Gesicht getoastet und ich von zwei Kugeln durchlöchert wurde. Und dann wäre da noch Ernest B. Free höchstpersönlich. Aus dem Gefängnis getürmt.‘“ (S. 251 f. in der Weltbild-Lizenzausgabe von 2011) 
Web sucht mit seinem Kollegen Paul Romano die Ranch von Bill Canfield auf, dessen Junge damals in der Schule umkam und mit dem der entflohene Free vielleicht noch eine Rechnung offen haben könnte …
David Baldacci erweist sich einmal mehr als Meister der explosiven Spannung, die viel Action und haufenweise Intrigen bereithält. Obwohl über 600 Seiten stark, hält sich „Der Abgrund“ nicht mit einer langen Einleitung auf, sondern katapultiert den Leser gleich ins dramatische Geschehen, bei dem Web London auf einen Schlag seine ganze Truppe verliert. Doch Web London hat nicht nur die Hintergründe der fürchterlich gescheiterten Mission aufzuklären, sondern mit der Psychiaterin Claire Daniels auch seine eigene dunkle Vergangenheit aufzuarbeiten. In einem furiosen Finale werden so einige knifflige Knoten gelöst und Widersacher von Webs HRT-Team ins Leichenschauhaus befördert.

Stewart O’Nan – „Engel im Schnee“

Sonntag, 7. August 2011

(Rowohlt, 251 S., HC)
An einem verschneiten Winterabend in der Kleinstadt Butler, Pennsylvania, hört der fünfzehnjährige Arthur Parkinson während seiner Posaunenprobe in der Band, Schüsse, die – wie sich später herausstellen wird – das Leben seiner früheren Babysitterin Annie Marchand beenden.
Es bedeutet das Ende eines noch jungen Lebens, das allerdings voller Probleme war. Ihren Mann Glenn hat sie in die Flucht getrieben und sich ausgerechnet mit Brock, dem Mann ihrer besten Freundin, eingelassen. Das treibt vor allem ihre Mutter May in die Verzweiflung:
„Das Leben ihrer Tochter ist so in Unordnung, dass es May umbringt. Eine dreijährige Tochter und nicht mal in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. May weiß nicht, wie Annie die Miete zusammenbekommt, bestimmt nicht von dem, was sie im Club verdient. Jedesmal wenn sie danach fragt, endet es mit einem Streit. Sie hat immer das Gefühl gehabt – obwohl sie es nie gesagt hat, oder nur leise zu Charles -, dass Annie nicht sonderlich intelligent ist, dass sie nicht vorausschaut und sich dann wundert, wenn alles schiefläuft. (…) Annie scheint immer noch an der High-School zu sein: Sie hat einen Teilzeitjob und sucht sich aus, welchem Jungen sie sich hingibt. Sie ist ihre Jüngste, und nach allem, was May gelesen hat, müsste sie sich verzweifelt an Annie festklammern. Aber May wünscht sich nur, dass sie zur Ruhe käme oder dass sie, falls daraus nichts wird (und das befürchtet sie, ihr einziges Mädchen), irgendwohin zöge, wo sie es nicht mehr mit ansehen muss.“ (S. 119 f.)
Doch Arthur, der einst für Annie geschwärmt hat, plagen eigene Probleme. Sein Vater ist gerade ausgezogen und hat bereits eine neue Lebensgefährtin, er selbst beginnt sich in eine Schulkameradin zu verlieben …
Mit „Snow Angels“ hat der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan 1994 ein fulminantes Debüt hingelegt. Er beschreibt die Nöte und Sehnsüchte seiner einfachen Protagonisten mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie, wobei er trotz der oft trostlosen Situationen und Momente immer einen Ausweg aufzuzeigen scheint. Die Eindringlichkeit der schlichten Poesie geht mit einer anrührenden Melancholie einher, die sich nur selten in Hoffnungslosigkeit verliert, beispielsweise dann, wenn am Ende der unausweichliche Mord an Annie beschrieben wird. Doch darüber hinaus stellt „Engel im Schnee“ das vielschichtige Portrait normaler amerikanischer Kleinstädter mit ihren Sorgen und Hoffnungen dar, das man so schnell nicht aus der Hand legt.

Jed Rubenfeld – „Todesinstinkt“

Samstag, 23. Juli 2011

(Heyne, 624 S., HC)
Kurz nachdem Punkt zwölf Uhr die Glocken der Trinity Church läuteten, erschüttert am 16. September 1920 eine Explosion die Wall Street. Erst eine Stunde vorher hatten sich Jimmy Littlemore, ein 35-jähriger Detective der New Yorker Polizei, und der gleichaltrige Stratham Younger, der 1917 seine Arzt-Praxis in Boston und sie wissenschaftliche Forschung in Harvard aufgegeben hatte, um sich für einen Kriegseinsatz in Frankreich zu melden, nach langer Zeit wiedergesehen. Younger stellte seinem Freund die aus Frankreich mitgebrachte Freundin Colette Rousseau vor, die dem Detective einen zerknitterten Zettel mit mysteriöser Botschaft und einen darin eingewickelten Zahn übergab.
Nach dem Chaos, das die Explosion in New York hinterlassen hat, fällt Littlemore eine tags zuvor in Toronto abgestempelte und an George F. Ketledge in New York adressierte Postkarte in die Hände, in der dieser gewarnt wird, am 15. September vor drei Uhr die Wall Street zu verlassen. Hinter dem Anschlag werden sogenannte Terroristen vermutet, die als Sammelbegriff Anarchisten, Sozialisten, Nationalisten, Fanatiker, Extremisten und Kommunisten umfassen. Wenig später wird Colette von einem Trio ausländischer Männer entführt, gelangt aber wohlbehalten zu Younger zurück. Ob es eine Verbindung zwischen all diesen Vorkommnissen gibt, wollen Littlemore und Younger herausfinden, allerdings will ihnen das FBI die Ermittlungen abnehmen, das sich allerdings auch schwer mit der Aufklärung des kapitalen Verbrechens tut.
„Überall, wo sich Menschen versammelten, war das Unbehagen mit Händen zu greifen. Die Welle von Verhaftungen und Deportationen war ungebrochen, aber der terroristische Anschlag blieb ungeklärt. Mächtige Menschen – Reiche, Gouverneure, Senatoren – verlangten die erneute Mobilmachung. Zeitungen forderten Krieg. Die Wolke aus Rauch und flammendem Staub, die am 16. September die Sonne an der Wall Street verhüllt hatte, hatte sich noch nicht gelegt. Im Gegenteil, ihr Schleier hatte sich über die ganze Nation gelegt.“ (S. 325 f.)
Littlemore wird von seiner Polizeiarbeit entbunden und tritt in die Dienste des Schatzamts ein, um den Verbleib des gestohlenen Goldes im Wert von vier Millionen Dollar aufzuklären. Dabei stellt er bald fest, dass die beteiligten Männer in den Schaltzentralen der Macht es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen …
Ähnlich wie bei seinem außergewöhnlichen Debütroman „Morddeutung“ hat sich der amerikanische Professor und Schriftsteller Jed Rubenfeld für sein Zweitwerk einen der spektakulärsten Terrorakte in den USA als Grundlage für die interessante Spekulation über die Auflösung des nie aufgeklärten Anschlags gewählt. Seine beiden Protagonisten lässt er dabei in etliche heikle Situationen stolpern und den stummen Sohn von Youngers Freundin Colette in Wien von Sigmund Freud therapieren, der eine der Hauptrollen in „Morddeutung“ spielte. Parallelen zum Auftreten der USA nach dem berüchtigten 11. September sind dabei unverkennbar, aber über die Aufklärung des Attentats hinaus setzt sich Rubenfeld auch noch mit Marie Curie und der Wirkung von Radium sowie der Theorie des titelgebenden Todestriebs auseinander, die Freud 1920 in seinem Aufsatz „Jenseits des Lustprinzips“ darlegte. Freunde historischer Krimis mit wahrem Hintergrund dürften bei diesem elegant geschriebenen Thriller ihre Freude haben, auch wenn die Handlung etwas stringenter hätte vorangetrieben werden können. Doch Rubenfeld hat mit Littlemore und Younger zwei starke Figuren geschaffen, die wie das Literatur–Pendant zur Holmes & Watson-Inkarnation in Guy Ritchies „Sherlock Holmes“ wirken.
Lesen Sie im Buch „Todesinstinkt“

Jussi Adler-Olsen - (Carl Mørck 3) „Erlösung“

Montag, 11. Juli 2011

(dtv, 591 S., Pb.)
Das Sonderdezernat Q des Polizeipräsidiums in Kopenhagen widmet sich unter der Leitung von Carl Mørck alten ungelösten Fällen. Mørck , seinem muslimischen Assistenten Assad und der eigenwilligen Rose fällt eine Flaschenpost aus dem Jahre 1996 in die Hände, die zunächst an der Küste von Schottland aufgefunden wird, aber viele Jahre unbeachtet im Küstenstädtchen Wick auf der Polizeiwache herumstand.
Nach ersten Analysen durch die schottischen Kollegen versucht die Mannschaft des Sonderdezernats das mit Blut beschriebene, kaum noch leserliche Schriftstück zu entziffern und fügt durch Hilfe von Kollegen die Textfragmente wie ein Puzzle zusammen. Während die Ermittler auf den Namen Poul Holt stoßen, der den Hilferuf unterschrieben hat, gehen Carl Mørck & Co aber auch einer Reihe von Brandstiftungen nach, bei denen offenbar schon vorher verbrannte Leichen aufgefunden werden, deren Einkerbungen am kleinen Finger darauf schließen lassen, dass die Opfer einer religiösen Sekte angehören. In diese Richtung führt auch die Suche nach Poul Holt. Und schon wird Carl Mørck klar, warum sich der Kidnapper ausgerechnet Kinder aus einer der vielen Sekten auswählt, die in der dänischen Gesellschaft integriert sind.
„‘Der Entführer sucht sich eine kinderreiche Familie aus“, fuhr Carl fort, während er nach Gesichtern Ausschau hielt, an die zu wenden es sich lohnte. ‚Eine Familie, die – als Zeugen Jehovas – in vielerlei Hinsicht isoliert in der sie umgebenden Gesellschaft lebt. Eine Familie, die relativ starr in ihren Gewohnheiten verankert ist und ein außerordentlich restriktives Leben führt. Eine Familie, die zuletzt auch noch vermögend ist, nicht wirklich steinreich, aber reich genug. Aus dieser Familie wählt der Mörder zwei Kinder aus, die innerhalb der Kinderschar irgendwie einen besonderen Status haben. Er entführt sie beide, und nachdem das Lösegeld bezahlt ist, ermordet er das eine und lässt das andere frei. Jetzt weiß die Familie, wozu er imstande ist. Der Mörder droht dann, er sei bis in alle Zukunft bereit, ohne Vorwarnung ein weiteres Geschwisterkind umzubringen, sollte er den Verdacht hegen, die Familie habe sich mit der Polizei oder der Gemeinde in Verbindung gesetzt oder versuche auf eigene Faust, ihn zu finden.“ (S. 266)
Carl Mørck und sein Team haben alle Hände voll zu tun, die Identität des gewieften Kidnappers und Killers zu ermitteln. Er bewegt sich nicht nur unter verschiedenen Namen, sondern auch mit raffinierten Verkleidungen durch seine „Fanggebiete“ und schreckt vor keinen Mitteln zurück, seine Spuren hinter sich zu verwischen.
Nachdem der vorangegangene zweite Fall „Schändung“ nicht ganz die Erwartung erfüllen konnte, die der furiose Erstling „Erbarmen“ geschürt hat, nimmt Adler Olsen mit „Erlösung“ von Beginn an so richtig Fahrt auf. Die Reihe von ausgetüftelt organisierten Kindesentführungen und –morden in den Reihen dänischer Glaubensgemeinschaften, die es vorziehen, unter sich zu bleiben, geht dem Leser schnell nahe. Der Autor beschreibt sowohl das perfide Handeln des Kidnappers/Killers als auch die Leiden seiner Mitmenschen, die nur ahnen, dass hinter seiner bürgerlichen Maske etwas Böses lauert. Den Wettlauf gegen die Zeit, die das Sonderdezernat Q beim Auffinden der vermissten Kinder zu absolvieren hat, ist actionreich und extrem spannend geschrieben. So muss ein moderner Thriller sein! Einzig die interessanten Persönlichkeiten des Sonderdezernats könnten noch besser ausgeleuchtet werden. Hier sorgt der erfrischende Humor im Umgang zwischen den Kollegen für wohltuende Ablenkung von dem harten Fall, aber Privates wird wieder nur häppchenweise abgerissen. Das macht zumindest neugierig auf die Folgebände.
Lesen Sie im Buch "Erlösung"