Clive Barker - „Abarat – In der Tiefe der Nacht“

Sonntag, 29. Januar 2012

(Heyne, 624 S. HC Leinen im Schuber)
In den 80er Jahren ist Clive Barker mit den „Büchern des Blutes“ als Erneuerer der Horror-Literatur weltberühmt geworden, indem er die Grenzen des Genres bis zum Extremen ausweitete und so zum Mitbegründer der harten Splatterpunk-Spielart erkoren wurde. Seither hat sich der in Liverpool geborene, in Beverly Hills lebende Roman- und Drehbuchautor, Regisseur, Produzent und Maler in den Bereich der dunklen Fantasy verlegt und Meisterwerke wie „Imajica“, „Gyre“ oder „Jenseits des Bösen“ abgeliefert. Was für seinen Kollegen Stephen King die siebenteilige Saga um den „Dunklen Turm“ gewesen ist, stellt für Clive Barker das mittlerweile auf fünf Bände angelegte Epos „Abarat“ dar, nämlich ein apokalyptisches Magnum Opus, das von berauschender Magie durchwebt ist.
Im Mittelpunkt der epischen Geschichte steht Candy Quackenbush, die als 15-Jährige in ihrer unspektakulären Heimatstadt Chickentown einmal über die Stadtgrenzen hinaus gewandert ist und von einer goldenen Wolke angezogen über das Meer Izabella nach Abarat gelangt ist, einem Archipel von 25 Inseln, die jeweils eine Stunde des Tages sowie ein außerhalb der Zeit repräsentieren. Als sie erfährt, dass sie allein den Schlüssel in der Hand hält, Abarat davor zu bewahren, von Lord Carrion in Dunkelheit versinken zu lassen, beginnt für sie eine abenteuerliche, lebensgefährliche Reise, die sie und ihre Gefährten – wie die Gesh-Ratte Malingo und die acht John-Brüder – von Insel zu Insel führen. Zu Beginn von “In der Tiefe der Nacht” muss sich Candy zunächst in Yebba Dim Day vor der Ratskammer verantworten. Sie wird angeklagt, ohne Einladung mit der festen Absicht nach Abarat gekommen zu sein, um Ärger zu stiften und Mater Motley zu ärgern. Zwar geht das Verhör glimpflich aus, doch Candy sieht sich veranlasst, die Hafenstadt auf dem Weg in die Straße der Dämmerung umgehend zu verlassen, denn Mater Motley hat bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt, Candy aufzuspüren und das Abarat nach ihren Vorstellungen neu entstehen zu lassen.
„Eine Dunkelheit zog auf. Eine riesige und unerbittliche Dunkelheit, die jeden Stern, der in den Stunden der Nacht leuchtete, auslöschen würde, genau wie sie jeden Mond zur selben Stunde verfinstern würde und zur selben Zeit alle Sonnen, die in den Himmeln des Tages strahlen, verdunkeln würde. Hätten die Propheten ihre Eitelkeit und Selbstsucht überwunden, als die ersten Vorzeichen der Dunkelheit in ihre Schädel gekrochen waren, und ihre Ängste miteinander geteilt, anstatt sich an ihnen festzuhalten wie an tödlichen Besitztümern, dann hätten sie vielleicht die tragischen Konsequenzen abwenden können, die ihr Neid und ihre Habgier nach sich zogen. Die Tragödie war nicht nur der Verlust dieser prophetischen Seelen, die dem Wahn und der Selbstzerstörung zum Opfer fielen. Die Tragödie war, dass das Abarat in einen Albtraum stürzte, der es auf ewig verändern würde und aus dem es kein Erwachen gab.“ (S. 176 f.) 
Candy stellt allerdings fest, dass sie selbst mit Magie umgehen kann. Doch selbst ihre unvorhergesehenen Kräfte scheinen gegen die grausamen Vorhaben von Mater Motley nichts ausrichten zu können. Erst als Candy zu verstehen beginnt, dass die drei Carrion-Generationen ein dunkles Geheimnis verbindet, gelingt Candy das rettende Ablenkungsmanöver …
Auch wenn der dritte „Abarat“-Band mit stolzen 78 € zu Buche schlägt, ist der Preis mehr als gerechtfertigt. Schließlich gelangen gerade mal 1650 nummerierte Exemplare dieses epochalen Fantasy-Schmuckstücks in den Handel, wobei die über 600 Hochglanzseiten mit mehr als 100 Illustrationen des Autors verziert sind, die dieser in zwölf Jahren in Öl auf Leinwand kreiert hat (für den gesamten „Abarat“-Zyklus).
Clive Barker will seinen Lesern so mehrere Ebenen des Zugangs zu seiner fantastischen Geschichte gewähren, der nicht immer leicht zu folgen ist, die aber vor überbordender Imagination und Sprachgewalt nur so strotzt. Ähnlich wie Walter Moers mit seinen Zamonien-Schmökern entfacht Clive Barker mit den „Abarat“-Büchern eine ganz eigene Welt voller skurriler Figuren, sonderbarer Magie und schillernden wie düsteren Welten zwischen dem Hernach und Einstweilen, dass es ein intellektueller Spaß sondergleichen ist, sich in diese fremden Welten entführen zu lassen.
Lesen Sie im Buch: Clive Barker – „Abarat – In der Tiefe der Nacht“

David Nicholls – „Ewig Zweiter“

Sonntag, 15. Januar 2012

(Kein & Aber, 384 S., HC)
Stephen C. McQueen wartet seit Beginn seiner jetzt elfjährigen Schauspielkarriere auf den großen Durchbruch. Bislang hat es für den Namensvetter des großen amerikanischen Darstellers Steve McQueen („Bullitt“) nur für die Darstellung von sechs Leichen gereicht und eine Hauptrolle als Sammy das Eichhörnchen. Und nun spielt der 32-Jährige die Zweitbesetzung der Hauptrolle in einem Stück über Lord Byron am Hyperion Theatre in London.
Wochenlang wartet er darauf, dass sein Freund Josh Harper, der jüngst von den Leserinnen einer Frauenzeitschrift zum zwölftsexiesten Mann der Welt gekürt wurde, seine Rolle nicht antreten kann, damit Stephen dem Publikum endlich zeigen kann, was in ihm steckt. Seine Ex-Frau Alison nimmt Stephens Ambitionen ebenso wenig ernst wie seine aufgeweckte siebenjährige Tochter Sophie, doch Stephen glaubt nach wie vor unerschütterlich an seine Chance.
„Was Ruhm anging, wollte er gar nicht prominent sein, oder zumindest nicht so weltberühmt wie Josh Harper. Er musste sein Bild nicht auf Kühlschrankmagneten oder Happy Meals entdecken. Auch hatte er nicht das Verlangen, seine alten Kippen bei eBay versteigert zu sehen, oder das dringende Bedürfnis, in Restaurants den besten Tisch zu ergattern, oder den geheimen Wunsch, im Urlaub auf der Privatinsel eines Freundes per Teleobjektiv schmerbäuchig in Badehosen abgelichtet zu werden. Ruhm interessierte Stephen nur als unvermeidlicher, wenn auch nicht unangenehmer Nebeneffekt guter Arbeit. Alles, was er wollte, war Vollbeschäftigungsruhm. Anerkennungsruhm. Was es umso frustrierender machte, in einem Schauspieljob festzustecken, der praktisch keine Schauspielerei erforderte.“ (S. 33) 
Als Josh ihn zu einer privaten Party einlädt, hofft seine Zweitbesetzung darauf, wichtige Kontakte zu Agenten, Produzenten und Regisseuren knüpfen zu können, dabei wollte Josh ihn nur als zusätzlichen Kellner engagieren. Wenigstens lernt Stephen auf der Party Joshs außergewöhnliche Frau Nora kennen und verliebt sich sofort in sie. Stephen gerät zwischen alle Fronten, als er zufällig Zeuge wird, wie Josh in der Garderobe seine Kollegin vögelt, und Josh ihn natürlich bittet, Nora nichts von seinen sexuellen Eskapaden zu erzählen. Doch genau das würde Stephen am liebsten tun, weil er mit dieser Enthüllung Nora in seine Arme treiben könnte. Stattdessen wird sein Leben noch komplizierter, als es ohnehin schon gewesen ist …
Bereits mit seinem Romandebüt „Keine weiteren Fragen“ hat sich der britische Autor David Nicholls eines Antihelden angenommen, den er auf sympathische Weise durch ein verkorkstes Leben taumeln ließ. Dass das Konzept auch im Nachfolgewerk vollkommen aufgeht, ist Nicholls sehr lebendiger Sprache, der authentischen Zeichnung seiner Figuren und eines überzeugenden Plots zu verdanken, der mit viel augenzwinkerndem Humor vorangetrieben wird, ohne seinen Protagonisten der Lächerlichkeit preiszugeben.

David Nicholls - "Keine weiteren Fragen"

Freitag, 16. Dezember 2011

(Kein & Aber, 439 S., HC)
Ein wenig stolz ist er schon, als er 1985 an der Langley-Street-Gesamtschule ein spitzenmäßiges Abitur hinlegt, doch darüber hinaus hat der zwar volljährige, ansonsten aber in jeder Hinsicht lebensunerfahrene Brian Jackson nicht viel vorzuweisen. Nachdem er in den Ferien bei einem Elektronik-Versandhandel gejobbt hat, freut sich der mit Akne übersäte Jüngling auf den Beginn seines Studiums.
Mit Beginn seiner akademischen Lehre hofft Brian, endlich die Weltgewandtheit, Souveränität und Attraktivität zu gewinnen, die ihm bislang so schmerzhaft abgegangen ist. Doch bereits die Ankunft im Richmond House erweist sich als ernüchternd.
„Meine Bude ist ein Loch. Das Zimmer besitzt den ganzen Reiz und Charme vom Schauplatz eines Verbrechens; Ein-Personen-Matratze auf einem Bettgestell aus Metall, Kleiderschrank und Schreibtisch aus passendem Sperrholz, zwei Holzimitat-Regalbretter aus Resopal. Die Teppiche sind schlammbraun und offenbar aus gepresstem Schamhaar gewebt. Ein schmutziges Fenster vom Schreibtisch geht auf die Mülltonnen hinaus, während ein gerahmtes Schild die Verwendung von Reißzwecken an den Wänden bei Todesstrafe verbietet. Aber ich wollte eine Mansarde, und jetzt hab ich eine Mansarde. Machen wir das Beste draus.“ (S. 35) 
Brian bewirbt sich mit seinem Team für das populäre wie anspruchsvolle Fernsehquiz „University Challenge“, ist aber nur als Ersatzmann eingeplant. Wenn es nach Teamchef Patrick ginge, würde Brian bei den Proben gar nicht anwesend sein müssen, da sich Brian in seine Team-Kollegin Alice verguckt hat. Doch der Weg, ihr Herz zu gewinnen, erweist sich als ebenso steinig, wie es Brians bisherigen Lebensweg angemessen scheint. Und auch seine Präsentation im Team und der Umgang mit KommilitonInnen sparen nicht an unrühmlichen Episoden. Doch irgendwie mogelt sich Brian auf seine unbekümmerte Art durchs universitäre Leben und scheint seinen Zielen immer näher zu kommen …
Mit „Keine weiteren Fragen“ hat der in London lebende Ex-Schauspieler und Drehbuchautor David Nicholls („Cold Feet“, „I Saw You“, „Rescue Me“) ein beeindruckendes, vor allem umwerfend komisches Debüt als Romancier hingelegt. Sein Protagonist ist ein spätpubertierender, überheblicher wie unsicherer Loser, wie er im Buche steht, doch zeichnet Nicholls ihn auf liebenswerte Art, die beim Leser immer wieder Mitleid für den Antihelden hervorruft. Dabei verleiht er dem Geschehen das passende 80er-Jahre-Flair mit vor allem musikalischen Verweisen (Kate Bush, Led Zeppelin etc.) und versteht es, der amüsanten Geschichte immer wieder neue zwerchfellerschütternde Aspekte zu verleihen.

David Baldacci – Camel Club: 1: „Die Wächter“

Sonntag, 27. November 2011

(Lübbe, 589 S., HC)
West-Point-Absolvent Reuben Rhodes war nach drei Dienstzeiten in Vietnam dem militärischen Geheímdienst zugeteilt worden, kehrte aber der militärischen Laufbahn bald den Rücken zu und wandte sich verschiedenen Protestbewegungen gegen den Krieg zu, bis er einen Job in einer Lagerfirma annahm. Caleb Shaw darf sich zweier Doktortitel in Politikwissenschaften und Literatur rühmen, arbeitet nun aber in der Raritätenabteilung der Kongressbibliothek. Milton Farb zeichnet sich durch eine geistige Brillanz aus, die ihm einen Job in der Forschung für die Nationale Gesundheitsbehörde eintrug, aber eine Zwangsstörung mit starken paranoiden Symptomen führte ihn in eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, wo er Oliver Stone kennenlernte.
Einst diente Stone seinem Land als John Carr im Geheimdienst, wurde für tot erklärt und verbringt seine Tage nun als Friedhofswärter und campierte in einem Zelt vor dem Regierungskomplex in Washington, um dort mit Gleichgesinnten gegen die Verschleierungspolitik von Präsident Brennan und seinem Kabinett zu protestieren.
„Vor langer Zeit hatte er den Camel Club zu dem Zweck gegründet, den Mächtigen auf die Finger zu schauen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf deren Treiben zu lenken, sobald die Machtelite krumme Dinger drehte – und das kam öfters vor. Seitdem blieb Stone vor der 1600 Pennsylvania Street auf Posten, schrieb seine Beobachtungen auf, trat für Werte ein, die andere Leute anscheinend nicht mehr als wichtig erachteten – Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit zum Beispiel. Allmählich aber fragte er sich, ob der ganze Aufwand lohnte.“ (S. 69f.) 
Gemeinsam bilden die vier als selbsternannte Wächter über die kleinen und großen Skandale im Regierungsgeschäft den sogenannten „Camel Club“. Getreu dem Motto „Ich will die Wahrheit wissen“ analysieren sie das aktuelle Tagesgeschehen und nehmen sich vor, Geheimdienstzar Carter Gray zu stürzen, der als rechter Hand des Präsidenten in den Augen des Clubs zu viel Macht in seinen Händen hält. Als sie in der Nähe ihres geheimen Versammlungsortes zufällig Zeuge eines Mordes werden, kommen sie einem Komplott auf die Spur, bei dem der Präsident entführt und die Schuld den Syrern in die Schuhe geschoben wird, deren Hauptstadt Damaskus in Schutt und Asche gelegt werden soll. Stone und seinen Gefolgsleuten bleibt mit der Unterstützung von Secret-Service-Agent Alex Ford nicht viel Zeit, die Drahtzieher der Verschwörung zu identifizieren …
„Die Wächter“ bildet den interessanten Auftakt einer neuen Reihe des amerikanischen Thriller-Autors David Baldacchi („Der Präsident“), in der von der Gesellschaft und Regierung ausgesonderte Elite-Köpfe einen ambitionierten Club bilden, der sich nichts weniger auf die Fahnen geschrieben hat, als gegen Verfehlungen der Regierung und ihrer Apparate vorzugehen. Baldacci etabliert zwar sympathische Figuren, verleiht ihnen aber leider wenig Profil. Dieses Manko wird hoffentlich in den Folgebänden behoben. Die Story hat in sich, wirkt aber auch über die Maßen spektakulär und deshalb wenig glaubwürdig. Davon abgesehen, ist ihm der Plot extrem spannend gelungen, so dass man weiteren Bänden in der „Camel Club“-Reihe durchaus gespannt entgegensehen darf.

David Baldacci – „Die Verschwörung“

Dienstag, 15. November 2011

(Bastei Lübbe, 480 S., Tb.)
Ein längst vergessener Atomschutzbunker dient einer Gruppe von hohen Geheimdiensttieren als Besprechungsraum. Unter der Leitung des höchstdekorierten CIA-Veteranen Robert Thornhill steht diesmal die Eliminierung von Faith Lockhart auf der Tagesordnung, der Assistentin des prominenten Washingtoner Lobbyisten Danny Buchanan.
Während Thornhill nämlich versucht, über die Erpressung Buchanans eine Gesetzesvorlage im Kongress durchzubringen, mit der die CIA größtmögliche Macht zurückgewinnt, will Lockhart beim FBI über die Praktiken ihres Chefs auspacken. Doch das geplante Attentat schlägt fehl, als der von Buchanan engagierte Privatdetektiv Lee Adams Lockhart retten kann, während stattdessen der ihr zum Schutz abgestellte FBI-Mann sich die Kugel einfängt. Von nun an befinden sich Lockhart und Adams sowohl vor der CIA als auch dem FBI auf der Flucht …
Schon die Ausgangssituation des bereits 1999 von David Baldacci veröffentlichten Thrillers „Die Verschwörung“ mutet verwirrend an und bleibt es über weite Strecken auch. Baldaccis Stärke liegt hier in der komplexen Inszenierung einer grandiosen Verschwörung innerhalb höchster Geheimdienstkreise, der sich ein zufällig zusammengewürfeltes Paar erwehren muss. Die Handlung ist dabei nicht immer einfach zu verstehen oder logisch nachzuvollziehen, dafür sind Baldacci seine Figuren wie immer sehr lebendig gelungen, die beiden Protagonisten dabei auch so sympathisch, dass man sie von Beginn an ins Herz schließt und hofft, dass sie irgendwie den Schlamassel, in den sie da geraten sind, überstehen. Bis dahin sind allerdings einige Längen zu überbrücken, aber diese kleine Schwäche hat der amerikanische Bestsellerautor in seinen späteren Werken souverän beheben können.

Walter Moers – „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“

Sonntag, 30. Oktober 2011

(Knaus, 432 S., HC)
Nachdem Walter Moers durch seine oft politisch unkorrekten Comics um das „Kleine Arschloch“ und „Adolf“ bereits zur Kultfigur avancierte, überraschte er 1999 mit seinem ersten Roman „Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär“, der nur wenig mit der aus der „Sendung mit der Maus“ bekannten Figur gemeinsam hatte, dafür dem Leser die wunderbare Welt Zamoniens vorstellte. Seither hat er mit Werken wie „Rumo & die Wunder im Dunkeln“ und „Die Stadt der Träumenden Bücher“ gefeierte Meisterwerke der Fantasy-Literatur veröffentlicht, die er selbst liebevoll und reichhaltig illustrierte. An letztgenanntes Werk schließt auch „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“ an.
Hildegunst von Mythenmetz suhlt sich im Licht seines literarischen Ruhms, vernachlässigt aber seine künstlerische Mission. Zweihundert Jahre nach der Feuersbrunst, die der Schattenkönig ausgelöst und damit Buchhaim, die Stadt der Träumenden Bücher, vernichtet hat, führt ein geheimnisvoller Brief mit den vertrauten Worten „Hier fängt die Geschichte an“ zurück nach Buchhaim, wo Mythenmetz eine völlig veränderte Stadt vorfindet. Lebende historische Zeitungen bringen Mythenmetz die Ereignisse der vergangenen Jahre ins Bewusstsein, er begegnet seinem Schriftstellerkollegen Ovidios, der ihm erklärt, warum Buchhaim wieder so ein blühendes Zentrum des Buchhandels geworden ist.
„Der letzte Brand von Buchhaim verursachte keinen Exodus, sondern eine Zuwanderung, wie sie die Stadt noch nie erlebt hatte. Abenteurer, Buchverrückte, Dichter und Möchtegern-Dichter, Verleger ohne Verlag, Lektoren ohne Anstellung, Übersetzer ohne Auftrag, Drucker, Leimsieder, Maurer, Buchbinder, Dachdecker, Buchhändler, kurz: Kopfarbeiter und Handwerker aller Art wurden von der halbzerstörten, frisch erblühenden Stadt magnetisch angezogen. Nirgendwo sonst konnte man so fundamental neu anfangen wie in Buchhaim. Egal, ob mit der Schreibfeder oder mit der Mörtelkelle. Nur in dieser wahnsinnigen Stadt konnte man an einer kollektiven Wiedergeburt teilhaben. Und nirgendwo sonst konnte man, wenn einem das Glück hold war, so verdammt reich werden.“ (S. 106)
Mittlerweile wird die Stadt der Träumenden Bücher von so skurrilen Spezialisten wie den Biblionisten, Bibliodromen, Bibionären, Biblioklasten, Bibliogeten, Bibliodonten, Bibliophanten, Bibliophagen etc. bevölkert, wie Mythenmetz von Ovidios erfährt, doch die eigentliche Attraktion verbirgt sich im Puppetismus. Mythenmetz‘ alte Vertraute, die Schreckse Inazea Anazazi, führt ihn in die mannigfaltigen Spielarten einer Kunst ein, deren höchste Vervollkommnung das „Unsichtbare Theater“ zu sein scheint. Um es zu erleben, wird Mythenmetz allerdings gezwungen, in die gefürchteten Katakomben Buchhaims zurückzukehren …
Es braucht nur wenige Worte, bis der geneigte Leser ganz in die wunderbare Zamonien-Welt eingetaucht ist, die Walter Moers mit seinen bisherigen Romanen so eindrucksvoll geschaffen hat. Mit sichtlicher Fabulierfreude, unzähligen liebevollen Illustrationen und allerlei aufwändigen grafischen Spielereien, die das mit Worten Geschilderte sogleich lebendig werden lassen, ohne die Phantasie des Lesers zu bemühen, lässt Moers seinen erfolgsverwöhnten, doch längst vom Orm verlassenen Helden die Veränderungen erleben, die Buchhaim seit seinem Abschied vor zweihundert Jahren durchgemacht hat. Allerdings wird so viel beschrieben und erklärt, dass die Handlung viel zu kurz kommt und ein spannender Erzählfluss erst entsteht, als sich „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“ dem Ende nähert. Dann, im Nachwort des „Übersetzers“, als der Walter Moers für die Erlebnisse seines Protagonisten fungiert, erfahren wir, dass aus dem einen geplanten Werk nun zwei werden. Wollen wir also hoffen, dass sich in der Fortsetzung die Handlung etwas straffer entwickelt als in diesem sicher lesenswerten, über lange Strecken allerdings etwas ermüdenden Roman.
Lesen Sie im Buch: Walter Moers – „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“

Richard Laymon: „Der Wald“

Sonntag, 9. Oktober 2011

(Heyne, 432 S., Tb.)
Karen ist recht aufgeregt, das erste Mal mit ihrem neuen Freund Scott O‘Toole, seinen Kindern Julie und Benny sowie der mit ihm befreundeten Familie Gordon eine Woche in den Bergen zu campen. Flash hat mit Scott in Vietnam gedient und wird immer wieder an die dramatischen Ereignisse dort erinnert. Zusammen mit seiner Frau Merle und den Kindern Nick, Heather und Rose will er in den Bergen ebenso wie die O’Tooles einfach eine unbeschwerte Zeit erleben.
Vor allem Karen und Scott genießen das prickelnde Gefühl, ihren ersten gemeinsamen Urlaub in der unberührt erscheinenden Natur zu verbringen und sich für ihr „erstes Mal“ aus ihren jeweiligen Zelten zu schleichen. Doch auch die beiden Teenager Nick und Julie finden Gefallen aneinander und erfreuen sich an ihren ersten sexuellen Erfahrungen.
„Seine Hüfte lag schwer auf ihrem Geschlecht. Keuchend reib sie sich daran. Eine Brust lag unter seinem Oberkörper, während er die andere massierte und den aufgerichteten Nippel streichelte. Stöhnend wand sie sich vor Verlangen und drückte Nicks Gesicht weg. Sie führte seinen Kopf tiefer. Er küsste die Brustwarzen. Er leckte sie. Er nahm sie in den Mund. Er saugte daran, und Julie wimmerte. Er hob besorgt den Kopf, aber sie drückte ihn hinunter und hielt ihn dort. Er saugte fester. Es tat weh, doch zugleich wurde Julie von Wellen der Lust überspült.“ (S. 343) 
Doch die erotischen Freuden erhalten einen empfindlichen Dämpfer, als die Camping-Gruppe von zwei Wilden überfallen wird. Nachdem Karen vergewaltigt worden ist, erschlägt Nick den Täter mit einem Beil, doch die Leiche verschwindet auf ominöse Weise. Als die meisten Camper mit unerklärlichen Schnittwunden den Urlaub abbrechen, glaubt vor allem Nick an einen Voodoo-Fluch, der von der Mutter des toten Jungen über sie gebracht wurde, und tatsächlich stoßen ihnen daheim seltsame Unfälle zu …
Richard Laymon hat es sich während seiner höchst erfolgreichen, durch seinen plötzlichen Tod im Jahre 2001 leider viel zu früh beendeten Karriere zur Aufgabe gemacht, vertraute Themen der Horror-Literatur mit neuen Aspekten zu versehen, wofür vor allem „Der Ripper“ und „Die Insel“ großartige Beispiele darstellen.
In dem 1987 verfassten „Der Wald“ kombiniert Laymon das beliebte Wilde-fallen-im-Wald-über-ahnungslose-Camper-her-Motiv mit Elementen aus der Voodoo-Kultur und ergötzt sich – wie obiges Zitat verdeutlicht – an lustvollen Beschreibungen sexueller Vergnügungen, die schon etwas pubertäres Voyeuristisches an sich haben. Aber wie für alle Laymon-Romane gilt auch hier, dass die Geschichte von lebendigen Dialogen und authentischen Normalbürgern geprägt wird, die in lebensbedrohliche Ausnahmesituationen geraten. Das ist einfach souverän geschriebene Horror-Literatur mit viel Sex und Action!
Lesen Sie im Buch: Richard Laymon – „Der Wald“