Jack Ketchum & Lucky McKee – „Beuterausch“

Sonntag, 1. April 2012

(Heyne, 288 S., Tb.)
Nachdem die Auseinandersetzung zwischen dem Kannibalenstamm, der über viele Jahrzehnte hinweg an der amerikanischen Ostküste sein Unwesen getrieben hatte, und der Polizei in einem wüsten Gemetzel endete, hat sich die einzig überlebende Frau in eine Höhle zurückgezogen, der auch einem sterbenden Wolf als Unterschlupf dient. Doch auf der Suche nach weiterer Nahrung gerät sie in die Gefangenschaft des Anwalts und Hobbyjägers Chris Cleek, der mit seiner Familie zurückgezogen in einer Kleinstadt lebt und es sich zur Aufgabe macht, die Wilde mit ihrem tierhaften Benehmen im Keller zu domestizieren.
Anfangs stößt er auf Unverständnis bei seiner Frau Belle und den jugendlichen Kindern Peg und Brian, doch bald kann er sich der tatkräftigen Unterstützung seiner Zöglinge erfreuen.
„Er hat die Frage, warum er dies tut, von allen Seiten durchdacht und keine Antwort gefunden, außer dass er es will. Er weiß, es ist gefährlich, ganz abgesehen davon, dass sie rein körperlich eine verdammte Bestie ist, könnte er vermutlich ein Dutzend oder mehr Gesetze aufzählen, gegen die er verstößt, und seine einzige Rechtfertigung dafür, sie alle diesem Risiko auszusetzen, ist, dass er herausfinden will, wie sein kleines Experiment ausgeht. Genau wie seine fröhliche, liebe Säuferin von einer Mutter Chris ihr eigenes kleines Experiment bezeichnete, womit sie sagen wollte, klar, sie hatte ein Kind, aber sie würde niemals freiwillig ein weiteres auf die Welt bringen. Doch er sieht das Wilde in ihr, und es zieht ihn an, reizt seinen Schwanz und seinen Kopf, das ist ihm bewusst, und er will sie unbedingt zähmen, er will wissen, ob es möglich ist.“ (S. 130 f.) 
Jack Ketchum ist kein Freund konventioneller Geschichten ohne Gewalt und Sex. Aber bei aller expliziter Schilderung von brutaler Gewalt und unfreiwilligem Sex darf man nicht außer Acht lassen, worum es dem ehemaligen Schauspieler, Lehrer, Literaturagenten und Holzverkäufer Dallas Mayr – so Ketchums richtiger Name – eigentlich geht, nämlich die Perversionen zu beschreiben, die sich hinter den so spießbürgerlich anmutenden Türen der Zivilisation abspielen. Indem er – wie schon in den „Beuterausch“-Vorläufern „Beutegier“ und „Beutezeit“ – vermeintlich zivilisierte Menschen auf Kannibalen treffen lässt, die sich wie Urzeitmenschen verhalten, macht Ketchum deutlich, dass sich die modernen Menschen im Grunde nicht viel anders verhalten als ihre jahrtausendealten Vorfahren. Dabei geht es auch in „Beuterausch“ nicht nur um die Konfrontation zwischen wilden und zivilisierten Menschen, sondern auch darum, welche Dramen sich innerhalb der modernen Familie abspielen. All dies beschreibt Ketchum in seiner typisch unverblümten, rohen Sprache, die wenig der Fantasie überlässt.
An den mit 230 Seiten relativ kurzen Roman schließt sich die 50-seitige Kurzgeschichte „Das Vieh“ an, das als längerer Epilog die Geschichte von „Beuterausch“ zu einem ernüchternden Ende bringt. Übrigens wurde „Beuterausch“ von Co-Autor Lucky McKee unter dem Titel „The Woman“ verfilmt.
 
Lesen Sie im Buch: Jack Ketchum & Lucky McKee – „Beuterausch“
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Robert Ludlum (mit Eric Van Lustbader) – „Das Bourne Duell“

Mittwoch, 28. März 2012

(Heyne, 590 S., HC)
Seit Thriller-Bestseller-Autor Robert Ludlum im Jahre 2001 verstorben ist, erscheinen seine Romane aus dem Nachlass in Zusammenarbeit mit anderen Autoren. Die Fragmente zur Jason-Bourne-Reihe vollendet beispielsweise Eric Van Lustbader. Der geneigte Leser muss dabei nicht nur ein Faible für Action à la James Bond und geheimdienstliche Verschwörungen mitbringen, sondern auch einen ausgeprägten Sinn für sehr komplexe Verstrickungen.
Bereits auf den ersten 100 Seiten des neuen Jason-Bourne-Abenteuers wird der Leser mit einer ganzen Reihe von Personen, ihren komplizierten Beziehungen zueinander, exotischen Schauplätzen und vergangenen Ereignissen konfrontiert, die erst im Verlauf der folgenden knapp 500 Seiten aufgelöst werden. Für Jason Bourne beginnt das neue Abenteuer im Dschungel von Karangasem im südöstlichen Bali, wo er Noah Perlis finden wollte, der wiederum Holly Marie Moreau ermordete, um einen geheimnisvollen Ring zu bekommen, der sich jetzt in Jasons Besitz befindet. Um herauszufinden, warum Perlis an den Ring gelangen wollte, macht sich Jason auf den Weg nach London, wo Perlis seinen Hauptwohnsitz hatte und wo Holly war, bevor sie nach Bali zurückkehrte. Bourne sucht in London zunächst Perlis‘ Wohnung auf, wo er Hinweise darauf findet, dass Perlis, Holly, Diego Herrara und Jasons getötete Freundin Tracy miteinander zu tun hatten. Zusammen mit Tracys Schwester Chrissie versucht Bourne die Inschrift des Rings zu entziffern, den er Noah Perlis abgenommen hatte, und stößt auf einen aus drei Sprachen zusammengesetzten Code, der auf eine Geheimorganisation namens Severus Domna verweist.
„Schon allein die Worte Severus Domna riefen so etwas wie ein fernes Echo in ihm hervor. Es machte ihn verrückt, dass er einfach nicht imstande war, die Erinnerungen aus dem Nebel der Vergangenheit heraufzuholen. Er war sich sicher, dass er einmal etwas darüber gewusst hatte. Warum? War diese Gruppe oder Organisation einmal das Ziel einer Treadstone-Operation gewesen, mit der ihn Conklin betraut hatte? Er hatte den Dominion-Ring von irgendwoher bekommen, aus einem bestimmten Grund – aber alles andere war wie im Nebel verborgen. Warum hatte Hollys Vater den Ring von seinem Bruder gestohlen? Warum hatte er ihn Holly gegeben? Wer war ihr Onkel, was hatte er ihm bedeutet? Holly konnte er nicht mehr fragen. Höchstens ihren Onkel, wer immer er war.“ (S. 203) 
Währenddessen wird die CI-Agentin Soraya Moore von dem neuen DCI M. Errol Danziger unter dem Vorwand gefeuert, dass die Ägypterin mit dem Leiter des ägyptischen Geheimdienstes liiert sei. Durch ihre Freundin Delia Trane bekommt Soraya jedoch bald einen neuen Job zugeschanzt: Peter Marks heuert sie für das reaktivierte Treadstone-Projekt an, das einst Jason Bourne und Leonid Arkadin zu perfekten Tötungsmaschinen ausgebildet hatte. Nun hat Oliver Liss, einer der ehemaligen Direktoren der aufgelösten Black River Organisation, den Neubeginn des umstrittenen Projekts finanziert, um Verteidigungsminister Halliday politisch unschädlich zu machen. Doch Liss wird von seiner Vergangenheit ebenso eingeholt wie Arkadin und Bourne, die von verschiedenen Seiten ins Hochgebirge von Marokko gelotst werden, wo herausgefunden werden soll, wer die bessere Tötungsmaschine von beiden ist. Die ehemalige Black-River-Mitarbeiterin Moira Trevor, die mit ihrem eigenen Unternehmen Heartland Risk Management kurz vor dem Ende steht, bekommt den lukrativen Auftrag, für den Marokkaner Jalal Essai einen gestohlenen Laptop wiederzubeschaffen, der sich angeblich in Jason Bournes Besitz befinden soll. Zusammen mit dem geheimnisvollen Ring soll auf dem Laptop eine Datei entschlüsselt werden können, die auf den Schatz von König Salomon hinweisen soll …
„Das Bourne Duell“ bietet wie seine Vorläufer Spannung und Action im Minutentakt. Dazwischen nehmen sich Ludlum und Van Lustbader immerhin noch etwas Zeit, ihre Hauptfiguren mit Leben und Gefühlen zu füllen. Allerdings sind wie immer so viele Figuren an dem geheimdienstlichen Verwirrspiel beteiligt, dass man schnell den Überblick verliert, wer sich warum wo gerade mit wem arrangiert, überwirft und aus nicht immer transparenten Gründen auf falsche Fährten lockt. Es ist aber bewundernswert, wie am Ende all die losen Fäden zusammengeführt werden. Außerdem werden wieder so viele neue Entwicklungen in Gang gesetzt, dass man sich mit Spannung fragt, mit welchen Problemen Jason Bourne in Zukunft unter den neuen Voraussetzungen zu kämpfen hat.
Lesen Sie im Buch: Ludlum, Robert; Lustbader, Eric Van - Das Bourne Duell
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David Guterson – „Ed King“

Sonntag, 25. März 2012

(Hoffmann und Campe, 383 S., HC)
Nachdem seine Frau Lydia einen Nervenzusammenbruch hatte und ihr Psychiater meinte, dass sie eine Zeit lang von allen häuslichen Arbeiten und Pflichten entbunden werden müsste, stellt der Versicherungsstatistiker Walter Cousins 1962 das fünfzehnjährige Au-pair Diane Burroughs ein. Das britische Mädchen kümmert sich nicht nur um den Haushalt und die beiden Kinder Barry und Tina, sondern lässt sich auch auf eine Affäre mit dem Strohwitwer ein. Als Diane Walter mitteilt, dass sie schwanger ist, wird Walter zu einer monatlichen Zahlung von fünfhundert Dollar erpresst, obwohl sie das Kind zur Adoption freigibt.
Das ausgesetzte Baby wird von seinen neuen Eltern Alice und Dan King Edward Aaron getauft und macht sich neben seinem neuen Bruder Simon ganz prächtig. Diane schlägt sich derweil als Edelprostituierte durch, heiratet einen liebevollen und vermögenden, aber langweiligen Unternehmer, lässt sich scheiden und versucht als Koksdealerin zu Vermögen zu kommen. Auf schicksalhafte Weise kreuzen sich noch einmal die Wege von Ed und seinem leiblichen Vater, dessen Leben seit der Affäre völlig aus den Fugen geraten ist.
„‘Habe ich jemals etwas richtig gemacht?‘, dachte Walter. ‚Mein Sohn verachtet mich, meine Tochter hasst mich, meine Frau misstraut mir, und im Büro halten mich vermutlich alle für einen Vollidioten. Und obendrein bin ich auch noch ein notorischer Fremdgeher. Ich bin ein Dreckskerl, der mit der besten Freundin seiner Frau ins Bett gestiegen ist. Ich bin ein unverbesserlicher, mieser Lügner. Ich habe mich von einem gottverdammten Teenager auf fünfhundert Dollar im Monat erpressen lassen und werde seit … seit mehr als sechzehn Jahren bis aufs Blut ausgequetscht. Das sind, wie viel, hunderttausend Dollar? Mein Gott, was denn noch? Geht’s noch tiefer runter? Aber ja, nicht zu vergessen, ich hatte Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen. Ich habe ein uneheliches Kind gezeugt, von dem ich nicht das Leiseste weiß. Das ist die wahre Geschichte meines Lebens.‘“ (S. 129) 
Dagegen macht Walters unbekannter Sohn Ed nach verschiedenen Irrungen und Wirrungen jugendlicher Selbstfindung Karriere in der Internet-Branche und versucht schließlich doch, dem Geheimnis seiner Erzeuger auf die Spur zu kommen, nachdem sein demenzkranker Großvater eine bedeutungsvolle Andeutung gemacht und der „King der Suchmaschinen“ herausgefunden hat, dass sein Bruder und er über ganz verschiedene Gene verfügen.
David Guterson, der mit seinem Debütroman „Schnee, der auf Zedern fällt“ weltbekannt geworden ist, erweist sich mit seiner Neufassung des Ödipus-Mythos als meisterhafter Erzähler verschiedener Schicksale, denen er in episodenhaften Kapiteln von den 60ern bis in die nahe Zukunft nachgeht. Dabei nimmt er sich viel Zeit für die einzelnen Figuren, die allesamt ihre eigene Vorstellung davon entwickeln, den amerikanischen Traum zu verwirklichen, aber stets die falschen Fährten einzuschlagen scheinen. Guterson folgt diesen verschlungenen Wegen mit leichter Sprache und viel Witz, ohne seine Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben. Vielmehr zeichnet er anhand verschiedener Schicksale ein stimmiges Portrait der amerikanischen Mittelschicht quer durch die letzten Jahrzehnte und vermag dabei auch das entsprechende Zeitkolorit stimmungsvoll zu erfassen.
Lesen Sie im Buch: David Guterson – „Ed King“
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Stephen King – „Der Anschlag“

Samstag, 24. März 2012

(Heyne, 1056 S., HC)
Seine Ex-Frau Christy hat Jake Epping stets vorgeworfen, ihn niemals weinen gesehen zu haben, doch als der am English Department der LHS lehrende Lehrer den Aufsatz eines erwachsenen Schülers liest, in dem er schildert, wie sein Vater seine Mutter und die beiden Brüder erschlagen, seine Schwester und ihn selbst schwer verletzt hat, weint er erstmals bittere Tränen. Zwei Jahre später hat dieser Schüler, Harry Dunning, sein Diplom in der Tasche, da bekommt Jake einen dringenden Anruf von Al Templeton, in dessen Diner Jake oft zu Gast ist. Als Jake seinen geschätzten Wirt besucht, muss er feststellen, dass dieser schwer an Krebs erkrankt ist und nicht mehr viel Zeit hat.
Er bittet Jake, in den Vorratsraum zu gehen und die Treppe hinabzusteigen. Nach wenigen Schritten hat Jake eine andere Welt betreten – Jake ist ihm Jahre 1958 gelandet. Nachdem sich Jake etwas umgesehen hat und mächtig fasziniert ist, gewinnt ihn Al für eine heikle Mission: Er soll das Attentat auf John F. Kennedy verhindern, der am 22. November 1963 in Dallas erschossen wurde. Al hat selbst etliche Missionen in die Vergangenheit unternommen, um Informationen zur Ausführung des Attentats in einem Notizbuch zusammenzutragen. Jake muss sich zunächst vergewissern, ob Lee Harvey Oswald tatsächlich allein für das Attentat verantwortlich gewesen ist. Doch vorher testet Jake am Fall der Familie Dunning, ob er die Raserei des Vaters unterbinden kann und wenn ja, was diese Veränderung in der Vergangenheit für die Zukunft bewirkt.
„Aber was hatte ich damit im Jahr 2011 bewirkt? Was hatte ich dem Jahr 2011 angetan? Das waren Fragen, die noch beantwortet werden mussten. Sollte wegen des Schmetterlingseffekts irgendetwas Schreckliches passiert sein, konnte ich jederzeit zurückgehen und es ungeschehen machen … immer vorausgesetzt, dass ich durch meinen Eingriff in das Leben der Familie Dunning nicht auch Al Templetons Leben verändert hatte. Was war, wenn der Diner nicht mehr dort stand, wo ich ihn verlassen hatte? Was war, wenn sich herausstellte, dass Al niemals von Auburn nach Lisbon Falls umgezogen war? Oder niemals ein Schnellrestaurant eröffnet hatte?“ (S. 279) 

Nach dem bestandenen Testlauf legt sich Jake in der alten Welt eine neue Identität als George Amberson zu, nimmt einen Job als Aushilfslehrer an und verliebt sich in die Bibliothekarin Sadie Dunhill. Doch je mehr sich George in die Vergangenheit einmischt, desto mehr bekommt er zu spüren, dass sich die Vergangenheit dagegen wehrt …

Ähnlich wie seine Kollegen Clive Barker oder Dean Koontz hat sich Stephen King längst von den Konventionen des Horror-Genres, in dem sie allesamt großgeworden sind, verabschiedet und erzählt in seinen weiterhin üppigen Werken große Geschichten voller Dramatik und Spannung. In dieser Hinsicht bildet „Der Anschlag“ einen absoluten Höhepunkt in dem Schaffen des Bestseller-Autors. Mit großartigem Gespür für seine Figuren und detailreicher Beschreibung der Zeit von Kennedy, Elvis, Autokinos und ausgelassenen Tanzveranstaltungen baut King eine nervenzerreißende Spannung auf, die trotz der epischen Dichte der Erzählung nie abbricht.

Clive Barker - „Abarat – In der Tiefe der Nacht“

Sonntag, 29. Januar 2012

(Heyne, 624 S. HC Leinen im Schuber)
In den 80er Jahren ist Clive Barker mit den „Büchern des Blutes“ als Erneuerer der Horror-Literatur weltberühmt geworden, indem er die Grenzen des Genres bis zum Extremen ausweitete und so zum Mitbegründer der harten Splatterpunk-Spielart erkoren wurde. Seither hat sich der in Liverpool geborene, in Beverly Hills lebende Roman- und Drehbuchautor, Regisseur, Produzent und Maler in den Bereich der dunklen Fantasy verlegt und Meisterwerke wie „Imajica“, „Gyre“ oder „Jenseits des Bösen“ abgeliefert. Was für seinen Kollegen Stephen King die siebenteilige Saga um den „Dunklen Turm“ gewesen ist, stellt für Clive Barker das mittlerweile auf fünf Bände angelegte Epos „Abarat“ dar, nämlich ein apokalyptisches Magnum Opus, das von berauschender Magie durchwebt ist.
Im Mittelpunkt der epischen Geschichte steht Candy Quackenbush, die als 15-Jährige in ihrer unspektakulären Heimatstadt Chickentown einmal über die Stadtgrenzen hinaus gewandert ist und von einer goldenen Wolke angezogen über das Meer Izabella nach Abarat gelangt ist, einem Archipel von 25 Inseln, die jeweils eine Stunde des Tages sowie ein außerhalb der Zeit repräsentieren. Als sie erfährt, dass sie allein den Schlüssel in der Hand hält, Abarat davor zu bewahren, von Lord Carrion in Dunkelheit versinken zu lassen, beginnt für sie eine abenteuerliche, lebensgefährliche Reise, die sie und ihre Gefährten – wie die Gesh-Ratte Malingo und die acht John-Brüder – von Insel zu Insel führen. Zu Beginn von “In der Tiefe der Nacht” muss sich Candy zunächst in Yebba Dim Day vor der Ratskammer verantworten. Sie wird angeklagt, ohne Einladung mit der festen Absicht nach Abarat gekommen zu sein, um Ärger zu stiften und Mater Motley zu ärgern. Zwar geht das Verhör glimpflich aus, doch Candy sieht sich veranlasst, die Hafenstadt auf dem Weg in die Straße der Dämmerung umgehend zu verlassen, denn Mater Motley hat bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt, Candy aufzuspüren und das Abarat nach ihren Vorstellungen neu entstehen zu lassen.
„Eine Dunkelheit zog auf. Eine riesige und unerbittliche Dunkelheit, die jeden Stern, der in den Stunden der Nacht leuchtete, auslöschen würde, genau wie sie jeden Mond zur selben Stunde verfinstern würde und zur selben Zeit alle Sonnen, die in den Himmeln des Tages strahlen, verdunkeln würde. Hätten die Propheten ihre Eitelkeit und Selbstsucht überwunden, als die ersten Vorzeichen der Dunkelheit in ihre Schädel gekrochen waren, und ihre Ängste miteinander geteilt, anstatt sich an ihnen festzuhalten wie an tödlichen Besitztümern, dann hätten sie vielleicht die tragischen Konsequenzen abwenden können, die ihr Neid und ihre Habgier nach sich zogen. Die Tragödie war nicht nur der Verlust dieser prophetischen Seelen, die dem Wahn und der Selbstzerstörung zum Opfer fielen. Die Tragödie war, dass das Abarat in einen Albtraum stürzte, der es auf ewig verändern würde und aus dem es kein Erwachen gab.“ (S. 176 f.) 
Candy stellt allerdings fest, dass sie selbst mit Magie umgehen kann. Doch selbst ihre unvorhergesehenen Kräfte scheinen gegen die grausamen Vorhaben von Mater Motley nichts ausrichten zu können. Erst als Candy zu verstehen beginnt, dass die drei Carrion-Generationen ein dunkles Geheimnis verbindet, gelingt Candy das rettende Ablenkungsmanöver …
Auch wenn der dritte „Abarat“-Band mit stolzen 78 € zu Buche schlägt, ist der Preis mehr als gerechtfertigt. Schließlich gelangen gerade mal 1650 nummerierte Exemplare dieses epochalen Fantasy-Schmuckstücks in den Handel, wobei die über 600 Hochglanzseiten mit mehr als 100 Illustrationen des Autors verziert sind, die dieser in zwölf Jahren in Öl auf Leinwand kreiert hat (für den gesamten „Abarat“-Zyklus).
Clive Barker will seinen Lesern so mehrere Ebenen des Zugangs zu seiner fantastischen Geschichte gewähren, der nicht immer leicht zu folgen ist, die aber vor überbordender Imagination und Sprachgewalt nur so strotzt. Ähnlich wie Walter Moers mit seinen Zamonien-Schmökern entfacht Clive Barker mit den „Abarat“-Büchern eine ganz eigene Welt voller skurriler Figuren, sonderbarer Magie und schillernden wie düsteren Welten zwischen dem Hernach und Einstweilen, dass es ein intellektueller Spaß sondergleichen ist, sich in diese fremden Welten entführen zu lassen.
Lesen Sie im Buch: Clive Barker – „Abarat – In der Tiefe der Nacht“

David Nicholls – „Ewig Zweiter“

Sonntag, 15. Januar 2012

(Kein & Aber, 384 S., HC)
Stephen C. McQueen wartet seit Beginn seiner jetzt elfjährigen Schauspielkarriere auf den großen Durchbruch. Bislang hat es für den Namensvetter des großen amerikanischen Darstellers Steve McQueen („Bullitt“) nur für die Darstellung von sechs Leichen gereicht und eine Hauptrolle als Sammy das Eichhörnchen. Und nun spielt der 32-Jährige die Zweitbesetzung der Hauptrolle in einem Stück über Lord Byron am Hyperion Theatre in London.
Wochenlang wartet er darauf, dass sein Freund Josh Harper, der jüngst von den Leserinnen einer Frauenzeitschrift zum zwölftsexiesten Mann der Welt gekürt wurde, seine Rolle nicht antreten kann, damit Stephen dem Publikum endlich zeigen kann, was in ihm steckt. Seine Ex-Frau Alison nimmt Stephens Ambitionen ebenso wenig ernst wie seine aufgeweckte siebenjährige Tochter Sophie, doch Stephen glaubt nach wie vor unerschütterlich an seine Chance.
„Was Ruhm anging, wollte er gar nicht prominent sein, oder zumindest nicht so weltberühmt wie Josh Harper. Er musste sein Bild nicht auf Kühlschrankmagneten oder Happy Meals entdecken. Auch hatte er nicht das Verlangen, seine alten Kippen bei eBay versteigert zu sehen, oder das dringende Bedürfnis, in Restaurants den besten Tisch zu ergattern, oder den geheimen Wunsch, im Urlaub auf der Privatinsel eines Freundes per Teleobjektiv schmerbäuchig in Badehosen abgelichtet zu werden. Ruhm interessierte Stephen nur als unvermeidlicher, wenn auch nicht unangenehmer Nebeneffekt guter Arbeit. Alles, was er wollte, war Vollbeschäftigungsruhm. Anerkennungsruhm. Was es umso frustrierender machte, in einem Schauspieljob festzustecken, der praktisch keine Schauspielerei erforderte.“ (S. 33) 
Als Josh ihn zu einer privaten Party einlädt, hofft seine Zweitbesetzung darauf, wichtige Kontakte zu Agenten, Produzenten und Regisseuren knüpfen zu können, dabei wollte Josh ihn nur als zusätzlichen Kellner engagieren. Wenigstens lernt Stephen auf der Party Joshs außergewöhnliche Frau Nora kennen und verliebt sich sofort in sie. Stephen gerät zwischen alle Fronten, als er zufällig Zeuge wird, wie Josh in der Garderobe seine Kollegin vögelt, und Josh ihn natürlich bittet, Nora nichts von seinen sexuellen Eskapaden zu erzählen. Doch genau das würde Stephen am liebsten tun, weil er mit dieser Enthüllung Nora in seine Arme treiben könnte. Stattdessen wird sein Leben noch komplizierter, als es ohnehin schon gewesen ist …
Bereits mit seinem Romandebüt „Keine weiteren Fragen“ hat sich der britische Autor David Nicholls eines Antihelden angenommen, den er auf sympathische Weise durch ein verkorkstes Leben taumeln ließ. Dass das Konzept auch im Nachfolgewerk vollkommen aufgeht, ist Nicholls sehr lebendiger Sprache, der authentischen Zeichnung seiner Figuren und eines überzeugenden Plots zu verdanken, der mit viel augenzwinkerndem Humor vorangetrieben wird, ohne seinen Protagonisten der Lächerlichkeit preiszugeben.

David Nicholls - "Keine weiteren Fragen"

Freitag, 16. Dezember 2011

(Kein & Aber, 439 S., HC)
Ein wenig stolz ist er schon, als er 1985 an der Langley-Street-Gesamtschule ein spitzenmäßiges Abitur hinlegt, doch darüber hinaus hat der zwar volljährige, ansonsten aber in jeder Hinsicht lebensunerfahrene Brian Jackson nicht viel vorzuweisen. Nachdem er in den Ferien bei einem Elektronik-Versandhandel gejobbt hat, freut sich der mit Akne übersäte Jüngling auf den Beginn seines Studiums.
Mit Beginn seiner akademischen Lehre hofft Brian, endlich die Weltgewandtheit, Souveränität und Attraktivität zu gewinnen, die ihm bislang so schmerzhaft abgegangen ist. Doch bereits die Ankunft im Richmond House erweist sich als ernüchternd.
„Meine Bude ist ein Loch. Das Zimmer besitzt den ganzen Reiz und Charme vom Schauplatz eines Verbrechens; Ein-Personen-Matratze auf einem Bettgestell aus Metall, Kleiderschrank und Schreibtisch aus passendem Sperrholz, zwei Holzimitat-Regalbretter aus Resopal. Die Teppiche sind schlammbraun und offenbar aus gepresstem Schamhaar gewebt. Ein schmutziges Fenster vom Schreibtisch geht auf die Mülltonnen hinaus, während ein gerahmtes Schild die Verwendung von Reißzwecken an den Wänden bei Todesstrafe verbietet. Aber ich wollte eine Mansarde, und jetzt hab ich eine Mansarde. Machen wir das Beste draus.“ (S. 35) 
Brian bewirbt sich mit seinem Team für das populäre wie anspruchsvolle Fernsehquiz „University Challenge“, ist aber nur als Ersatzmann eingeplant. Wenn es nach Teamchef Patrick ginge, würde Brian bei den Proben gar nicht anwesend sein müssen, da sich Brian in seine Team-Kollegin Alice verguckt hat. Doch der Weg, ihr Herz zu gewinnen, erweist sich als ebenso steinig, wie es Brians bisherigen Lebensweg angemessen scheint. Und auch seine Präsentation im Team und der Umgang mit KommilitonInnen sparen nicht an unrühmlichen Episoden. Doch irgendwie mogelt sich Brian auf seine unbekümmerte Art durchs universitäre Leben und scheint seinen Zielen immer näher zu kommen …
Mit „Keine weiteren Fragen“ hat der in London lebende Ex-Schauspieler und Drehbuchautor David Nicholls („Cold Feet“, „I Saw You“, „Rescue Me“) ein beeindruckendes, vor allem umwerfend komisches Debüt als Romancier hingelegt. Sein Protagonist ist ein spätpubertierender, überheblicher wie unsicherer Loser, wie er im Buche steht, doch zeichnet Nicholls ihn auf liebenswerte Art, die beim Leser immer wieder Mitleid für den Antihelden hervorruft. Dabei verleiht er dem Geschehen das passende 80er-Jahre-Flair mit vor allem musikalischen Verweisen (Kate Bush, Led Zeppelin etc.) und versteht es, der amüsanten Geschichte immer wieder neue zwerchfellerschütternde Aspekte zu verleihen.