Don Winslow – (Art Keller: 1) “Tage der Toten”

Mittwoch, 22. August 2012

(Suhrkamp, 689 S., Tb.)
Als der ehemalige CIA-Agent Art Keller 1973 von der gerade gegründeten DEA in die mexikanische Provinz Sinaloa geschickt wird, werden seine Ambitionen im Kampf gegen die Drogen zunächst von der örtlichen Polizei als auch den eigenen Kollegen torpediert. Das ändert sich erst, als er Miguel Ángel Barrera kennenlernt, der nicht nur Polizeioffizier in Sinaloa ist, sondern auch Leibwächter und rechte Hand des dortigen Gouverneurs Manuel Sánchez Cerro. „Arturo“, wie Art von seinen neuen mexikanischen Freunden genannt wird, erkämpft sich in einem Boxkampf den Respekt von Barreras Neffen Adán und wird in die Familie aufgenommen, die mit einem fulminanten Paukenschlag das Drogenimperium von Don Pedro Áviles zerschlägt.
Doch Familienoberhaupt Tío Barrera dient dieses Manöver nur dazu, sich selbst an die Spitze einer neuen Federación zu setzen, die auf einmal den gesamten Drogenhandel an der mexikanisch-amerikanischen Grenze kontrolliert.
„Offenbar gibt es ein Gesetz der paradoxen Wirkungen, denkt Keller beim Anblick der Kisten schleppenden Federales. Operation Condor sollte das Krebsgeschwür der Opiumproduktion beseitigen, doch bewirkt hat sie, dass sich überall im Land Metastasen bilden. Das muss man den Opiumbauern von Sinaloa lassen – ihre Reaktion auf die Vertreibung war einfach genial. Sie haben begriffen, dass ihr wertvollstes Kapital nicht die Drogen sind, sondern die zweitausend Meilen gemeinsame Grenze mit den USA. Den Boden kann man vergiften, Ernten kann man verbrennen, Menschen kann man vertreiben, aber diese Grenze steht fest, ihr kann man nichts anhaben. Und eine Ware, die auf der einen Seite der Grenze ein paar Cent wert ist, lässt sich auf der anderen Seite für zig Dollar verkaufen. Die Ware, um die es geht, ist – allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz – Kokain.“ (S. 135) 
Die mexikanische Federación ist von der Drogenproduktion auf den –transport umgestiegen, lässt sich von den Kolumbianern tausend Dollar für jedes Kilo Kokain zahlen, das die Mexikaner in die USA schmuggeln, wo es in Labors zu Crack verarbeitet und auf den Straßen der USA vertrieben wird. Keller muss sich neue Verbündete suchen, um seine ehemaligen Freunde zu bekämpfen. Doch bei all den undurchsichtigen Manövern, Intrigen und Hinterhalten sterben immer wieder Unschuldige …
Schon in seiner Kindheit hatte der New Yorker Schriftsteller Don Winslow Kontakt zu berüchtigten Mafiagrößen und hat fünf Jahre an seinem durch eine wahre Begebenheit inspirierten Thriller geschrieben, das sich wie ein packendes Epos à la „Der Pate“ liest und als literarisches Äquivalent zu Steven Soderberghs Drogen-Episoden-Drama „Traffic“ angesehen werden kann. Winslow gibt sich viel Mühe, in seiner schnörkellosen Sprache die Zusammenhänge in dem komplexen Drogenkrieg zu erläutern, den der amerikanische Präsident Richard Nixon ausgerufen hat und bis heute noch zu keinem Ende gekommen ist. Schließlich verdienen alle Beteiligten enorme Summen mit der Produktion und dem Vertrieb von Drogen. Allianzen werden geknüpft und verraten, Exekutionen in Auftrag gegeben, Massaker und Folterungen veranstaltet, Freunde werden zu Feinden, Unschuldige geraten ins Kreuzfeuer der Drogenmafioso.  
„Tage der Toten“ deckt einen Zeitraum von gut dreißig Jahren ab und bringt verschiedene Charaktere wie den irischen Killer Callan, den mexikanischen Bischof Juan Parada und die Edelprostituierte Nora Hayden ins Spiel, deren Wege sich auf verschlungenen Pfaden kreuzen und das Drama mit Leben füllen. Winslow nimmt bei der Schilderung von Folter-, Sex- und Attentatsszenen kein Blatt vor den Mund, was sein Epos ebenso authentisch wie brutal wirken lässt. Auf jeden Fall lässt dieses mit dem „Deutschen Krimipreis 2011“ausgezeichnete Meisterwerk niemanden kalt.
Lesen Sie im Buch: Don Winslow – „Tage der Toten“

John Lescroart – “Der Angeklagte”

Freitag, 10. August 2012

(Heyne, 527 S., Tb.)
Nach vier Tagen in seinem neuen Job als Staatsanwalt in San Francisco wird Wes Farrell mit einem besonders heiklen Fall konfrontiert. Von Cliff und Theresa Curtlee, Eigentümer des „Courier“, San Franciscos zweitgrößter Zeitung, wird er gedrängt, den Prozess gegen ihren Sohn Ro nicht wieder aufzunehmen. Dieser wurde vor zehn Jahren wegen Vergewaltigung und Mord an dem Curtlee-Hausmädchen Dolores Sandoval zu 25 Jahren bis lebenslänglich verurteilt worden, doch durch eine erfolgreiche Berufung steht für Ro nun der Weg offen, auf Kaution freigelassen zu werden, bis über die Wiederaufnahme des Prozesses entschieden worden ist.
Tatsächlich wird Ro die ersehnte Kaution gewährt, der sich sofort daran macht, potentielle Zeugen und Mitschuldige an seiner damaligen Verurteilung aus dem Weg zu räumen, ohne dass ihm von Kommissar Abe Glitsky und der stellvertretenden Staatsanwältin Amanda Jenkins etwas nachgewiesen werden kann.
„In Farrells Augen war das Recht ein nicht dehnbahres, objektives Instrumentarium, mit dem eine Gesellschaft ihre Meinungsverschiedenheiten klärte. Der Ermessensfreiheit waren enge Grenzen gesetzt. Und Moral war ein Faktor, der ohnehin nur höchst selten zum Tragen kam. Aber mit Sicherheit war das Gesetz kein Werkzeug, mit dem man selektiv die einen verfolgte – und andere, die das gleiche Vergehen begangen hatten, ungeschoren davonkommen ließ. Glitsky und Jenkins hatten offenkundig kein Problem damit, die Rechtslage kreativ zu interpretieren, um Ro Curtlee wieder hinter Gitter zu schicken. Farrell hingegen war überzeugt, dass alles, was nicht mit der gleichen Elle gemessen würde, per Definition Unrecht sei. Und trotzdem glaubten Glitsky und Jenkins offensichtlich, dass sie Recht und – mehr noch – die Moral auf ihrer Seite hatten.“ (S. 92f.) 
Der amerikanische Schriftsteller John Lescroart zählt nach John Grisham zu den besten Justizthriller-Autoren der heutigen Zeit. Mit seinem neuen Werk „Der Angeklagte“ demonstriert er wiederum eindrucksvoll, warum ihm diese Genre-Spitzenstellung zu Recht gebührt. Von der ersten Seite an fesselt Lescroart den Leser mit einem packenden Plot und entwickelt einen nervenzerreißenden Wettkampf zwischen den aufrichtigen Gesetzeshütern und den abgrundtief bösen Ro Curtlee, der sich keinen Deut um Recht und Moral schert. Zwar sind Lescroarts Figuren extrem eindimensional gezeichnet – hier die sympathischen Hüter von Recht und Ordnung, dort die reichen Curtlees, die glauben, mit ihrem Geld alles kaufen zu können und so auch über dem Gesetz zu stehen -, doch unterstützt diese Schwarz-Weiß-Malerei die Dramaturgie im Kampf für die Gerechtigkeit. Der Showdown hat es auf typisch amerikanische Weise natürlich in sich und wartet mit ein paar Überraschungen auf. Und Fans von Lescroarts Kultfigur Dismas Hardy dürfen sich auf ein kurzes Stelldichein ihres Lieblings freuen.
Lesen Sie im Buch: John Lescroart – „Der Angeklagte"

Brian DeLeeuw – “Der Andere”

Donnerstag, 9. August 2012

(Knaur, 344 S., Tb.)
An einem Novembertag vor acht Jahren lernte Daniel den gleichaltrigen Luke auf dem Spielplatz gegenüber dem Metropolitan Museum kennen und weicht seitdem nicht mehr von seiner Seite. Wie selbstverständlich gehört er seit jenem Tag zum Haushalt seines neuen Freundes und dessen Mutter Claire, die als Verlegerin eines Krimi-Kleinverlages arbeitet. Daniel wird so Zeuge der Trennung von Lukes Eltern, der Depression seiner Mutter, die tagelang ihr Arbeitszimmer nicht zu verlassen scheint.
Doch Claire Nightingale sträubt sich gegen die Freundschaft ihres Sohnes mit Daniel und schickt ihn zum Psychiater Dr. Claymore. Daniel animiert seinen neuen Freund zu Taten, die sich dieser so nicht zugetraut hätte, doch mit der Zeit entwickelt sich eine Rivalität zwischen den beiden Jungen. Daniel wird zunehmend aus dem Leben seines Freundes gedrängt, der sich wiederum immer neue Ideen einfallen lassen muss, Lukes Zuneigung zurückzugewinnen.
„Luke wurde älter, einige Dinge in seinem Leben veränderten sich, andere nicht. Die wirklich wichtigen Dinge veränderten sich nicht. In der Schule machte er seine Sache recht ordentlich und pflegte die Freundschaft zu Omar. Er ging regelmäßig zu Dr. Claymore und nahm seine Medikamente ein. Seinen Vater sah er so gut wie nie. Im Grunde lebte er eigentlich nicht, sondern existierte einfach nur. Am Tag ließ er sich in der Schule, am Abend zu Hause bei Claire treiben, während sich Wochen, Monate und Jahre ansammelten wie neuer Schnee, der leise auf den alten herabrieselt. Ich stemmte mich gegen die Innenwand seines Schädels, aber es war zwecklos. Er konnte mich nicht hören, ich war gefangen. So wartete ich, wie jeder andere Gefangene auch. Ich saß die Zeit ab und setzte mein Vertrauen in die Vorstellung, dass sich etwas ändern musste und dass mein Vertrauen schließlich belohnt würde.“ (S. 92) 
Dem Leser wird schnell klar, dass Luke eine gespaltene Persönlichkeit ist und Daniel als imaginären Freund heraufbeschwört, den der Seelenklempner gefälligst zu exorzieren hat. Bei aller sprachlicher Souveränität lässt „Der Andere“ allerdings vor allem eins vermissen: Spannung. Nach dem fulminanten Auftakt mit den beiden Sätzen „Ich betrete den Eingangsbereich des Apartmenthauses, in dem Claire Nightingale lebt. Ich will ihr sagen, dass ich ihren einzigen Sohn umgebracht habe“ wartet man nicht nur vergeblich auf eine Auflösung, sondern auf eine Dramaturgie, in der sich die Ereignisse, die zu dieser Tat geführt haben, zuspitzt. Stattdessen entpuppt sich „Der Andere“ als stilistisch wundervoll verfasstes Psychogramm eines schizophrenen Jungen, dessen dunkle Seite aber keine wirklich entsetzlichen Taten verübt.
Lesen Sie im Buch: Brian DeLeeuw "Der Andere"

Howard Linskey – “Crime Machine”

Sonntag, 5. August 2012

(Knaur, 378 S., Tb.)
David Blake arbeitet als „Berater“ für Bobby Mahoney, Gangsterboss im englischen Newcastle. Als er mit seiner Frau Laura aus dem Thailand-Urlaub zurückkehrt, wird er von Bobbys wichtigstem Vollstrecker in Empfang genommen und zum Chef kutschiert, was nur Ärger bedeuten kann. Tatsächlich wird David mit der Information konfrontiert, dass die übliche Übergabe vor seinem Urlaub nicht stattgefunden habe.
David Blake macht sich auf die Suche nach Geordie Cartwright, der für ihn die Übergabe übernehmen sollte, doch Geordie ist verschwunden. Zusammen mit Vollstrecker Finney klappert David verschiedene Clubs ab, bis er einen Tipp erhält, dass Geordie wohl Spielschulden hatte und nebenbei Geschäfte mit einem Russen abwickelte. Schließlich entdecken sie den Gesuchten mit einem Loch im Kopf. Doch Geordie ist nicht der Einzige, der auf der Abschussliste aus Bobby Mahoneys Crew steht. David hat alle Hände voll zu tun, herauszufinden, wer seinem Boss das Revier streitig machen will, und die Übergabe nachzuholen …
„Die Übergabe war eine Versicherungspolice. Bestechungs- und Schmiergeld. Mit der Übergabe kauften wir Einfluss und Informationen. Dadurch bekamen wir die Erlaubnis zugesichert, in unserem Revier Geschäfte machen zu dürfen. Die Übergabe war all das und mehr. Die Organisation, die wir bezahlten, gab es schon sehr lange. Ihr Einfluss reichte sehr weit. Aber sie hatte keinen Eintrag im Handelsregister. Wir zahlten bar und stets pünktlich, abgesehen vom letzten Mal. Also, was hatten wir davon? Zunächst einmal würden die uns fertigmachen, wenn wir es nicht täten – oder jemand anders würde es tun, mit ihrer Zustimmung. Man könnte die Übergabe als Steuer betrachten, die wir abdrückten, und wenn wir es nicht täten, stünden viele andere Schlange, die bereit wären, viel Geld zu bezahlen für die Erlaubnis, ein Unternehmen unserer Größe führen zu dürfen.“ (S. 165) 
Mit seinem Debütroman „Crime Machine“ präsentiert der britische Journalist Howard Linskey eine höchst unterhaltsame Schnitzeljagd, die durchaus als Drehbuchvorlage für einen Guy-Ritchie-Film („Revolver“, „Bube, Dame, König, grAs“) taugen könnte. Vor allem fasziniert der coole, zuweilen auch brutale Thriller als überzeugende Gangstermilieustudie mit einem sympathischen Protagonisten und einem schlichten Plot, der zum Ende hin zum Glück an Fahrt aufnimmt.
Lesen Sie im Buch: Howard Linskey "Crime Machine"

Anthony McCarten – “Liebe am Ende der Welt”

Samstag, 28. Juli 2012

(Diogenes, 360 S., HC)
Die sechzehnjährige Delia Chapman hat gerade einen Ferienjob in der Packerei einer Fleischfabrik im neuseeländischen Kaff Opunake angenommen, da verblüfft sie ihre Mitmenschen mit der Nachricht, dass sie eine Begegnung mit Außerirdischen hatte und nun schwanger sei. Das verstört nicht nur ihren gewalttätigen Vater und den Sheriff, sondern auch Bürgermeister Jim Sullivan und seinen Neffen Phillip, der in Opunake die seit langem geschlossene Bibliothek wieder auf Vordermann bringen soll, Pater O’Brien, der keine rechte Erklärung mehr für seinen Glauben an Gott findet, und den Skandaljournalisten Vic Young, der erleben muss, dass seine Geschichten über die unglaublichen Ereignisse in Opunake von seinem Chef völlig entstellt werden.
Als Delia schnell zu einer örtlichen Berühmtheit wird, wollen ihre Freundinnen natürlich nachziehen und erzählen ähnliche Geschichten von außerirdischen Heimsuchungen. Ein Kornkreis mit einer unerklärlich zerquetschten Kuh nährt schließlich die Vermutungen, dass an den unglaublichen Gerüchten vielleicht doch etwas dran sein könnte. Und so gerät ein verschlafenes Nest ganz aus dem Häuschen.
„Der Ruhm von Delia Chapman, Yvonne McKay und Lucinda Evans verbreitete sich über ihr persönliches Umfeld hinaus, denn mit jedem Sonntag erschien ein neuer Artikel (…) Es war, als sei über Nacht ein neues Zeitalter in Opunake angebrochen, mit all seinen Versprechungen und unerhörten technischen Neuerungen, eines, das ihr schläfriges, langweiliges Leben gründlich durcheinandergewirbelt hätte. Und andere merkwürdige Dinge geschahen in dieser neuen Zeit. Der städtische Einzelhandel vermerkte zum Beispiel einen starken und unerklärlichen Anstieg der Verkäufe von Taschenlampen und Batterien. Erst einige Tage später kam man darauf, dass nicht alle junge Frauen von Opunake nachts in ihren Betten waren, in die sie gehörten. Sie schlichen sich aus dem Haus, einsam, gelangweilt, ließen Hausaufgaben oder Hausarbeit im Stich und richteten ihren Lichtstrahl zum Firmament – wer konnte es ihnen verdenken, dass sie es mit einer hoffnungsvollen Botschaft zu den Sternen versuchten? An und aus gingen die Lichtlein himmelwärts, an-aus-an in willkürlichen, analphabetischen Morsezeichen, Strahlen, die eben bis zum Briefkasten reichten und die sie doch in ihrem Optimismus hinauf zum Mars sandten.“ (S. 196 f.) 
Während der Journalist über fragwürdige Interviews und effektheischende Vermutungen dem Phänomen auf die Spur geht, versucht es der an sich und Gott zweifelnde Priester über ein persönliches Gespräch mit Delia und schließlich anderen Ablenkungen. Der Bibliothekar hingegen, der mehr als Sympathie für die örtliche Berühmtheit entwickelt, sucht bei den Philosophen die Antworten auf all die Fragen, die Delias Geschichte aufwirft … Mit viel Witz und feinem Gespür für seine Figuren erzählt Anthony McCarten eine unglaubliche Geschichte, die den Leser lange grübeln lässt, wie sich diese wohl wirklich zugetragen hat. Es ist aber nicht allein die Aufklärung des Rätsels, aus der „Liebe am Ende der Welt“ seine Spannung bezieht. Vor allem sind es die vielschichtigen Beziehungen zwischen all den Mitmenschen, die alle ihre eigenen Ambitionen und Ansätze verfolgen, mit der abenteuerlichen Geschichte umzugehen. Dabei ist viel Wortwitz im Spiel, aber auch immer ein Stück Moral, die aber nie mit erhobenem Zeigefinger daherkommt.

Jim Thompson – „In die finstere Nacht“

Montag, 23. Juli 2012

(Heyne, 272 S., Tb.)
Als sich der kleinwüchsige und unscheinbare Carl Bigelow in der Pension von Jake Winroy einquartiert, ahnt niemand in dem beschaulichen Peardale bei Chicago, dass sich hinter dem kleinen Neuankömmling der berüchtigte Auftragskiller Charlie Bigger verbirgt, der nur aus einem Grund in dem unbedeutenden Kaff abgestiegen ist, nämlich Jake Winroy so umzubringen, dass es wie ein Unfall aussieht, damit dieser nicht als Kronzeuge in einem Prozess gegen illegale Wettgeschäfte aussagen kann.
Zur Tarnung schreibt sich der tödlich an Lungenkrebs erkrankte Bigelow am örtlichen Kolleg ein und nimmt einen Job in der Bäckerei an, wo er von dem fürsorglichen Mr. Kendall angelernt und betreut wird. Um noch näher an sein Opfer zu kommen, beginnt er nicht nur mit Fay Winroy eine Affäre, sondern auch mit der verkrüppelten Haushaltshilfe Ruthie.
„Aus den Augenwinkeln sah ich, dass ich, was ihre linke Hand anging, recht gehabt hatte. Die Finger waren verkrümmt gespreizt. Sie konnte die Hand nicht richtig benutzen und versuchte, es vor mir zu verbergen. Doch selbst damit und mit ihrem Bein – was immer dem fehlte – hatte sie immer noch eine Menge zu bieten. Die harte Arbeit und das tiefe Atmen hatten ihr zwei Brüste beschert, die einen armen Mann in den Beichtstuhl treiben konnten. Und das Herumgehüpfe mit der Krücke hatte ihrem Hintern kein bisschen geschadet. Wenn man ihn isoliert betrachtete, konnte man meinen, er gehöre einem Shetland-Pony. Damit meine ich aber nicht, dass er ausladend war, sondern nur die Art, wie beweglich er an íhr dranhing, hinter dem flachen Bäuchlein und unter den schmalen Hüften. Es war, als solle er sie für all die anderen Gebrechen entschädigen.“ (S. 48) 
Doch die beiden Affären und die manchmal etwas undurchsichtigen Beziehungen zu seinen Mitmenschen machen es für Bigelow nicht einfacher, seinen Auftrag zu Ende zu bringen. Als Fay ihm schließlich eröffnet, dass ihr Mann doch zu seinem eigenen Schutz ins Gefängnis will, wird die Zeit knapp, und die Dinge drohen aus dem Ruder zu laufen …
Der Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter, Alkoholschmuggler und Schriftsteller Jim Thompson (1907-1977) gehört mit seinem erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Werk „In die finstere Nacht“ nicht unbedingt in die Heyne-Hardcore-Kategorie, doch der atmosphärische Noir-Klassiker fasziniert mit interessanten Figuren, starken Dialogen und unerwarteten Wendungen. Kein Wunder, dass Thompson Stephen Kings „liebster Krimiautor“ ist.
Lesen Sie im Buch: Jim Thompson – „In die finstere Nacht“

Brett McBean – „Die Mutter“

Donnerstag, 19. Juli 2012

(Heyne, 368 S., Tb.)
Es ist der Albtraum aller Eltern, dass ihre Kinder bei einem Fremden ins Auto steigen und nicht mehr nach Hause kommen. Diese „Urangst“ hat der australische Autor Brett McBean in einen kompromisslosen wie verstörenden Thriller verarbeitet. Die gerade volljährig gewordene Rebecca will endlich ihren Vater kennenlernen, von dem ihre Mutter nie mehr preisgegeben hat, als dass er nach Übersee gezogen sei. Dass Burt ihre Mutter stets volltrunken verprügelte und sie deshalb eines Tages hochschwanger nach einem Krankenhausaufenthalt das Weite suchte, hat sie Rebecca stets verschwiegen.
Entsprechend groß ist der Schock, als die Mutter eines Morgens nach einem Streit mit ihrer Tochter einen Zettel vorfindet, dass Rebecca ihren Vater, den sie in Sydney aufgespürt hat, besuchen wolle. Doch dort kommt sie nie an. Von dem Täter hat die Mutter nur eine Spur. Bei einem Anruf von unterwegs teilte Rebecca ihr mit, dass der Fremde ein Tattoo auf dem linken Arm habe: „Stirb Mutter“. Nun ist die Mutter seit fünf Monaten auf den Highways zwischen Melbourne und Sydney unterwegs, um den Mann zu finden, der ihr ihre geliebte Tochter entrissen hat.
„Ich denke oft daran, was sie wohl in ihren letzten Stunden durchlebt hat. Ich kann nichts dagegen tun. In mancher Hinsicht fühle ich mich ihr dadurch näher. Ich stelle mir vor, wie der Mann sie mitgenommen hat, was er gesagt hat, damit sie zu ihm ins Auto steigt, worüber sie unterwegs gesprochen haben. Ich frage mich, wann Rebecca zum ersten Mal bewusst wurde, zu wem sie da ins Auto gestiegen war. Woran dachte sie, als sie sich wehrte und versuchte, zu entkommen? Hat sie an mich gedacht oder hatte sie so entsetzliche Angst, dass sie an überhaupt nichts denken konnte? Ich denke an den Mann und was er mit ihr gemacht hat, nicht nur, als er sie getötet hat, auch hinterher, und dann verschwinden all meine Gedanken ans Aufgeben. Ich will ihn finden, ich muss ihn finden …“ (S. 179f.) 
Mit der für eine verzweifelte Mutter unerschütterlichen Hingabe bis zur Selbstaufgabe macht sie sich auf die oft schmerzvolle Suche nach dem Mörder ihrer Tochter. Sie steigt nur zu Männern ins Auto und wird so natürlich leicht zur Beute, doch all die Schändungen lässt sie geradezu stoisch über sich ergehen. Manchmal scheint sie sich mit den Fahrern anzufreunden, doch verschwindet sie bei erstbester Gelegenheit, sobald sie Gewissheit darüber hat, dass der Täter ein anderer sein muss.
Brett McBean versteht es, in den jeweils meist recht kurzen Episoden, in denen die Mutter jemand Neuen aufgetan hat, den sie zu überprüfen gedenkt, die Figuren so plastisch darzustellen, dass man sich stets wünscht, länger bei ihnen verweilen zu dürfen. Die Begegnungen mit den Männern fallen oft extrem drastisch aus, so dass sich „Die Mutter“ das Prädikat „Heyne Hardcore“ vollauf verdient. Die episodenhafte Erzählweise des Romans entspricht natürlich dem Lebenswandel der Hauptperson, für den Leser reduziert sie allerdings das Vergnügen um einen kohärenten Spannungsaufbau. Von dieser Schwäche abgesehen, bietet „Die Mutter“ aber kurzweiligen Thrill mit starken Figuren und einem unkonventionellen Finale.
Lesen Sie im Buch: Brett McBean – „Die Mutter“