John Katzenbach – „Der Wolf“

Samstag, 27. Oktober 2012

(Droemer, 510 S., HC)
„Ihr kennt mich nicht, aber ich kenne euch. Es gibt drei von euch. Ich habe beschlossen, euch
Rote Eins
Rote Zwei
Rote Drei
zu nennen. Ich weiß, dass sich jede von euch im Wald verirrt hat. Und genauso wie das kleine Mädchen im Märchen seid ihr auserwählt zu sterben.“
So endet der kurze Brief mit New Yorker Poststempel, den drei Frauen mit auffallend roten Haaren zur gleichen Zeit in ihrem Briefkasten finden. Verfasst hat sie ein mäßig erfolgreicher Thriller-Autor, der sich dem Rotkäppchen-Märchen entsprechend Böser Wolf nennt und hinter seiner unauffälligen bürgerlichen Fassade mit großer Präzision den Mord an der Internistin Dr. Karen Jayson, der College-Studentin Jordan Ellis und der Lehrerin Sarah Locksley plant, die noch immer nicht den Tod ihres Mannes und ihrer Tochter verkraftet hat.
Nach den Briefen folgen Hinweise auf YouTube-Links zu Videos, die die Frauen in alltäglichen Situationen zeigen. Doch die Internet-Links geben den Frauen die Gelegenheit, miteinander in Kontakt zu treten. Obwohl jede von ihnen gerade eine Lebenskrise zu meistern hat, schöpfen sie den Mut, sich nicht ihrem Schicksal zu ergeben und darauf zu warten, bis der Böse Wolf zuschlägt, sondern sie planen, den Spieß umzudrehen und ihren Peiniger aufzuspüren. Derweil ahnt der Böse Wolf nicht, dass ihm noch von ganz unerwarteter Seite eine Bedrohung naht, die es abzuwenden gilt. Doch in dem Wettkampf mit seinen Opfern strahlt er nach wie vor eine unerschütterliche Zuversicht aus:
„Der Böse Wolf war stolz darauf, wie er seine fiktionalen Welten perfekt mit der Realität in Deckung brachte. In beiden Welten war er ein Mörder. Für ihn gab es kaum noch einen Unterschied zwischen den drei Roten und ihrer Verarbeitung zu Romanfiguren. Beide Welten, die Wirklichkeit und die Fiktion, meisterte er souverän. Die Gewissheit, an beiden Schauplätzen so routiniert zu sein, erfüllte ihn mit einer diebischen Freude.“ (S. 404f.) 
In seiner langjährigen erfolgreichen Schriftstellerkarriere hat der amerikanische Autor John Katzenbach („Die Anstalt“, „Der Patient“) regelmäßig authentisch wirkende Psychopathen geschaffen, die mit akribischer Leidenschaft ihre Taten planten und ausführten. An diese Qualität schließt „Der Wolf“ nahtlos an. Was den Thriller dabei so interessant macht, sind die drei Handlungsebenen, auf denen Katzenbach agiert. Natürlich nimmt der Plan des Bösen Wolfs, seine drei Opfer nach minutiöser Berechnung zu töten, zunächst den größten Raum der Geschichte ein, doch das Gleichgewicht verschiebt sich, sobald die drei im Visier ihres Peinigers stehenden Frauen sich zusammenfinden und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Und zuletzt greift auch die ganz und gar biedere Ehefrau des Bösen Wolfs ins Geschehen ein, was dem Roman eine packende Dynamik verleiht. Katzenbach versteht es, seine Figuren psychologisch fundiert zu zeichnen und sie in außergewöhnlichen Situationen aufeinander wirken zu lassen, was „Der Wolf“ zu einem äußerst spannenden, kurzweiligen Lesevergnügen macht.

Stephen King – (Der Dunkle Turm: 8) „Wind“

Freitag, 19. Oktober 2012

(Heyne, 415 S., HC)
Was für Tolkien die Bücher über Mittelerde gewesen sind, ist für Stephen King seine Saga um den Dunklen Turm, die abenteuerliche Reise, die Roland, den Revolvermann, mit seinem Ka-Tet durch Mittwelt erlebt. Eigentlich war das gewaltige Epos, das – neben vielen anderen - von Robert Brownings Gedicht „Herr Roland kam zum finstern Turm“ ebenso inspiriert wurde wie von Tolkiens „Herr der Ringe“-Trilogie und den Western von Sergio Leone, mit dem 2004 erschienenen siebten Band „Der Turm“ abgeschlossen, doch offensichtlich lässt Stephen King sein für ihn „wichtigstes Werk“ nicht los.
„Wind“ führt die Saga um den Dunklen Turm aber nicht weiter, sondern bildet eher eine Episode ab, die zeitlich zwischen dem vierten Band „Glas“ und dem fünften Band „Wolfsmond“ angesiedelt ist. Nach ihrem Abenteuer im Grünen Palast streifen Roland von Gilead, Susannah, Eddie und Jake mit dem Billy-Bumbler Oy auf der Straße des Balkens in Richtung des Landes Donnerschlag und damit weiter in Richtung Dunkler Turm. In dem heruntergekommenen Versammlungshaus von Gook schützt sich die Truppe vor dem herannahenden Stoßwind, und Roland nutzt die Zeit, in der niemand an Schlaf denken kann, zum Erzählen einer Geschichte über den Fellmann, den der junge Roland mit seinem Ka-Gefährten Jamie in Debaria aufspüren soll, eine Bestie, die sich offensichtlich von einem Menschen durch mehrere Metamorphosen in einem riesigen Bär verwandeln kann und ganze Familien abschlachtet. Als sie die Jefferson-Ranch nach einem dieser Gemetzel aufsuchen, bergen sie einen Jungen namens Bill, der sich vor dem Gestaltwandler verstecken und an ihm eine Tätowierung entdecken konnte. Bevor sich Roland und seine Freunde auf die Suche nach der Bestie machen, erzählt er dem Jungen eine Geschichte, die er selbst als Junge von seiner Mutter erzählt bekam, „Der Wind durchs Schlüsselloch“.
„Ich begann langsam und systematisch, denn auch das Geschichtenerzählen fiel mir in jenen Tagen nicht leicht … obwohl es etwas war, was ich im Lauf der Zeit gut lernte. Weil ich musste. Das müssen alle Revolvermänner. Aber sobald ich einmal angefangen hatte, sprach ich zunehmend freier und natürlicher. Weil ich die Stimme meiner Mutter hörte. Sie sprach mit allen Hebungen, Senkungen und Pausen aus meinem Mund. Ich konnte sehen, wie Bill in der Geschichte aufging, und das gefiel mir – es war fast so, als hypnotisierte ich ihn wieder, allerdings auf bessere Weise. Auf ehrlichere Weise. Das Beste daran war jedoch, dass ich wieder die Stimme meiner Mutter hörte. Es war, als würde sie mir, tief aus meinem Inneren kommend, zurückgegeben. Es schmerzte natürlich, aber das tun die besten Dinge meistens, wie ich seither festgestellt habe. Das würde man nicht glauben, aber – wie die Alten zu sagen pflegten – die Welt ist schief und hat irgendwo ein Ende.“ (S. 146) 
Tatsächlich nimmt die von Roland erzählte Geschichte „Der Wind durchs Schlüsselloch“ den Hauptteil des achten „Dunkler Turm“-Romans ein und präsentiert sich als grandios fabuliertes klassisches Märchen eines Jungen, der loszieht, um den Mord an seinen Vater zu rächen und die Blindheit seiner Mutter zu heilen, und dabei zum jungen Mann heranreift und schließlich zu einem Revolvermann wird. Insofern funktioniert „Wind“ auch als eigenständiges Werk, für das man den Hintergrund der damit zusammenhängenden Dark-Fantasy-Saga nicht zwingend kennen muss. Fans der „Dunkler Tum“-Saga dürfen nach dieser wunderschönen Märchengeschichte aber hoffen, dass der Autor immer mal wieder nach Mittwelt zurückkehrt, um weitere so schöne Geschichten zu erzählen.
Leseprobe: Stephen King – “Wind”

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 5) „Am Abend des Mordes“

Dienstag, 16. Oktober 2012

(btb, 474 S., HC)
Nachdem seine Frau Marianne durch ein Aneurysma plötzlich verstorben ist, bekommt Inspektor Barbarotti von seinem Chef Asunander einen sogenannten „Cold Case“ zur alleinigen Bearbeitung. Offensichtlich will der Kommissar einen Monat vor seiner Pensionierung noch ein paar ungelöste Fälle abgearbeitet haben, vielleicht möchte er Barbarotti aber auch nur mit einem hoffnungslosen Fall beschäftigen, bis er wieder richtig bei der Sache sein kann. Vor fünf Jahren verschwand der damals 54-jährige Elektriker Arnold Morinder spurlos. Seine Lebensgefährtin Ellen Bjarnebo wurde deshalb verdächtigt, etwas mit dem Umstand zu tun zu haben, weil sie bereits 1989 den Beinamen „Die Schlächterin von Klein-Burma“ erhalten hatte, nachdem sie gestand, ihren Mann Harry Helgesson mit einem Vorschlaghammer erschlagen, zerstückelt und die Körperteile in Müllsäcken im naheliegenden Wald verstreut zu haben.
Während Barbarotti die alten Vernehmungsprotokolle durcharbeitet und alte Zeugen und mit dem Fall befasste Kriminalbeamte besucht, leitet seine Kollegin Eva Backman die Ermittlungen im Mordfall Raymond Fängström, Mitglied im Stadtrat von Kymlinge für die rechtspopulistischen Schwedendemokraten. Barbarotti nutzt die Reisen zu den Zeugen für einen Besuch seiner Tochter Sara in Stockholm, versucht, bei einem Trauertherapeuten mit dem Verlust seiner geliebten Frau umgehen zu lernen, befindet sich in einem Zwiegespräch mit Gott und hofft auf eine Zeichen, dass es Marianne im Jenseits gut geht.
„Die Trauer öffnete eine Tür zwischen Seele und Körper und wurde rein physisch empfunden. Nach Mariannes Tod hatte er gelernt, dass es so war – so sein konnte. Dass er tatsächlich gelähmt sein konnte, unfähig, aus dieser Position, dieser Gemengelage zu kommen, in der er sich befand. Wie gesagt, wie versteinert. Weil jede Bewegung, jede Handlung und jeder Gedanke völlig sinnlos waren. Unter dem schweren Druck der Trauer lag man platt. Das Atmen fiel ihm schwer, die Brust wurde zusammengepresst, statt sich zu weiten. War es das, was man gemeinhin panische Angst nannte? Er wusste es nicht. Man konnte nur abwarten, dass es aufhörte, zumindest ein klein wenig nachließ; das Einzige, was man eventuell tun konnte, war beten, aber wortlos, weil es keine Worte gab; als ein mehr oder minder heroischer Versuch, die Gedanken zu fokussieren. Auf sie. Auf die Hoffnung, dass sie in irgendeinem Sinne noch lebte. Darauf, dass es überhaupt so etwas wie einen Sinn gab.“ (S. 247) 
Bevor sich Barbarotti auf den Weg nach Lappland macht, um sich mit Ellen Bjarnebo zu treffen, warnt ihn Marianne vor der Gefahr, in die er sich begibt … Nach Van Veeteren hat der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser mit dem halbitalienischen Inspektor Gunnar Barbarotti einen ebenfalls sehr sympathischen Protagonisten kreiert, der in „Am Abend des Mordes“ auch schon seinen fünften Fall bearbeitet. Dabei fügen sich gleich mehrere Fälle zusammen, die zunächst wenig miteinander gemein haben und bei denen sich erst allmählich herauskristallisiert, wie die Dinge wirklich liegen. Im Falle der „Cold Cases“ geschieht dies immer wieder durch Rückblenden, in denen vor allem die Beziehung zwischen der Verdächtigen und ihrem gehandicapten Sohn Billy im Zentrum stehen, aber auch ihr Verhältnis zu den beiden unbeliebten Männern, während Eva Backmans Fall eher im Hintergrund verläuft. Doch „Am Abend des Mordes“ überzeugt nicht nur allein durch Barbarottis Ermittlungsarbeit, die die Schwächen der vorangegangenen Verhöre und Schlussfolgerungen aufdeckt, sondern vor allem auch in der einfühlsamen Beschreibung von Barbarottis Innenleben nach seinem schmerzlichen Verlust. Das verleiht dem durchaus packenden Krimi eine zutiefst menschliche Note, für die Nesser wohlbekannt ist.
Leseprobe Håkan Nesser - "Am Abend des Mordes"

Jack Kerouac – „Unterwegs – On The Road“

Montag, 15. Oktober 2012

(Rowohlt, 575 S., Tb.)
Zusammen mit Allen Ginsberg und William S. Burroughs, seinen Kommilitonen an der Columbia University in New York, zählt der US-amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac (1922 – 1969) zu den Wegbereitern der sogenannten Beat Generation, die heute als erste Vertreter der Popliteratur angesehen wird. Seinen Durchbruch und Höhepunkt schaffte Kerouac mit dem 1957 erstmals veröffentlichten, nun zur Verfilmung durch Walter Salles auch in der Urfassung erschienenen Roman „On The Road“.
Der stark autobiografisch geprägte Roman fokussiert sich vor allem auf Kerouacs Bekanntschaft mit Neal Cassady, der auch anderen Beatniks als Inspiration diente. Kerouac hat immer davon geträumt, das Land auf dem Weg nach Westen zu erkunden, konnte sich aber nie dazu aufraffen. Als Cassady aus dem Erziehungsheim in Colorado entlassen worden ist und nach New York kommt, will er von Kerouac das Schreiben lernen. Nicht nur Ginsberg und Cassady liegen schnell auf einer Wellenlänge, auch mit Kerouac redet Cassady ohne Unterlass und zieht ihn mit auf die Straße. Sie haben kaum Geld in den Taschen, finden aber immer irgendjemanden, der ihnen einen Wagen leiht, Geld schickt oder eine Mitfahrgelegenheit anbietet. In wechselnden Konstellationen trampen die Beatniks durch die Vereinigten Staaten von Amerika, springen auf Güterzüge, reisen in Greyhound-Bussen oder fahren in gestohlenen Autos von New York City über Chicago und Denver bis nach New Orleans und schließlich nach Mexiko. Unterwegs machen sie die merkwürdigsten Frauen- und Männerbekanntschaften, heiraten hier und da, praktizieren die freie Liebe und geben sich dem Rausch der Drogen und der Musik hin. Der Bebop hat es ihnen angetan, das Leben auf der Straße und in den Clubs.
„Alles, was ich wollte und was Neal wollte und was alle wollten, war, irgendwie ins Herz der Dinge vorzustoßen, wo wir uns wie im Mutterschoß einkringeln und dem ekstatischen Schlaf hingeben konnten, den Burroughs mit einer schönen großen Spritze M. erlebte und die Werbemanager in New York mit zwölf Scotch & Sodas im Stouffers, bevor sie in den Säuferzug nach Westchester stiegen – nur ohne Kater. Ich hatte damals haufenweise romantische Phantasien und beseufzte mein Ungemach. In Wirklichkeit stirbt man einfach, man stirbt die ganze Zeit, und doch lebt man, man lebt weiter, und das ist keine Augenwischerei.“ (S. 251) 
So wie das wilde Treiben auf den Straßen liest sich auch „On The Road“. Kerouac beschreibt wie im Rausch das Lebensgefühl eines aufgeweckten, lebenshungrigen Vagabunden. „Die Geschichte handelt von dir und mir und der Straße“, hat Kerouac 1951 in einem Brief an seinen Freund Neal Cassady so treffend zusammengefasst, und es passt durchaus ins Bild, dass Kerouac das ganze Ding auf einer fast vierzig Meter langen Rolle Fernschreiberpapier ohne Punkt und Komma runtergeschrieben hat. Es ist nicht nur das Dokument einer Reise, sondern auch einer spirituellen Suche, die durch Arbeiten, Ambitionen und Ablehnung geprägt ist. Und wenn er sich nicht räumlich von der Stelle bewegte, halfen ihm die Drogen, sich an Orte zu begeben, die Burroughs als „dunkle oder Übergangszonen“ bezeichnet hat.
Nach der Zerrüttung seiner Familie, dem Chaos der Kriegsjahre, dem Tod seines Vaters und älteren Bruders war der traditionell erzogene Kerouac auf einmal empfänglich für alles Entwurzelte und Hilflose und glaubte an die Fortbewegung als Mittel zur Selbstveränderung. Dass er sich bei seinen Beobachtungen stets auf die Außenseiter und Zurückgebliebenen konzentrierte, verleiht auch „Unterwegs“ seinen zauberhaften, fast magischen Charme. Weitere tiefgreifende Einsichten vermitteln die verschiedenen Essays zur Entstehung und Wirkung des Romans am Ende des Buches – sie nehmen immerhin über 130 Seiten ein und sorgen für ein besseres Verständnis des temperamentvollen Straßenromans.

John Grisham – “Verteidigung”

Freitag, 21. September 2012

(Heyne, 464 S., HC)
Fünf Jahre in der Tretmühle von Chicagos renommierter Kanzlei Rogan Rothberg sind für David Zinc mehr als genug. Fünf Jahre, in denen Zinc sechs Tage die Woche von frühmorgens bis spätabends schuftete, aber immerhin gutes Geld nach Hause brachte. Doch eines Tages steigt er nicht aus dem Fahrstuhl im Trust Tower aus, um sich zu seinen sechshundert Kollegen zu gesellen, sondern fährt wieder nach unten und fühlt eine enorme Erleichterung, als er den Entschluss fasst, nie wieder zurückzukehren. Stattdessen kehrt er in eine Bar ein und lässt sich den ganzen Tag volllaufen. Anschließend torkelt er in die nächstbeste Kanzlei und bittet um einen Job. Bei der zufällig ausgesuchten „Boutiquekanzlei“ handelt es sich um Finley & Figg, die überwiegend Personenschäden bearbeitet, die sie an der nahen Kreuzung aufgabelten, wenn es mal wieder ordentlich krachte.
Der 62-jährige Seniorpartner Oscar Finley leidet vor allem daran, noch immer mit seiner ersten Frau verheiratet zu sein, die ihm das Leben zur Hölle macht, sein 45-jähriger Juniorpartner Wally Figg ist vor allem für die billige Kanzleiwerbung zuständig und markiert den knallharten Prozessanwalt. Als sich Zinc bei einem dieser Unfälle positiv hervortut, nehmen Finley & Figg den jungen Mann bei sich auf und bekommen bald an einen Fall, der endlich das große Geld bringen könnte. Durch einen ihrer Mandanten erhalten sie den Hinweis, dass das cholesterinsenkende Medikament Krayoxx Menschenleben kostet. Eifrig suchen Finley & Figg nach weiteren Todesfällen und hängen sich an die große Kanzlei Zell & Potter, die auf Sammelklagen spezialisiert ist. Das Ziel ist ein Vergleich, der nicht nur die Klägerparteien entschädigt, sondern auch für die beteiligten Anwälte ein hübsches Sümmchen abwirft. Tatsächlich scheint der immer wieder in den Schlagzeilen stehende Pharmakonzern Varrick Labs ungewöhnlich schnell auf einen Vergleich eingehen zu wollen.
„Warum war David beunruhigt? Schließlich würde es ja keine Verhandlung geben, richtig? Alle Anwälte auf seiner Seite des Gerichtssaals glaubten, hofften und beteten, dass Varrick Labs für Krayoxx einen Vergleich schließen würde, lange bevor es mit den Verhandlungen losging. Und wenn man Barkley von der Gegenseite glauben konnte, rechneten auch die Anwälte der Beklagten mit einem Vergleich. War das Ganze ein abgekartetes Spiel? Funktionierte so das Sammelklagengeschäft? Jemand stellt fest, dass ein Medikament gesundheitsschädlich ist, die Anwälte der Kläger sammeln so viele Mandate wie möglich, Klagen werden eingereicht, die Verteidiger des Beklagten reagieren mit endlosem Nachschub an teuren Rechtsbeiständen, beide Seiten kämpfen mit harten Bandagen und so lange, bis der Hersteller des Medikaments es leid ist, andauernd fette Schecks auszustellen. Daraufhin wird ein Vergleich ausgehandelt, die Anwälte der Kläger stecken ein gigantisches Honorar in die Tasche, und ihre Mandanten bekommen viel weniger, als sie erwartet haben. Wenn der Staub sich gelegt hat, sind die Anwälte auf beiden Seiten ein gutes Stück reicher, und das Pharmaunternehmen bereinigt seine Bilanz und entwickelt ein neues Medikament. War das Ganze nichts anderes als unterhaltsames Theater?“ (S. 228) 
David Zincs Unruhe ist nicht unbegründet, wie sich bald herausstellt, denn es fehlen dringend benötigte Beweise, die Krayoxx mit den Todesfällen in Verbindung bringt. Vor Gericht entwickelt sich das Verfahren schnell zu einem Rohrkrepierer, das die Zukunft der Kanzlei gefährdet …
John Grisham hat sich in den meisten seiner Justiz-Thriller auf Fälle spezialisiert, in denen junge Anwälte den Kampf gegen übermächtige Konzerne aufnehmen. In dieser Tradition steht auch „Verteidigung“. Während sich der Verhandlungsverlauf in absolut vorhersehbaren Bahnen bewegt und wenig Spannung aufbauen lässt, sind es vor allem die charismatischen Protagonisten, die dem Thriller Leben einhauchen und das Lesevergnügen begründen. „Verteidigung“ zählt sicher nicht zu den Highlights unter den über zwanzig Romanen, die Grisham bereits auf seinem Konto verbuchen kann, dazu wirkt die Geschichte doch sehr wie am Reißbrett konstruiert. Aber die lebendigen Portraits der ganz unterschiedlichen Anwaltsfiguren machen das Buch letztlich doch lesenwert.
Leseprobe John Grisham – „Verteidigung“

Ryan David Jahn – “Ein Akt der Gewalt”

Dienstag, 11. September 2012

(Heyne, 287 S., Tb.)
Nach einer wieder mal langen Nacht macht sich die knapp dreißigjährige Barfrau Katrina Marino morgens um vier Uhr auf den Heimweg. Nachdem sie noch einen platten Reifen an ihrem Auto wechseln musste, freut sie sich nur noch auf ein warmes Bad. Sie hat schon den Wohnungsschlüssel im Schloss stecken, als sie von hinten an den Haaren gepackt wird und einen Messerstich an ihrer Schulter spürt. Der Täter sticht noch einmal zu und lässt sein Opfer blutend zurück. Einige von Kats Nachbarn beobachten den Vorfall oder sehen sie später am Hauseingang sitzen, fühlen sich aber nicht zuständig, ihr zu helfen oder die Polizei zu rufen.
Da ist Patrick, der seine todkranke Mutter pflegt und nicht weiß, wie er ihr beibringen soll, dass er zur Musterung aufgefordert worden ist und vielleicht nach Vietnam muss. Da ist die betrogene Ehefrau Diane Myers, die ihrem Mann Larry entlocken will, mit wem er sie betrügt. Da ist Larrys einsamer Bowling-Kumpel Thomas, der seinem armseligen Leben ein Ende setzen will. In einem anderen Apartment haben sich Peter Adams und sein Arbeitskollege Ron jeweils mit den Frauen des anderen vergnügt. Während all diese und einige weitere Menschen ihre eigenen kleinen wie großen Probleme zu bewältigen versuchen, nehmen sie irgendwann von der jungen Frau Notiz, die auf der anderen Straßenseite hilflos am Hauseingang sitzt, doch nichts unternehmen.
„Sie sieht sich um. Die meisten Gesichter, die vorher zu ihr heruntergeblickt haben, sind verschwunden. In den meisten Wohnzimmern ist das Licht gelöscht worden. Aber einige sind noch erleuchtet, und in anderen kann man, obwohl das Licht mehr brennt, Menschen sehen, die am Fenster stehen und sie beobachten. Vielleicht haben sie das Licht ausgemacht, um so einen besseren Blick zu haben, vielleicht auch nicht. Jedenfalls sind da immer noch einige Gesichter mit weißen Augen, die zu ihr herunterblicken. ‚Helft … mir‘, sagt sie. ‚Bitte.‘ Es hatte ein Ruf werden sollen, aber es ist kaum ein Flüstern geworden. Eine schwache Brise. Ein Rascheln von Laub. Für mehr als das hat sie fast keine Kraft – aber sie versucht es. ‚Jemand‘, sagt sie mit brechender Stimme, ‚hilf mir! Bitte!‘ Sie hört die Verzweiflung in der eigenen Stimme. Die Menschen, die in ihren Wohnzimmern stehen und ihr zusehen, rühren sich nicht.“ (S. 123) 
Während Kat schwer verletzt versucht, in ihre Wohnung zu gelangen, um telefonisch Hilfe zu besorgen, bewegen sich ihre Nachbarn in ihrem eigenen Mikrokosmos. Sie haben zwar Notiz von der notleidenden Frau genommen, gehen aber davon aus, dass andere bereits Hilfe gerufen haben, und versuchen, ihre eigenen Probleme in den Griff zu bekommen.
Der amerikanische Autor Ryan David Jahn hat sich für sein Romandebüt „Ein Akt der Gewalt“ von dem Mord an Kitty Genovese inspirieren lassen, der 1964 in den Medien für Aufsehen sorgte und in der Kriminalgeschichte mit dem „Bystander-Effekt“ belegt worden ist. Jahn beschreibt das erschütternde Geschehen allerdings ohne erhobenen Zeigefinger. Die kämpferische Art, mit der das Opfer an seinem Leben festzuhalten versucht, einerseits und der nüchterne Stil, mit dem beschrieben wird, wie Kats Nachbarn die frühen Morgenstunden verbringen, hebt nur umso intensiver hervor, wie fassungslos man als (lesender) Beobachter das Geschehen verfolgt. Doch das Buch bietet noch weitere Themen, so werden Probleme der Sterbehilfe, des Rassismus und verschiedene Arten der Liebe angerissen, dass der Stoff durchaus für mehr als nur 270 Seiten gereicht hätte. Doch in der Kürze liegt bekanntlich die Würze, und „Ein Akt der Gewalt“ schafft es von Beginn an, den Leser mit der Schilderung der dramatischen Ereignisse zu fesseln und bis zum bitteren Finale nicht mehr loszulassen. Als Bonus präsentiert das Buch noch eine Leseprobe aus Jahns neuem Werk „Der Cop“.
Leseprobe Ryan David Jahn – „Ein Akt der Gewalt“

David Ballantyne – “Sydney Bridge Upside Down”

Mittwoch, 5. September 2012

(Hoffmann und Campe, 335 S., HC)
Der dreizehnjährige Harry lebt mit seinem Vater und seinem jüngeren Bruder Cal in dem neuseeländischen Kaff Calliope Bay und wartet darauf, dass seine Mutter, die über den Sommer in die Stadt gezogen ist, zurückkommt. In der Zwischenzeit erwartet er mit Spannung die Ankunft seiner älteren Cousine Caroline. Mit ihr, Cal und dem Nachbarsjungen Dibs erkundet Harry die steile Küste und die Ruine der alten Fleischfabrik.
Besondere Freude bereitet ihm aber das morgendliche, nackte Toben durch das Haus, und Harry beginnt, Caroline vor jeder potentiellen Gefahr zu beschützen, besonders vor dem aufdringlichen Mr. Wiggins. Auch die gelegentlichen Küsse mit spitzen Lippen gefallen dem Jungen. Doch nach und nach scheint Caroline das Interesse an Harry zu verlieren und sich mit älteren Jungs anzufreunden. In dieser Hinsicht nimmt der Ausflug zur Kirmes eine besondere Bedeutung ein.
„In den letzten Tagen, seit einer Woche etwa, hatte ich mir um Caroline einige Sorgen gemacht. Sie war unglücklich, das war nicht zu übersehen, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sagen würde, dass sie Calliope Bay satthatte und nach Hause wollte. Ich hatte lange darüber nachgedacht und war mir inzwischen ziemlich sicher, dass dieses traurige Schweigen unmittelbar nach der Kirmes angefangen hatte. Was ist nur auf der Kirmes passiert, fragte ich mich, dass sie so traurig ist? Der Ausflug hätte sie fröhlich machen sollen! Sie war ganz anders als vorher. Noch bevor ich morgens mit meinem Training anfing, spürte ich, dass sie auf unser altes Spiel keine Lust mehr hatte, mit dem Fangen war es endgültig vorbei. Ich wusste auch nicht mehr so recht, wie ich mich bei dem Spiel verhalten sollte, ich trauerte ihm deshalb nicht nach, aber wenn Caroline gewollt hätte, hätte ich natürlich weiter mitgemacht. Doch seit der Kirmes hatte sie kein Wort mehr darüber verloren, und sie hatte mich auch kein einziges Mal geküsst.“ (S. 235f.) 
Weit beunruhigender sind allerdings die Unglücksfälle, die in dem kleinen Küstenort für Aufsehen sorgen …
David Ballantyne (1924-1986) zählt zu den bekanntesten Schriftstellern Neuseelands und hat mit seinem fünften Roman „Sydney Bridge Upside Down“ (was der Name eines Pferdes ist, das in dem Roman zwar keine tragende Rolle spielt, aber immer mal wieder auftaucht) eine einfühlsam geschriebene Geschichte über einen Jungen vorgelegt, der die Schwelle zum Erwachsenwerden betritt. Vor allem die Gedanken, Sorgen, Glücksmomente und Unsicherheiten im Zusammenhang mit Harrys hübscher Cousine zählen zu den Stärken des Romans, der nicht nur ein Portrait über einen pubertierenden Jungen darstellt, sondern ebenso ein Familiendrama und Gesellschaftsstudie mit tragischem Ausgang.
Leseprobe David Ballantyne - “Sydney Bridge Upside Down”