Jeff Lindsay – “Dexter”

Sonntag, 17. Februar 2013

 (Knaur, 493 S., Tb.)
Während in den USA bereits die siebte Staffel der erfolgreichen Krimi-Serie “Dexter” gestartet ist, erscheinen in Deutschland die der Serie zugrundeliegenden Romane von Jeff Lindsay mittlerweile stark verzögert. So mag es die treuen „Dexter“-Zuschauer zunächst etwas verwundern, dass in dem schlicht „Dexter“ betitelten fünften Roman, der in den USA bereits 2010 veröffentlicht worden ist, Blutspuren-Analyst Dexter Morgan jetzt erst die Geburt seiner Tochter Lily Anne feiert, vor allem dürfte er sich darüber wundern, dass Dexters Bruder Brian, der als „Kühllasterkiller“ in Buch/Staffel 1 sein Unwesen trieb, noch immer unter den Lebenden weilt.
Während Dexter durch die Geburt seiner Tochter zunehmend und irritierenderweise menschliche Regungen zu verspüren scheint, schleicht sich Brian in Dexters Familie ein, was dem misstrauischen Dexter überhaupt nicht zusagt. Derweil ermittelt seine Schwester Deborah in einer Fall einer mutmaßlichen Entführung, weshalb sie sich nicht nur mit dem FBI herumschlagen muss, sondern auch auf der Suche nach einem „Goth hoch zwei“, einem Vampir, ist, der ausgerechnet zur Familie von Miamis populären Stadtrat Acosta zählt und bei all seinen bisherigen Verbrechen von seinem Vater freigekauft worden ist – beste Voraussetzungen also für Dexter, sich des jungen Mannes persönlich anzunehmen, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Doch als sich seine Schwester nach zunächst vorschriftsmäßiger Polizeiart auf die Suche nach dem vermissten Mädchen macht, stoßen die beiden Morgans auf einen Zirkel, in dem der Genuss von Menschenfleisch ganz oben auf der Lustskala steht. Dass während der Ermittlungen aber immer wieder Dexters Bruder auf der familiären Bildfläche erscheint, irritiert Dexter auf beunruhigende Weise.
„Ich wusste nach wie vor nicht, was er im Sinn hatte, warum er immer wieder bei uns auftauchte. Konnte es sein, dass es ihn wirklich nach einer Art Familienanbindung verlangte? Schwer vorstellbar – andererseits hätte ich das vor Lily Anne von mir auch nicht geglaubt, und doch lag ich hier, schwor allen dunklen Freuden ab und schmiegte mich an den Busen einer echten Familie. Vielleicht sehnte sich Brian nach denselben einfachen menschlichen Banden. Vielleicht wollte auch er sich ändern. Und vielleicht klatschte ich dreimal in die Hände, und die Fee Tinkerbell erwachte wieder zum Leben. Das war in etwa ebenso wahrscheinlich; Brian war sein ganzes Leben auf dem Dunklen Pfad gewandert, er konnte sich nicht ändern, nicht so grundlegend. Er musste andere Gründe dafür haben, sich in mein Leben zu drängen, und früher oder später würden sie offenbar werden.“ (S. 375) 
Doch die Auflösung hebt sich Lindsay natürlich bis zum Schluss auf. Bis dahin darf der Leser auf ebenso amüsante wie spannende Weise verfolgen, wie Dexter mit seinen inneren Dämonen kämpft, um zu dem liebenden Familienvater zu werden, der er de facto ja ist, womit er sich aber mit der leiblichen Tochter Lily Anne erst so richtig auseinanderzusetzen beginnt. Auf gewohnt kurzweilige, extrem unterhaltsame Art gehen bei Lindsays Romanen Dexters außergewöhnliche Zwiesprache mit seinem dunklen Begleiter und die parallel verlaufende Polizeiarbeit Hand in Hand. Der typische Dexter-Humor, Deborahs unflätige Schimpftiraden und eine außergewöhnliche Krimi-Handlung machen auch „Dexter“ zu einem Thriller-Vergnügen der etwas anderen Art.
Leseprobe Jeff Lindsay – “Dexter”

John Niven – “Das Gebot der Rache”

Sonntag, 10. Februar 2013

(Heyne, 304 S., HC)
Donald R. Miller hat es gut getroffen. Als Mann der wohlhabenden Tochter noch wohlhabenderer Eltern fristet der Mittvierziger ein beschauliches Leben in der idyllischen Einöde von Saskatchewan in Kanada, indem er gelegentlich wohlwollende Filmkritiken für das Anzeigenblättchen verfasst, das seine Frau Sammy herausgibt, und auf den gemeinsamen Sohn Walt aufpasst. Doch das Familienglück gerät arg ins Wanken, als eines Tages der Labrador Herby verschwindet und Donald das ausgeweidete Tier unweit der Bushaltestelle im Schnee auffindet.
Sofort werden Donalds Erinnerungen an seine wenig glorreiche Kindheit in Schottland wachgerufen, die die dunklen Vorahnungen größeren Unglücks heraufbeschwören.
„Zum ersten Mal, seit wir hier lebten, wurde unser Glück bedroht. Und das wirklich Beunruhigende daran war, dass ich das dumpfe Gefühl hatte, als hätte ich so etwas … erwartet. Nicht genau das, was geschehen war, aber etwas in der Art. Als hätte ich unterschwellig ständig mit dem Schlimmsten gerechnet, weil ich wusste: Mein Glück war nur erschlichen, und früher oder später musste der Schwindel auffliegen. Du hast das große Los gezogen. Den Sechser im Lotto. Hast du wirklich geglaubt, das würde immer so weitergehen? Dass das Karma so etwas zulassen würde? Aber du glaubst ja nicht an Karma. Greise Nazi-Kriegsverbrecher liegen in Südamerika an ihren Swimming Pools, während anderswo Babys von Lastwagen überrollt werden. Nichts als wirre nächtliche Gedanken, allein der Übermüdung geschuldet. Eine totale Überreaktion auf den Tod eines Haustiers, das von einem Wolf gerissen wurde. Was hast du denn erwartet, als du hier raus in die Wildnis gezogen bist?“ (S. 62) 
Doch die eigenen, nicht wirklich überzeugenden Beschwichtigungen werden bald in ihre Einzelteile zerlegt, als auch Sammy nach einem außerplanmäßigen Meeting nicht nach Hause kommt, und die Polizei mit einem Hubschrauber auf dem verschneiten, zwei Hektar großen Grundstück landet …
Der schottische Autor John Niven hat mit „Kill Your Friends“ eine bissige Satire auf die Musikindustrie abgeliefert, mit „Coma“ einen etwas anderen Golf(-Sport)-Thriller und schließlich mit „Gott bewahre“ eine gar blasphemische Gottesgeschichte. Mit „Das Gebot der Rache“ legt er erstmals einen überraschend konventionellen Thriller vor, der ganz ohne den typischen John-Niven-Humor auskommt, dafür aber knallhart das bislang beschauliche Leben seines Ich-Erzählers zerpflückt. Dabei kommt erst in den sukzessive eingestreuten Rückblenden ans Licht, was zu den grausamen Ereignissen geführt hat, mit denen sich der Protagonist auseinandersetzen muss – einschließlich überraschender Wendungen und einem furiosen Showdown!
Leseprobe John Niven – „Das Gebot der Rache“

Tom Wolfe – „Back To Blood“

Samstag, 9. Februar 2013

(Blessing, 768 S., HC)
Der fünfundzwanzigjährige Cop Nestor Camacho wurde gerade erst zu Miamis Marine Patrol versetzt, da gerät er durch einen kühnen Rettungsversuch in die Schlagzeilen, als er einen kubanischen Flüchtling vom Mast einer Luxusyacht holt. Das von etlichen Schaulustigen und den Medien beobachtete Spektakel wirkt sich allerdings nicht positiv auf Nestors Karriere aus, denn für seine kubanische Familie, Freunde und Mitbürger ist er ein Verräter am eigenen Volk, während ihn die amerikanische Bevölkerung als Helden feiert.
Nestors Freundin, die psychiatrische Krankenschwester Magdalena, flüchtet in die Arme ihres prominenten Chefs, der sich wiederum durch einen pornografiesüchtigen Patienten in die Elite von Miamis Gesellschaft einschleicht. Nachdem bei YouTube auch noch ein Video auftaucht, in dem Nestor mit einem Kollegen auf einen Afroamerikaner losgeht und ihn wüst beleidigt, muss der Cop seine Dienstwaffe und –marke abgeben. Doch in seiner Freizeit geht er dem engagierten Journalisten John Smith zur Hand, der Nestor im Miami Herald als Helden gefeiert hat und den Cop nun zur Aufdeckung eines gigantischen Kunstschwindels benötigt. Ausgerechnet Nestors Ex-Freundin Magdalena entwickelt sich zur wertvollen Augenzeugin, nachdem sie die Gunst von Sergej Koroljow, russischer Oligarch und Förderer der Kunstszene in Miami, erringen konnte. Doch statt den Ausflug in die schillernde Welt des charmanten und attraktiven Mannes von Welt zu genießen, wird Magdalena in Sergejs Umfeld so gedemütigt wie noch nie in ihrem Leben.
„Sergej ist genau jetzt im siebten Himmel … Er ist zufrieden, wenn er den ganzen Abend hier an diesem Tisch sitzen kann … an diesem riesigen Zehnertisch, nur er und seine kleine chocha, vor einem endlosen weißen Ozean mit glitzernden Pailletten. Es ist nicht zu übersehen! Da ist er! Der mächtigste Mann im Saal! … Ihr Elend kann er nicht mal ansatzweise begreifen … Bitte, mein attraktiver Retter, bitte, bring mich weg von hier … errette mich vor den tausend beschämenden, bemitleidenden, ausweichenden Blicken … aber neeeeeiiiiin, er muss aufs Podest, ganz nach oben, muss sich zur Schau stellen … Seht her, der Zar! … aus Hallandale, Florida, Russlands Herzland.:::::: Endlich endlich endlich endlich – und dieses endlich fühlte sich an wie endlich, nach fünf Jahren höllischer Qualen – endlich schlug Sergej vor, zu der großen Party auf Star Island zu fahren. Sein Abgang war wie sein Auftritt … die Schmeicheleien, die Umarmungen, die in Ohr gebrüllten Nettigkeiten, und Sergej mittendrin, über zwei Meter groß, die Brust aufgepumpt, während sie alle sprangen … Und Magdalena? Sie existierte nicht mehr. Sie schauten einfach durch sie durch.“ (S. 618) 
Tom Wolfe, der zusammen mit Zeitgenossen wie Norman Mailer und Truman Capote in den 60er Jahren den New Journalism mitbegründete und erst 1987 mit „Fegefeuer der Eitelkeiten“ sein gefeiertes Romandebüt veröffentlichte, zählt zu den großen Stilisten seiner Zunft und versteht es wie kaum ein Zweiter, gesellschaftliche Milieus treffend zu beobachten und zu charakterisieren. Im Mittelpunkt seines neuen, fast 800 Seiten umfassenden Werks nimmt er sich kulturellen Schmelztiegel Miamis vor, indem nicht nur die Reichen und Schönen zu leben verstehen, sondern auch Kubaner, Haitianer, Afroamerikaner und Latinos ihr Leben verbringen. Geschickt spannt Wolfe den Bogen von einer eigentlich alltäglichen Polizeiaktion über die Medien, die ebenso abhängig von ihrer Kundschaft und den Anzeigenkunden ist wie der Polizeichef von der Gunst des Stadtrats. Es dreht sich eben alles um Geld und Macht. Das wird Nestor, dem einfachen Polizisten mit kubanischem Hintergrund, erst allmählich klar, als er an der Seite des Journalisten John Smith in andere gesellschaftlichen Sphären vordringt und ihre dunklen Machenschaften kennenlernt. Seine Ex-Freundin Magdalena tut dies auf andere, aber ebenso Spuren hinterlassende Weise. Wolfe beschreibt diesen einzigartigen Clash of Cultures mit bissigem Witz, aber ohne eine seiner Charaktere zu verurteilen.  
„Back To Blood“ ist bei aller epischer Länge eine überraschend kurzweilige Gesellschaftssatire, die in ihrem manchmal zu lautmalerischen Stil anstrengt, aber überwiegend nah bei seinen charismatischen Figuren bleibt.
Lesen Sie im Buch: Wolfe, Tom - Back to Blood

John Updike – „Landleben“

Sonntag, 20. Januar 2013

(Rowohl, 414 S., HC)
Im Alter von siebzig Jahren ist Owen Mackenzie noch immer glücklich mit der fünf Jahre jüngeren Julia verheiratet, und das schon seit 25 Jahren. Manchmal wacht er morgens auf und dämmert wieder für ein, zwei Stunden in den Schlaf, um dann von einer seiner Eroberungen zu träumen, die er im Laufe seines Lebens als erfolgreicher Computeringenieur angehäuft hat. Er wuchs in den sechziger und siebziger Jahren in der Kleinstadt Middle Falls, Connecticut, auf, doch geboren wurde er 1933 in Willow, Pennsylvania. Abgesehen von einem Selbstmord ist in den zwölf Jahren der Depression und des Zweiten Weltkriegs nichts weiter von Belang geschehen.
Was Owen von früh an interessierte, war Sex, genauer gesagt: „Kleinstadt-Sex“, wie Updike episodenhaft einige seiner Kapitel betitelt. Als er Alice das erste Mal mit trockenen Lippen küsste und ihre Brillengestelle dabei aneinander klackten, war das noch unspektakulär, doch als er das Schamhaar von Doris Shanahan aus der achten Klasse erblickte, war er glücklich, weil ihm ein besonderes Wissen zuteil geworden war. Owens Lebensaufgabe bestand darin, Computer-Software zu entwickeln und zu überwachen, doch zeitgleich mit seinem Stipendium am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology, bewies er besonderes Geschick im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Mit seinem beruflichen Aufstieg sind stets weitere Erkundungen weiblicher Körper einhergegangen, wovor ihn auch eine Heirat nicht schützen konnte. Zu jeder Frau konnte Owen etwas Besonderes erinnern:
„Die Lektion, die Owen von Vanessa lernte, war überraschend: Maskuline Frauen hatten großartigen Sex zu bieten. Vielleicht war es kein Zufall, dass ausgerechnet die wilde, jungenhafte Doris Shanahan ihm erlaubt hatte, an ihren Beinen hinauf in ihre Shorts zu gucken. Mit ihnen ist Sex sozusagen frontaler, direkter. Sie springen darauf an und gehen auf einen Orgasmus los, so wie ein Falke sich auf eine junge Wachtel stürzt. Obwohl Vanessa selten dabei lächelte (anders als Faye in ihrem Rausch, anders als Alissa mit ihren Grübchen), lachte sie oft, schroff, ihr dunkles, heiseres Lachen. In ihren gewöhnlichen Kleidern aus festen Stoffen, mit breit geschnittenen Schultern, wirkten ihr Arsch und ihre Brust flach, minimal; wenn sie ausgezogen war, zeigte sie Reize genug.“ (S. 309) 
John Updike erzählt mit frivoler Lust aus dem Leben eines echten Schürzenjägers, doch handelt es sich dabei nicht um eine Aneinanderreihung pornographischer Episoden eines sexgeilen Mannes, sondern vielmehr um das Portrait des ländlichen Amerika mit seinen ganz eigenen Moralvorstellungen und den Ritualen, mit denen Männer und Frauen einander umwerben und sich abseits legitimierter Verhältnisse im Geheimen miteinander vergnügen. Updike erweist sich dabei einmal mehr als glänzender Beobachter des amerikanischen Way of Life und natürlich als grandioser Stilist, der mit Worten ebenso betört wie die Frauen die Männer. Nebenbei bekommt der Leser auch eine interessante Lektion über den Beginn der Computer-Ära, doch in erster Linie berauscht der gefeierte Autor sein Publikum mit seiner wohlkomponierten Sprache und seinen vergnüglichen, unsentimentalen Schilderungen amerikanischen Kleinstadtlebens.
Leseprobe John Updike "Landleben"

Ryan David Jahn – „Der Cop“

Sonntag, 6. Januar 2013

(Heyne, 335 S., HC)
„Ian Hunt hat noch eine knappe Stunde bis Schichtende, als seine tote Tochter anruft.“
Mit diesem spektakulären Satz beginnt der packende Thriller des amerikanischen Autors Ryan David Jahn, der bereits mit seinem aufsehenerregenden Debüt "Ein Akt der Gewalt" mit dem renommierten „Debut Dagger Award“ ausgezeichnet wurde. Mit seinem neuen Roman zieht Jahn nicht nur das Tempo an, sondern auch an der Spannungsschraube.
Kurz vor Schichtende erhält der Polizist Ian Hunt in der Leitstelle des Polizeireviers von Bulls Mouth, Texas, einen Notruf von einem Mädchen, das sich als Maggie Hunt vorstellt, die als Siebenjährige vor sieben Jahren spurlos verschwunden ist. Mit ihrer Beerdigung – ohne Leiche - vor zwei Monaten wurde nicht nur ein Teil der grausamen Vergangenheit begraben, sondern auch einen Schlussstrich unter die Beziehung mit Debbie und dem gemeinsamen Sohn Jeffrey gesetzt. Maggie kann ihrem Vater nur noch ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort am Main Street Shopping Center nennen, dann wird sie von ihrem Entführer gepackt und zurück in ihr Gefängnis im Killer des Ehepaars Henry und Beatrice Dean gebracht. Nachdem Beatrice ihr einziges Kind begraben musste, das für einen Moment unbeaufsichtigt in der Badewanne ertrunken war, hat Henry ihr immer wieder neue Ersatzkinder besorgt, bis diese auch gestorben waren. Maggie denkt nur noch an Flucht, doch bevor sie erneut ausreißen kann, wird sie von Henry geschnappt und mit Beatrice ins Auto verfrachtet. Mittlerweile hat die Polizei die Leichen der anderen Kinder auf Henrys Grundstück gefunden. Als die Polizei Henry zu den grausamen Funden befragen will, eröffnet dieser das Feuer. Zwei Cops gehen dabei drauf, Ian wird schwer verletzt. Dennoch bekommt er heraus, wohin Henry mit seiner Maggie fliehen will, und macht sich auf den Weg zu Henrys Bruder Ron nach Kaiser, Kalifornien …
„Ian lenkt den Mustang an den Straßenrand und hält an. Eine einzige Hoffnung bestimmt sein Denken: Vielleicht wird er seiner Tochter gleich einen entscheidenden Schritt näherkommen. Er weiß von den mindestens zwei Mädchenleichen, die im Wald gefunden wurden, und eigentlich sollte er bestürzt sein. Aber er empfindet keine Trauer. Was er empfindet, ist nicht einmal entfernt damit verwandt. Jede der Leichen war mal irgendjemands Tochter, aber eben nicht seine Tochter. Seine Tochter lebt, die anderen sind tot. Seine Tochter lebt, und er wird sie finden, er wird sie nach Hause in Sicherheit bringen, und sollten ihm diese Leichen dabei helfen, hat sich ihr Tod … Er versucht den Gedanken zu verdrängen, dass sich der Tod der Mädchen dann sogar gelohnt haben könnte. Er versucht, ihn zu verdrängen, ihn in die dunkelste Ecke seiner Seele zu sperren, fernab des grellen Lichts seines Bewusstseins, wo seine ganze Hässlichkeit klar zutage tritt – aber er kann nicht anders, tief in seinem Inneren glaubt er, dass es genau so ist: Dann hat sich ihr Tod gelohnt. Er spürt es mit jedem Herzschlag.“ (S. 135) 
Was „Der Cop“ so faszinierend macht, sind nicht allein das imponierende Tempo und ein Setting, das etwas an Cormac McCarthys „No Country For Old Men“ erinnert. Es geht nämlich über die spannende Verfolgungsjagd hinaus, in der ein Cop einfach nur einen Verbrecher quer durch die Staaten zu erwischen versucht. Jahn baut eine unerträgliche Spannung dadurch auf, dass er beide Parteien nicht einfach in Gut und Böse aufteilt, sondern den heiligen Sinn der Familie ins Zentrum seines Romans stellt, wobei jedes Familienoberhaupt bis zum Äußersten zu gehen bereit ist, die längst zerrüttete Familie vor dem Zerbersten zu retten. Selbst der „gute“ Cop greift zu äußerst drastischen Mitteln, um seine geliebte Tochter zu befreien. Jahn greift bei der Beschreibung der blutigen Ereignisse zu ebenso ungeschminkten Worten, die dem Roman aber nur an Ausdruckskraft gewinnen lassen. „Der Cop“ ist schlicht und einfach grandiose Literatur, die einen mit dem ersten Satz packt und bis zum Showdown nicht mehr loslässt.
Leseprobe Ryan David Jahn – “Der Cop”

Robert Ludlum, Eric Van Lustbader – „Der Bourne Befehl“

Dienstag, 1. Januar 2013

(Heyne, 560 S., HC)
Kaum ist mit „Das Bourne Vermächtnis“ der vierte Film aus der Bourne-Reihe in den Kinos gestartet, erblickt ein neuer Roman um den ehemaligen CI-Agenten ohne Gedächtnis das Licht der Welt, der neunte mittlerweile. Allerdings dürfte Bourne-Schöpfer Robert Ludlum kaum noch etwas mit diesem Werk zu tun haben. Seit seinem Tod im Jahre 2001 setzt sein Thriller-Kollege Eric Van Lustbader die Reihe erfolgreich fort und konfrontiert den Leser mit äußerst komplexen Intrigen in der internationalen Geheimdienstwelt.
Diesmal zieht es Jason Bourne auf Drängen seiner Freundin Moira nach Kolumbien, er muss sich aber immer wieder den Attentaten erwehren, die die mächtige internationale Vereinigung Severus Domna in Auftrag geben, da ihr Bourne bei der Erfüllung ihrer Ziele im Weg steht. Währenddessen setzt der US-amerikanische Präsident alles daran, die wirtschaftlich so wichtigen wie seltenen Erden in Indigo Ridge durch die neu gegründete Firma NeoDyme abbauen zu lassen. Um dort die Sicherheit zu gewährleisten, richtet er eine Task Force unter dem Namen Samaritan ein, für die Verteidigungsminister Christopher Hendricks zuständig ist und wofür er das angeschlagene Treadstone-Projekt reaktiviert. Soraya Moore und Peter Marks, die Treadstone leiten, gehen aber zunächst dem Mord an einem ihrer Severus-Domna-Informanten in Paris nach, wo ihr ägyptischer Geheimdienstfreund Amun Chalthoum ebenfalls erschossen wird. Die Spuren führen zu einer Bank, die in enger Verbindung mit Severus Domna steht. In Kolumbien trifft Bourne auf Jalal Essai, der noch eine Rechnung mit Severus Domna und ihrem Chef Benjamin El-Arian offen hat und Bourne für seine Zwecke einspannen will. Als Gegenleistung erhält Bourne von ihm die Information, dass die Domna ausgerechnet Bournes besten Freund Leonid Arkadin auf ihn angesetzt hat.
 „Bourne hatte von Anfang an nicht geglaubt, dass Essai in allem völlig ehrlich war, doch an einem zweifelte er absolut nicht: an Essais Wunsch, Severus Domna zu zerstören. In diesem Punkt zogen sie beide an einem Strang, und sie brauchten einander, um ihr Ziel zu erreichen. Sie mussten einander auch trauen können, doch das war schwer möglich, weil sich ihre Übereinstimmung auf den Kampf gegen die Domna beschränkte. Danach war alles offen.“ (S. 98) 
Bourne reist mit Essai nach Cadíz zu Don Fernando und stößt dort auf eine Waffenlieferung mit Ziel Damaskus, wo sich schließlich die Wege von Bourne und Arkadin kreuzen …
In „Der Bourne Befehl“ trifft der Leser auf einige alte Bekannte wie die Treadstone-Leiter Peter Marks und Soraya Moore, aber auch die russischen Geheimdienstler sind wieder mit von der Partie. Das erleichtert schon mal den Zugang zu den vielseitigen Ereignissen, die sich in Moskau ebenso abspielen wie in Cadíz, Washington, Kolumbien, Paris oder schließlich Damaskus. Zum Glück schaffen es Ludlum und Van Lustbader zum Ende hin, all die losen Enden in einen packenden Showdown münden zu lassen, bei dem Jason-Bourne-Fans voll auf ihre Kosten kommen.
Leseprobe: Robert Ludlum, Eric Van Lustbader – „Der Bourne Befehl“

Carlos Ruiz Zafón – „Der Gefangene des Himmels“

Sonntag, 23. Dezember 2012

(S. Fischer, 403 S., HC)
Beginnend mit dem zum Welt-Bestseller avancierten „Der Schatten des Windes“ hat der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón eine eigene Welt erschaffen, mit der er seine Leser in ein Barcelona entführt, das voller Geheimnisse steckt, die nicht nur im kuriosen Fundus des Friedhofs der vergessenen Bücher schlummern, sondern auch in den historischen Straßen und zwielichtigen Gestalten der außergewöhnlichen Stadt. Mit „Der Gefangene des Himmels“ setzt Zafón seinen erfolgreichen Zyklus um den Buchhändler Daniel Sempere und seine Abenteuer auf gewohnt unterhaltsam-spannende Weise fort.
Das Weihnachtsgeschäft der Buchhandlung Sempere & Söhne läuft 1957 eher schleppend an. Da verkauft Daniel einem eher mürrischen Kunden das teuerste Buch im Laden, eine edle Ausgabe des „Grafen von Monte Christo“. Der geheimnisvolle Mann schreibt eine Widmung ins Buch und beauftragt Daniel, es seinem guten Freund Fermín Romero de Torres zu übergeben. Irritiert von den Worten, die der spendable Kunde hinterlassen hat, verfolgt ihn Daniel bis zu einer billigen Pension, in der sich der Mann unter Fermíns Namen eingetragen hat. Als Daniel seinem alten Freund das Buch übergibt und ihn zur Rede stellt, erfährt er, wie Fermín zu seinem Namen kam, als er 1939 im Gefängnis auf Montjuic erleben musste, wie Hunger, Folter und Korruption hinter den Mauern regierten, wobei dem damaligen Gefängnisdirektor Mauricio Valls eine besondere Bedeutung zukam. Hier kreuzten sich auch die Wege von Fermín und David Martín, Autor von „Das Spiel des Engels“, bis Fermín die spektakuläre Flucht gelang und er im Armenviertel von Barcelona von Armando zu neuem Leben erweckt wurde.
„Seine Tage verstrichen zwischen Schlafen und einer hartnäckigen Müdigkeit. Immer wenn er die Augen schloss und sich der Erschöpfung überließ, reiste er an denselben Ort. In seinem sich Nacht für Nacht wiederholenden Traum erkletterte er die Wände eines unendlichen, mit Leichen angefüllten Grabens. Wenn er oben war und zurückschaute, sah er, dass sich diese Flut geisterhafter Leichen durcheinanderwühlte wie ein Strudel von Aalen. Die Toten schlugen die Augen auf und kletterten hinter ihm die Wände hinauf. Sie folgten ihm durch den Berg und überschwemmten die Straßen Barcelonas, wo sie ihr ehemaliges Zuhause suchten, bei den geliebten Menschen anklopften. Einige machten sich auf die Suche nach ihren Mördern und klapperten rachedurstig die ganze Stadt ab, aber die meisten wollten nur in ihre Wohnung, in ihre Betten zurück, wollten die zurückgelassenen Kinder, Frauen, Geliebten in die Arme nehmen. Es machte ihnen jedoch niemand auf, niemand nahm ihre Hand in die seinen, und niemand wollte ihre Lippen küssen, und der Todkranke erwachte in der Dunkelheit schweißgebadet ob dem ohrenbetäubenden Weinen der Toten in seiner Seele.“ (S. 216)
Doch die Lebensgeschichte von Fermín bildet nur einen Teil von „Der Gefangene des Himmels“. Darüber hinaus gilt es Fermíns Hochzeit mit der schwangeren Bernarda vorzubereiten und Daniels Rivalen Pablo auszuschalten, der seine Ankunft in Barcelona mit einem Brief an Daniels Frau Bea ankündigt und keine Zweifel daran lässt, seine ehemalige Verlobte noch immer zu lieben.
Zafón läuft in seinem neuen Roman zu vertrauter Hochform auf. Von Beginn an packend und rasant erzählt, wird mit „Der Gefangene des Himmels“ ein weiteres Puzzlestück in dem mystisch angehauchten Kosmos eines literarischen Barcelonas enthüllt, dessen Atmosphäre der Autor so meisterhaft zu beschreiben versteht. Virtuos webt der mittlerweile in Los Angeles lebende Autor schaurige Fantastik, labyrinthische Bücherwelten, dramatische Liebesgeschichten, packenden Krimi und das mystische Flair Barcelonas zu einem elegant geschriebenen Meisterwerk, das neugierig macht auf die nächste Episode aus dem Friedhof der vergessenen Bücher …
Leseprobe Carlos Ruiz Zafón – „Der Gefangene des Himmels“