Stephen King – „Joyland“

Sonntag, 23. Juni 2013

(Heyne, 352 S., HC)
Nach zwei Jahren, in denen Devin Jones mit an der University von New Hampshire mit Wendy Keegan ging und in denen sie alles gemeinsam machten außer „es“, kommt es im Sommer 1973 zum Bruch. Sonst arbeiteten sie in den Semesterferien in ihren Nebenjobs durch, sie in der Bibliothek, er in der Mensa, aber diesmal haben Wendy und ihre Freundin Renee einen Job bei Filene’s in Boston bekommen. Per Brief macht Wendy schließlich mit Devin Schluss und lässt einen jungen Mann mit gebrochenem Herzen zurück. Doch als Devin in einer Ausgabe von „Carolina Living“ auf ein Jobangebot mit dem Titel „Work Close To Heaven!“ stößt, beginnt für den 21-jährigen Anglistsik-Studenten das Abenteuer seines Lebens.
In dem eindrucksvollen Freizeitpark „Joyland“ in Heaven’s Bay findet er neue Freunde und trifft auf merkwürdige Gestalten. Sein Kollege Lane Hardy erzählt ihm, dass es im Horror House spuken soll, seitdem das junge Mädchen Linda Gray dort mit aufgeschnittener Kehle aufgefunden wurde. Vor allem ist Devin von Annie Ross und ihrem im Rollstuhl sitzenden Sohn Mike fasziniert, denen er auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig begegnet und mit denen er sich anzufreunden beginnt.
 „Mein Vater hatte recht: Ich war immer noch traurig und deprimiert darüber, wie es mit Wendy zu Ende gegangen war, aber immerhin hatte ich angefangen, den Tatsachen ins Auge zu blicken und mich (wie es in den Selbsthilfegruppen heutzutage so schön heißt) mit ihnen abzufinden. Von echter Gelassenheit war ich natürlich noch weit entfernt, aber ich quälte mich auch nicht mehr Tag und Nacht wie noch im Juni und hatte zumindest das Gefühl, dass es langsam wieder bergauf ging. Dass ich hier bleiben wollte, hatte auch mit anderen Dingen zu tun, über die ich mir bei Weitem noch nicht im Klaren war, weil sie in einem wilden Haufen durcheinanderlagen und nur vom groben Garn der Intuition zusammengehalten wurden. Mit meiner Begegnung mit Hallie Stansfield zum Beispiel. Und mit Bradley Easterbrook, der am Sommeranfang gesagt hatte: Wir verkaufen Spaß. (…) Und dem Jargon, der Geheimsprache, die die anderen Grünschnäbel bis zu den Weihnachtsferien vergessen haben würden. Ich wollte all die tollen Wörter nicht vergessen. Ich hatte das Gefühl, dass in Joyland noch mehr auf mich wartete. Ich wusste nicht, was, nur eben einfach … mehr.“ (S. 153) 
Tatsächlich kommen Devin und seine Kollegin Erin Cook einer ganzen Reihe von Morden an jungen Mädchen auf die Spur, die quer durch das Land in der Nähe von Vergnügungsparks verübt worden sind. Doch je mehr sich Devin mit der Aufarbeitung der Morde und dem Geist von Linda Gray im Horror House beschäftigt, desto mehr begibt er sich selbst in Lebensgefahr …
Nach seinen letzten beiden episch angelegten Romanen „Die Arena“ und „Der Anschlag“, die in den 60er Jahren angesiedelt waren, demonstriert Bestseller-Autor Stephen King mit seinem neuen Roman „Joyland“, dass er nach wie vor auch sehr kurz gehaltene und ebenso kurzweilige Geschichten zu erzählen vermag. „Joyland“ ist nur auf den ersten Blick eine typische Jahrmarkts-Geistergeschichte. Tatsächlich handelt es sich hier um eine lupenreine Coming-of-Age-Story, in der die Schicksale einer überschaubaren Anzahl von Personen immer mehr miteinander verstrickt werden. King entwickelt dabei ein feines Gespür für seine Figuren und ihre ganz eigenen Befindlichkeiten, die der besorgten Mutter eines zum Sterben verurteilten Kindes ebenso wie die des kleinen Jungen selbst. Vor allem aber füllt der Ich-Erzähler Devin Jones die Seiten mit all seinen verwirrten Gefühlen über seine erste, nicht wirklich erfüllte Liebe, über die Beziehung zu seinem Vater und zu Annie Ross und ihrem Sohn. Die Mordfälle geraten dabei nahezu in den Hintergrund, doch zum spannenden Finale hin nimmt dieser Aspekt mächtig an Fahrt auf, was „Joyland“ auch noch eine lupenreine Thriller-Komponente verleiht. Die letzten Werke von Stephen King waren schon sehr gut, aber mit „Joyland“ hat der King of Horror ein Meisterwerk abgeliefert, das einen ganz fesselnden Groove und einen geheimnisvollen Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann.

Jeffery Deaver – „Schutzlos“

Samstag, 15. Juni 2013

(Blanvalet, 509 S., Tb.)
Das FBI-Büro in Charleston, West Virginia, ist bei einer Drogenrazzia auf die Fingerabdrücke des Lifters Henry Loving gestoßen, der eigentlich vor zwei Jahren in einem abgebrannten Lagerhaus zu Tode gekommen sein soll. Lifter sind freiberufliche Vernehmungsspezialisten, die angeheuert werden, um von bestimmten Personen Informationen herauszuholen, auf welche Weise auch immer.
Nun ist Loving auf die Familie des in Washington, D.C. lebenden Polizisten Ryan Kessler angesetzt worden. Die Staatsanwaltschaft setzt den privaten Personenschützer Corte darauf an, die Kesslers in einem sicherem Haus unterzubringen, bis Loving gestellt worden und sein Auftraggeber bekannt ist. Corte hat dabei noch eine persönliche Rechnung mit Loving offen: vor sechs Jahren tötete er nämlich Cortes Mentor Abe Fallow. Zunächst scheint es, als wäre Kessler durch die zwei größeren Fälle, an denen er momentan arbeitet, in Lovings Visier gerückt, doch alle Ermittlungen von Cortes streng geheim operierender Firma in dieser Richtung führen ins Leere.
„Einer der besten Lifter war hinter Ryan Kessler her. Und zwar nicht wegen seiner beiden aktuellen großen Fälle. Und es war nicht wegen seiner Verwaltungstätigkeit. Die Spieltheorie berücksichtigt Unbekannte und Bekannte in der Gleichung. Man weiß nicht, wie der Würfel fallen wird, welche Karte man als nächste aufhebt oder bekommt. Man kennt den nächsten Zug seines Gegners nicht. Deine zitternde Hand lässt dich manchmal irrtümlich ziehen. Aber etwas, was du immer weißt, ist, wer dein Gegner ist und welches Ziel er verfolgt. Dieses Spiel war jedoch anders. Ich kannte den Gegner nicht – nur die Spielfigur, den Springer oder Turm: Henry Loving. Und ich kannte das Ziel des Spiels nicht.“ (S. 329) 
Tatsächlich scheinen auch die anderen Kesslers potenzielle Kandidaten zu sein, brisante Informationen in sich zu tragen. Doch Loving hat mit seinem Partner schon längst die Spur aufgenommen und bringt Corte und seine Mandanten in eine lebensbedrohliche Situation …
Neben seinen schon legendären Lincoln-Rhyme-Romanen schreibt der amerikanische Bestseller-Autor Jeffery Deaver immer mal wieder eigenständige Thriller, mit denen er unter Beweis stellt, dass er stets neue interessante Settings zu ersinnen versteht. In „Schutzlos“ wird die Spannung auf gleich auf mehreren Ebenen aufgebaut. Zunächst wird das Duell zwischen den beiden Todfeinden Loving und Corte ins Feld gebracht, wobei Corte als Spiel-Experten und –Sammler immer wieder passende Gedanken zur Spieltheorie in den Mund gelegt werden, um seine Strategie zu beschreiben. Auf der darüber liegenden Ebene wird Lovings Auftraggeber gesucht, der schließlich das Motiv für die Jagd auf die Kesslers besitzt. Und schließlich bleibt lange unklar, wer konkret aus der Familie eigentlich Lovings Ziel ist. Was die Motive und die Zielperson angeht, arbeitet Deaver geschickt mit immer neuen Wendungen, die auf Dauer aber auch sehr konstruiert wirken, was gerade auf die finale Identifizierung des Auftraggebers zutrifft. Aber bis dahin bietet „Schutzlos“ ein packendes Lesevergnügen mit vielschichtigen Figuren und einem sympathischen wie gewissenhaften Protagonisten, der es nicht immer leicht hat, seine Mandanten nur als solche zu sehen.
Leseprobe: Jeffery Deaver – “Schutzlos”

Linwood Barclay – „Fenster zum Tod“

Samstag, 25. Mai 2013

(Knaur, 589 S., Pb.)
Der 35-jährige Thomas Kilbride ist schizophren, verfolgt aber seit seiner Kindheit das ambitionierte Projekt, Karten und Stadtpläne auf der ganzen Welt in sich aufzusaugen. Als er die Webseite Whirl360.com kennenlernt, geht ein Traum für ihn Erfüllung. Systematisch nimmt er sich am Computer in seinem Zimmer, das er eigentlich nur zum Essen und Verdauen verlässt, Stadt für Stadt vor und prägt sich die einzelnen Straßen, ihre Häuser, Fassaden und Geschäfte ein, die auf der Website einzusehen sind. Eines Tages entdeckt er auf einer seiner Entdeckungstouren in der Orchard Street in Manhattan, wie der Mord an einer Frau am Fenster fotografiert worden ist.
Sein Bruder Ray, der als Illustrator in Burlington lebt, sich nach dem Tod des Vaters aber auch um Thomas kümmern muss, begegnet dieser Beobachtung zunächst mit Skepsis, weil sein Bruder auch glaubt, für die CIA zu arbeiten und ihren Agenten helfen zu können, wenn sie nach dem Ausfall elektronischer Hilfsmittel schnell fliehen müssen. Thomas drängt seinen Bruder, mit dem Foto nach Manhattan zu erfahren und vor Ort Näheres zu diesem mutmaßlichen Vorfall in Erfahrung zu bringen.
„Ich hatte mir einen Ausdruck der Szene am Fenster mitgenommen. Während der Zug den Hudson entlangfuhr, sah ich ihn mir noch einmal ganz genau an. Ich musste zugeben, von dem Bild ging eine besondere Wirkung aus. Dass der Kamerawagen von Whirl360 bei seinem Einsatz in Manhattan buchstäblich im Vorbeifahren einen gerade stattfindenden Mord aufgenommen haben sollte, schien mir im Gegensatz zu Thomas sehr weit hergeholt. Allerdings immer weniger, je länger ich das Foto betrachtete. Es sah tatsächlich so aus, als würde hier ein Mensch erstickt, als hätte sich jemand von hinten angeschlichen, ihm eine Tüte über den Kopf gestülpt und festgezogen.“ (S. 232f.) 
Ray und Thomas müssen bald erfahren, dass sich hinter dem vertuschten Mord die in Gefahr geratene Politikerkarriere des Gouverneur-Kandidaten Morris Sawchuck und die geheime lesbische Beziehung seiner Frau Bridget verbergen. Sawchucks mit allen Wassern gewaschener Wahlkampfmanager Howard Talliman und sein skrupelloser Handlanger Lewis Blocker lassen nicht locker, bis sie alle weiteren Spuren und Zeugen beseitigt haben, und machen sich auf die Suche nach Thomas Kilbride, der von den Überwachungskameras über dem besagten Appartement erfasst worden ist …
Seit seinem 2007 veröffentlichten Debüt „Ohne ein Wort“ hat sich der amerikanische, in Kanada lebende Linwood Barclay als erfolgreicher Thriller-Autor etabliert. Sein neues Werk „Fenster zum Tod“ beginnt als interessante Variation von Hitchcocks Suspense-Klassiker „Das Fenster zum Hof“, entwickelt aber ganz schnell eine eigene Dynamik, die auf der einen Seite vor allem dem interessanten Bruder-Paar zu verdanken ist, andererseits aber auch der Geschichte um die eigenwillige Auftragskillerin Nicole. Spannend und wendungsreich erzählt Barclay ein vielschichtiges und faszinierendes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der Ich-Erzähler Ray Kilbride auch der Frage nachgeht, ob der Tod seines Vaters wirklich ein Unfall gewesen war und was der Eintrag „Kinderprostitution“ in der Chronik auf dem Laptop seines Vaters zu bedeuten hat.
Das furiose Finale wirkt zwar wieder etwas arg konstruiert, doch das mindert das kurzweilige Lesevergnügen nur minimal.
Leseprobe: Linwood Barclay – “Fenster zum Tod”

Stephen King – „Die Arena“

Sonntag, 12. Mai 2013

(Heyne, 1280 S., HC)
Wie aus dem Nichts wird die amerikanische Kleinstadt Chester’s Mill von einer durchsichtigen, leicht luftdurchlässigen und – wie sich bald herausstellen wird – leider auch unzerstörbaren Kuppel eingeschlossen. Claudette Sanders zerschellt während ihrer Flugstunde mit der heißgeliebten Seneca ebenso an der massiven Barriere wie Murmeltiere zerteilt werden, als der „Dome“ unbemerkt die Einwohner der Stadt einsperrt. Das kommt vor allem Dale „Barbie“ Barbara ungelegen, weil er nach einer Abreibung auf dem Parkplatz des Dipper’s gerade die Stadt verlassen wollte.
Die Kuppel macht die Pläne des Grillkochs und Irak-Veterans zunichte, kommt dem Zweiten Stadtverordneten Jim Rennie aber gerade recht. Nachdem das Militär unter Führung von Colonel Cox selbst mit Raketen erfolglos versucht hat, die Kuppel zu zerstören, herrscht in Chester’s Mill der Ausnahmezustand. Der Gebrauchtwagenhändler Big Jim Rennie nutzt diese Gelegenheit, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die Macht an sich zu reißen. Mit seinen willigen Helfen, vom stellvertretenden Polizeichef Randolph über den Ersten Stadtverordneten Andy Sanders bis zu seinem Sohn Junior Rennie, den er eine Mannschaft von jungen Deputys zusammenstellen lässt, um die Ordnung zu wahren, schaltet er systematisch seine politischen Feinde aus, setzt Lügen in die Welt und schreckt auch vor Mord nicht zurück.
„In der großen Welt hätte er vielleicht mehr Geld scheffeln können, aber Wohlstand war das Dünnbier der Existenz. Macht war Champagner. Über The Mill zu herrschen war an gewöhnlichen Tagen gut, aber in Krisenzeiten war es besser als gut. In solchen Zeiten konnte man auf Schwingen reiner Intuition fliegen, in der Gewissheit, dass man nichts vermasseln konnte, absolut keine Chance. Man konnte die Verteidigung durchschauen, noch bevor sie sich formiert hatte, und punktete mit jedem Wurf. Man fühlte es, und das konnte zu keinem besseren Zeitpunkt passieren als in einem Meisterschaftsfinale. Dies war sein Meisterschaftsfinale, und alles entwickelte sich zu seinem Vorteil. Er spürte – nein, we wusste -, dass bei diesem magischen Lauf nichts schiefgehen konnte; selbst Dinge, die schlecht zu stehen schienen, würden sich als Chancen statt als Stolpersteine erweisen.“ (S. 528f.) 
Zu den Stolpersteinen zählen nicht nur die Dritte Stadtverordnete Andrea Grinnell und Julia Shumway, die Herausgeberin des Lokalblatts „The Democrat“, vor allem Brenda Perkins, die Frau des verstorbenen Polizeichefs, könnte mit ihrem belastenden Material, das ihr Mann über Rennie zusammengetragen hat, zu einem echten Problem werden. Doch Rennie ist gerissen und skrupellos genug, um seine Feinde in die Schranken zu verweisen, während es keine Lösung für die Vernichtung der Kuppel zu geben scheint, unter die Luft zum Atmen immer schlechter wird …
Stephen King hat im Verlauf seiner ebenso langjährigen wie produktiven Karriere immer mal wieder monumentale Werke geschaffen, von dem apokalyptischen „The Stand“ bis zum mehrteiligen Western-Fantasy-Zyklus „Der Dunkle Turm“. Den Entwurf zu „Under the Dome“ verfasste King – wie er im Nachwort erwähnt – bereits 1976, verzagte aber bei den ökologischen und meteorologischen Aspekten, die die Kuppel aufwarf. Mit „Die Arena“ schuf King ein weiteres Endzeit-Epos, das im Mikrokosmos einer auf sich allein gestellten Kleinstadt demonstriert, wohin die Gier nach Macht Menschen treiben kann und wie wenig sich die normale Bevölkerung dagegen zu wehren versteht. Es dürfte nicht schwerfallen, in „Die Arena“ einen Kommentar auf die amerikanische Politik im Kampf gegen den Terror zu sehen. Stephen King beschreibt das Grauen, das aus einem plötzlich entstandenen Machtvakuum entsteht, gewohnt anschaulich und spannend, versäumt es aber, die unzähligen Beteiligten detailliert zu beschreiben, wofür bei knapp 1300 Seiten mehr als genug Platz gewesen wäre. Dafür sind der Verfall der städtischen Gemeinschaft und der Zusammenhalt einiger weniger aufrecht kämpfender Bürger umso bemerkenswerter beschrieben. „Die Arena“ bietet trotz der epischen Länge King-typische Spannung bis zum außergewöhnlichen Finale und bietet genügend Anregungen zum Nachdenken über das Gemeinwohl und die Wertschätzung des Lebens allgemein.
Leseprobe: Stephen King – “Die Arena”

John Updike – „Sucht mein Angesicht“

Montag, 1. April 2013

(Rowohlt, 316 S., HC)
Als die junge Kunsthistorikerin Kathryn aus New York eines Tages im Jahr 2001 das abgelegene Anwesen der Malerin Hope Chafetz für ein Interview aufsucht, eröffnet sie das Gespräch mit einem Zitat der Künstlerin, das diese fünf Jahre zuvor im Katalog zu ihrer letzten Ausstellung von sich gegeben hat, über den offensichtlich gelungenen Versuch, aus dem Schatten ihres ersten Mannes herauszutreten. Über den ganzen Tag hinweg unterhalten sich die beiden Frauen über Hopes bewegtes Leben.
Auch wenn der Artikel in erster Linie Hope gewidmet sein soll, sind es vor allem die Beziehungen zu ihren Männern, die Kathryns Fragenkatalog prägen. Und so erzählt Hope nach dem Abhaken ihrer Kindheit über das Leben mit Zack in den 40er Jahren, wo er mit seinen Drippings zum Kern des Abstrakten Expressionismus vorstieß. Hope erinnert sich auf sehr lebendige Weise an seine außergewöhnliche Art, Kunstwerke zu gestalten, und lässt ihre Interviewerin wie den Leser noch einmal teilhaben an dem künstlerischen Schaffensprozess.
„In Los Angeles hat er die entscheidenden High-School-Jahre erlebt und die ersten Kunstlehrer, die so was wie einen inspirierenden Einfluss auf ihn hatten. Aber, doch, ja, sowie er die Leinwand mit Klebeband am Scheunenboden befestigt hatte, konnte er von allen Seiten attackieren, so hat’s angefangen mit dem Dripping. Wenn man die Farbe nicht bloß tropfen ließ, sondern sie verspritzte, kam man bis in die Mitte der Leinwand. Im frühen Werk gibt es natürlich auch schon ein Klecksen mit Farben – lange vor dem Krieg hat er ja schon direkt mit der Tube gemalt -, und die Surrealisten hatten mit Farbe gespielt, indem sie sie ausgossen, sie schütteten, wegen des automatischen Effekts. Matta, Masson, Sie wissen schon. Aber Zack bestand immer darauf, dass es nichts Zufälliges an seinem Dripping gebe, dass alles bis ins Kleinste von ihm beabsichtigt sei. Schon wahr, er lernte gerade, wie er die Farbe verdünnen musste und welche Werkzeuge – Stöcke, eingetrocknete Pinsel, diese langen Glasröhren, mit denen man den Truthahn im Ofen begießt – er zu was benutzen konnte. Vor ihm hatte noch niemand solche Fähigkeiten beherrschen müssen; es war wunderbar, ihm zuzusehen, er bewegte sich mit so viel Grazie und mit einer Selbstsicherheit, die er sonst nie hatte. Ich glaube, dass es das war, dies Kraftvolle, das ihm so viel Publicity eintrug und so anziehend auf die breite Masse wirkte: solche Männer kannte man sonst nur vom Kino.“ (S. 109) 
Nachdem Zack bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, heiratete Hope den Pop-Art-Künstler Guy und schließlich, nachdem er sie wegen einer jüngeren Pferdepflegerin verlassen hatte, den wohlhabenden wie unkomplizierten Kunstsammler Jerry. Über die jeweils ganz andersartigen Beziehungen zu ihren Männern und deren Kunst, ihren Kindern und Verhaltensweisen lässt sich Hope vor der jungen Frau vollkommen aus, wobei sie sich immer näher kommen, aber auch wieder voneinander entfernen, wie Mütter und Töchter, Geliebte und Rivalinnen es wohl tun.
John Updike gelingt das Kunststück, mit diesem einen Interview ohne Unterbrechung in Kapiteln über dreihundert Seiten zu füllen. Dabei kommt ihm zugute, dass er selbst bildende Kunst an der Ruskin School of Drawing and Fine Arts in London studiert hat. Durch die ungewöhnliche Form eines Interviews rekapituliert Updike die Geschichte der amerikanischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg und taucht dabei tief ein in die Seelen der Künstler, das Gehabe der Galeristen und Kritiker, das Partyleben und die Affären. Zacks Figur ist dabei an Jackson Pollock angelehnt, und einige Statements der fiktiven Künstler in „Sucht mein Angesicht“ sind der Anthologie „Abstract Expressionism: Creators and Critics“ von Clifford Ross entnommen. So entsteht ein höchst lebendiges, aufschlussreiches Bild amerikanischer Nachkriegskunst, wie sie nur ein John Updike mit seiner ausschweifenden Lust am Fabulieren malen kann.
Leseprobe John Updike "Sucht mein Angesicht"

Robert Bloch – „Der Ripper“

Samstag, 23. März 2013

(Heyne, 282 S., Tb.)
London im August 1888. Wie viele ihrer Mitmenschen ist die Lernschwester Eva Sloane von den grausamen Morden an Prostituierten in Londons Elendsviertel Whitechapel betroffen. Die Polizei tappt bei der Identifizierung des Täters ziemlich im Dunkeln. Da der Täter offensichtlich gute anatomische Kenntnisse besitzt, sucht Kriminalinspektor Frederick Abberline die Unterstützung der Ärzte im London Hospital.
Da die Chirurgen aber schnell das Gefühl bekommen, ganz oben auf der Liste der Verdächtigen zu stehen, halten sie mit ihren Meinungen hinter den Berg. Allein der gerade aus Amerika zu Studienzwecken nach London gereiste junge Arzt Mark Robinson steht dem Inspektor mit Rat und Tat zur Seite. Dabei beginnt er sich auch für die sympathische Krankenschwester zu interessieren, der er eines Nachts behilflich gewesen ist, die ihn aber wegen einer Verabredung immer wieder freundlich, aber bestimmt abblitzen lässt. Abberline und Robinson verfolgen eine Menge Spuren und kommen bei ihren Ermittlungen sowohl mit Arthur Conan Doyle und Oscar Wilde als auch John Merrick, dem Elefantenmenschen, in Kontakt. Schließlich scheint das spiritistische Medium Robert Lees die Polizei auf eine heikle Spur zu führen. Denn Lees Visionen bringen Abberline und Robinson geradewegs zum Leibarzt der Königin. Währenddessen verspottet Jack the Ripper die Polizei mit Briefen voller Rechtschreibfehler und kündigt kühn weitere Taten an …
„Wer der Ripper auch sein mochte, er lief frei herum. Er lief mit einem Messer durch die Nacht, auf der Suche nach neuen Opfern … Von der nahegelegenen Kirche schlug es Mitternacht, und Marks Lächeln verschwand. Jetzt blickte er grimmig drein. So viele Kirchen gab es hier in Whitechapel, so viele Gebete, die zu Gott aufstiegen, und wozu? Gebete waren kein Schutz vor einem Massenmörder, das hatte sich erwiesen. Es gab keinen möglichen Schutz, solange Jack the Ripper umherstreifte. Er konnte jetzt überall sein, selbst hier.“ (S. 231) 
Robert Bloch ist vor allem durch die literarische Vorlage zu Alfred Hitchcocks Suspense-Klassiker „Psycho“ weltberühmt geworden und hat eine Vielzahl von Kriminal- und Horrorgeschichten verfasst. In „Der Ripper“ hat er sich eines der spektakulärsten Fälle der Kriminalgeschichte angenommen, aber ganz bewusst wenige historische Fakten verwendet, abgesehen von den Einzelheiten der Taten, die Jack the Ripper begangen hat. Bloch nimmt sich allerdings wenig Zeit, die Vielzahl der Figuren näher zu charakterisieren, die er stakkatoartig vorstellt, um sie als mögliche Verdächtige einzuführen. Auf der anderen Seite sind nahezu ebenso viele Charaktere in die Aufklärung der scheußlichen Verbrechen eingebunden. So präsentiert sich „Der Ripper“ als zwar spannend geschriebenes, doch aufgrund der unzähligen Figuren recht beliebiges „Whodunit“-Spiel ohne allzu großen Gruselfaktor. Denn dafür fehlt es dem hastig inszenierten Figurenkarussell an der nötigen Atmosphäre.

Joey Goebel – „Ich gegen Osborne“

Freitag, 22. März 2013

(Diogenes, 431 S., HC)
Dass sein Vater erst vor zwei Tagen beerdigt worden ist, kümmert James Weinbach kaum. Der Außenseiter an der Osborne-Highschool in Vandalia, Kentucky, ist viel mehr damit beschäftigt, seinen Schul-Alltag zu hassen. Der einzige Umstand, der James‘ Dasein an der Osborne High erträglich macht, ist seine Zuneigung zu Chloe, mit der er stundenlang reden kann, die darüber hinaus aber ähnlich ausgeprägte Macken zu haben scheint wie er selbst.
Nach der einen Woche Frühlingsferien hat sich jedoch alles verändert. Von allen Seiten wird James zugetragen, dass seine geliebte Chloe wie viele seiner MitschülerInnen die Ferien in Panama City verbracht hat, wo sie in einer „Fließbandnummer“ mit wildfremden Jungs schlief. Darüber hinaus geht sie ausgerechnet mit jenem Jungen zum Abschlussball, der als Mädchenschwarm bekannt ist und über den Chloe und James immer abgelästert hatten. Nachdem James Chloe auf ihre Eskapaden angesprochen hat, wird er nicht nur von heftigem Durchfall geplagt, sondern muss sich auch einer bitteren Wahrheit stellen.
„Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie damit indirekt zugab, dass die Gerüchte stimmten, ließ sich aus unserem Gespräch zumindest die Erkenntnis ableiten: Es würde weder einen James für Chloe noch eine Chloe für James geben. Das hätte nicht klarer sein können, selbst wenn es auf meine Drüsen gestempelt worden wäre. Sie dachte, wir wären nur Freunde. Für uns beide würde es kein Abholen abends um sieben, keinen Tisch für zwei, keinen romantischen Höhepunkt geben. Ich würde sie nie berühren. Ich musste akzeptieren, dass das einzige weibliche Wesen, das die Schicksalsgöttinnen mir zugestanden, jene imaginäre Muse war, die mich zum Schreiben inspirierte.“ (S. 104)
 James beschließt, sich zu rächen. Ohne Rücksicht auf Verluste erpresst er den Schulleiter und lässt diesen den kommenden Abschlussball absagen. Was darauf folgt, lässt sich nur noch als heillos emotionales wie schweißtreibendes und tränenreiches Chaos beschreiben …
Joey Goebel ("Vincent", "Heartland") beschreibt in „Ich gegen Osborne“ gerade mal einen Schultag, den der zutiefst unglückliche, schließlich auch in seiner zarten Liebe zu Chloe gedemütigte James auf der Osborne-High verbringt. Natürlich sind in die Beschreibungen des Schulalltags auch Erinnerungen des Jungen eingeflochten, die seinen Charakter ausleuchten, aber es sind vor allem die Beobachtungen seiner Umwelt und die Selbstreflexionen, die das Buch so lesenswert machen. Denn was Goebel über einen Tag in einer gewöhnlichen Highschool beschreibt, lässt sich natürlich auch auf alle anderen Lebensbereiche anwenden. Es sind die immer wiederkehrenden Wünsche, Sehnsüchte und Ängste von ganz normalen Menschen, die anerkannt und geliebt werden wollen, andererseits aber auch die Hoffnung hegen, etwas ganz Besonderes zu sein und sich von der Masse abzuheben. James ist in jeder Hinsicht ein Außenseiter, mit seinem Anzug und den guten Schuhen, mit denen er jeden Tag in der Schule aufkreuzt, mit seinen literarischen Ambitionen und den kaum erwähnenswerten Freunden. Er ätzt über alles ab, was seine MitschülerInnen toll finden, und katapultiert sich so immer wieder ins Abseits. Und doch will er irgendwie dazugehören und das Herz dieses einen Mädchens gewinnen, das auf einmal so unerreichbar scheint. Goebel portraitiert diesen außergewöhnlichen jungen Mann und sein Umfeld mit ebenso viel Tiefsinn wie Humor, und der Leser wird bei den scharfsinnigen Schilderungen immer wieder mit sich selbst und seinen eigenen Bedürfnissen und Verhaltensweisen konfrontiert.
„Ich gegen Osborne“ ist bei allen brillanten Beobachtungen aber auch eine wunderschön geschriebene Coming-of-Age- und Love-Story, so dass jeder Leser wirklich etwas für sich mitnehmen kann, denn jung waren wir mal alle und haben so oder so ganz ähnliche Gedanken und Gefühle geteilt, wie sie James Weinbach so bildhaft artikuliert.
Leseprobe Joey Goebel - "Ich gegen Osborne"