Don Winslow – „Zeit des Zorns“

Samstag, 20. Juli 2013

(Suhrkamp, 338 S., Pb.)
Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, doch zusammen sind sie ein einzigartig gut funktionierendes Team: Chon heißt eigentlich John, und niemand weiß mehr, wann aus dem einen Namen der andere wurde. Wichtig ist nur, dass der aufbrausende, temperamentvolle Chon zusammen mit dem friedfertigen Ben das beste Hydro-Gras überhaupt anbaut und auf eine ausgesuchte Klientel bauen kann. Beide lieben O – Ophelia – abgöttisch, was auf absoluter Gegenseitigkeit beruht. Zwar wohnt O eigentlich noch bei ihrer Mutter, die sie nur Paku nennt – Passiv aggressive Königin des Universums -, doch die meiste Zeit hängt sie mit ihren Jungs ab und gibt deren Geld aus, weil sie außer shoppen und Sex keine nennenswerten Interessen verfolgt.
Das bequeme Leben in dem Vier-Millionen-Dollar-Bau auf einem Felsvorsprung oberhalb von Table Rock Beach ändert sich allerdings schlagartig, als das berüchtigte Baja-Kartell aus Mexico den Gras-Produzenten einen Deal anbietet, den man nicht ausschlagen sollte. Doch Ben, der sein Geld für Hilfsprojekte in aller Welt ausgibt, und Chon, der mit seiner SEAL-Ausbildung seine kämpferischen Instinkte schulen konnte, wollen lieber ihr Geschäft aufgeben und etwas Neues anfangen, wie beispielsweise in erneuerbare Energien zu investieren, als für das Kartell zu arbeiten. Doch ein Nein akzeptiert Elena Lauter Sanchez nicht, seit sie die Führung des Kartells übernommen hat. Sie lässt O entführen und bringt die Jungs in Zugzwang.
„Was sollen sie bloß machen?
Zum FBI gehen? Zur DEA?
Ben ist bereit, es zu tun, auch wenn es ihn zweifellos viele Jahre Gefängnis kosten würde, Hauptsache, es würde O retten. Aber das würde es nicht – es würde sie umbringen. Wenn die Bundesbehörden mit den Kartellen klarkämen, hätten sie längst dichtgemacht. Das fällt also aus.
Die Alternative ist …
Nada. 
Sie sind gearscht.
Das ist Bens Schuld und reicht lange zurück. Ben hat immer geglaubt, er könnte in beiden Welten leben. Mit einem Birkenstock in der amtlich kriminellen Halbwelt der Marihuana-Geschäfte stehen und mit dem anderen in der Welt von Recht und Ordnung. Jetzt weiß er, dass das nicht geht. Er steht mit beiden Füßen fest im Dschungel. Chon hat sich solchen Illusionen nie hingegeben. Chon hat immer gewusst, dass es zwei Welten gibt:
Eine bestialische
Eine weniger bestialische.“ (S. 154f.) 
Da Chon nicht im Traum daran denkt, klein beizugeben, und Ben weiß, dass er seinen Freund nicht von seinem Entschluss abbringen kann, schmieden sie einen Plan, um O freizukaufen – mit dem Geld des Baja-Kartells. Doch wie schnell sich die ersten geglückten Coups in ein Spiel mit dem Feuer verwandeln, müssen Ben, Chon und O bald am eigenen Leib erfahren …
Nach seinem mit dem Deutschen Krimipreis 2011 ausgezeichneten Meisterwerk „Tage der Toten“ bleibt der in Kalifornien lebende Autor Don Winslow in seinem folgenden Werk „Zeit des Zorns“ dem Drogenmilieu treu. Diesmal steht aber kein US-Drogenfahnder im Zentrum der Geschichte, sondern ein eingespieltes Team junger Gras-Anbauer, die auf einmal mit der harten und blutigen Realität des ganz großen Drogenmarktes konfrontiert werden. Dazu hat sich Winslow zu einem fast Stakkato-artigen Schreibstil entschieden, der in meist sehr kurzen Kapiteln die stechend scharfen Dialoge und rasanten Handlungen präsentiert. Dabei wachsen dem Leser die drei in die Klemme geratenen jungen Leute schnell ans Herz.  
Oliver Stone fand das harte Drogen-Thriller-Drama so faszinierend, dass er den Stoff unter dem Titel „Savages“ verfilmte. Doch seine zugegebenermaßen gelungene Adaption kann leider nicht die Leidenschaft und Aufopferungsbereitschaft transportieren, die Winslows „Zeit des Zorns“ zu einem so imponierenden wie kurzweiligen Spannungsroman macht.
Leseprobe Don Winslow - "Zeit des Zorns"

John Katzenbach – „Der Sumpf“

Montag, 15. Juli 2013

(Knaur, 717 S., Tb.)
Matt Cowart, Reporter beim Miami Journal, hat schon einige Leitartikel geschrieben, in denen er die Todesstrafe verurteilt. Dennoch staunt er nicht schlecht, als ihn eines Tages in der Redaktion ein Brief von Robert Earl Ferguson erreicht, der seit drei Jahren im Todestrakt des Staatsgefängnisses Starke in Florida sitzt. Wie er in dem Brief darlegt, hat er an einem Maitag 1987 seine Großmutter in Pachoula, Escambia County, besucht und wurde zu einer Vernehmung wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung ins Präsidium des Sheriffs gebracht, wo er nach eigenen Angaben sechsunddreißig Stunden ohne Essen und Trinken gefangen gehalten und mit einem Telefonbuch verprügelt wurde, bis er ein Geständnis ablegte. Dies zu widerrufen, sei ihm nicht gelungen. Trotz fehlender Beweise hätten ihn die durchweg weißen Geschworenen und der weiße Richter schließlich zum Tode verurteilt.
Ferguson beteuert seine Unschuld und bittet den Reporter um seine Hilfe. Als zusätzlichen Köder gibt Ferguson an, den wahren Täter zu kennen. Nachdem sich Cowart mit dem Fall vertraut gemacht hat, ist er neugierig geworden und kontaktiert erst Fergusons Anwalt, dann besucht er den Todeskandidaten im Gefängnis. Da der Prozess gegen Ferguson offensichtlich eine Farce gewesen ist, beschließt Cowart, mit den beteiligten Detectives Brown und Wilcox zu sprechen und den Fall neu aufzurollen.
„Seine Fahrt nach Pachoula hatte ihn beflügelt, hatte ihm eine Fülle von Antworten beschert, aber ebenso viele Fragen aufgeworfen, die ihm unter den Nägeln brannten. Von dem Moment an, als Tanny Brown wütend eingeräumt hatte, dass Ferguson von Wilcox geohrfeigt worden war, hatte er die Reportage halb fertig im Kopf. Dieses kleine Geständnis hatte ihm die Augen für ein ganzes Lügengespinst geöffnet. Auch wenn Matthew Cowart nicht wusste, was genau zwischen den beiden Detectives und ihrer Beute vorgefallen war, zweifelte er nicht, dass es genügend Fragen, genügend Ungereimtheiten gab, die seinen Artikel rechtfertigten und vermutlich auch zur Wiederaufnahme des Verfahrens reichten. Jetzt richtete sich sein ganzer Reporterinstinkt auf das zweite Element. Wenn Ferguson das kleine Mädchen nicht umgebracht hatte, wer dann?“ (S. 142f.) 
Ferguson bringt mit dem ebenfalls zum Tode verurteilten, sehr geständigen psychopathischen Serienkiller Blair Sullivan einen Mann ins Spiel, der Cowart tatsächlich einen Beweis liefert, nämlich den Aufenthalt des Messers, mit dem das Mädchen getötet worden ist, doch nach wie vor sind viele der am Prozess Beteiligten der Meinung, Ferguson sei nach wie vor der Täter …
Der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach hat „Der Sumpf“ bereits 1992 geschrieben, ein Jahr später wurde das Werk auch auf Deutsch veröffentlicht und schließlich in Hollywood mit Sean Connery unter dem Titel „Just Cause – Im Sumpf des Verbrechens“ verfilmt. Mittlerweile ist Katzenbach mit Romanen wie „Der Patient“, „Die Anstalt“ und „Das Opfer“ auch hierzulande zu einem renommierten Bestseller-Garanten avanciert, was es legitim erscheinen lässt, das vorliegende Frühwerk in neuer Übersetzung wiederzuveröffentlichen. Tatsächlich zählt „Der Sumpf“ zu Katzenbachs besten Werken. Noch intensiver, als es beispielsweise John Grisham vermag, gelingt es dem Autor, nicht nur einen packenden Fall um die Fragen nach Schuld, Gerechtigkeit und Todesstrafe zu konstruieren, er lässt auch dabei den Leser wie den recherchierenden Reporter stets im Ungewissen, wie sich das Verbrechen tatsächlich abgespielt haben mag. Dieses Szenario wird durch die Etablierung gleich zweier außergewöhnlicher Todeskandidaten effektvoll auf die Spitze getrieben.
Aber ebenso wie die wendungsreich inszenierte Suche nach der Wahrheit fasziniert „Der Sumpf“ durch die sorgfältige Charakterisierung aller wichtigen Figuren, angefangen von dem getrennt lebenden Reporter, der nicht nur den Verlust von Frau und Tochter zu verschmerzen hat, sondern auch kaum Freunde hat und sein Lebenselixier aus seinem Beruf zieht.
Darüber hinaus präsentiert der Thriller die faszinierende Abhängigkeit zwischen Medien und Strafverfolgungsbehörden. Der Zwiespalt, den beide Parteien bei der Erreichung ihrer jeweiligen Ziele empfinden, wenn es um eine Zusammenarbeit geht, wird in „Der Sumpf“ eindrucksvoll thematisiert.
Fazit: Wann immer der Leser ein Gespür dafür zu bekommen scheint, wer tatsächlich für den Mord an dem Mädchen verantwortlich gewesen ist, sorgen neue Entwicklungen und Entdeckungen wieder für neue Unsicherheiten – bis zum packenden Finale.
 Leseprobe: John Katzenbach – „Der Sumpf“

Adam Davies – „Dein oder mein“

Freitag, 12. Juli 2013

(Diogenes, 366 S., HC)
Otto Starks ist ein recht unscheinbarer, aber hochspezialisierter Sicherheitsbeauftragter, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, Kunstdiebe davon abzuhalten, die kostbaren Objekte ihrer Begierde an sich zu nehmen. Bei der Ausübung seiner Tätigkeit kommt ihm ein nahezu übernatürliches Wahrnehmungsvermögen ebenso zugute wie seine jahrelang erfolgreich praktizierte Immunisierung gegen jedwede Art von Nervengiften. Allerdings läuft es in letzter Zeit überhaupt nicht gut für den Guardian bei Janus Security. Die sogenannte „Ratte“ hat es in den vergangenen neun Monaten gleich dreimal geschafft, ein zu bewachendes Kunstwerk aus Ottos Obhut zu stibitzen, was dem jungen Mann zwei Abmahnungen in den letzten acht Wochen eingebracht hat.
Während dieser schwierigen Zeit will Otto seiner langjährigen Lebensgefährtin, der Kunsthistorikern Charlie Izzo, die Frage aller Fragen stellen und ihr beichten, dass er kein Talentsucher für die New York Mets ist. Doch gerade als er sein Geständnis vor der K’plua-Maske einübt, schlägt die „Ratte“ erneut zu. Am Ende seiner Karriere angelangt sieht Otto nur noch eine Möglichkeit, seinen Chef von seinen Fähigkeiten zu überzeugen, nämlich bei der einwöchigen Bewachung eines Kunstwerks für den Japaner Nakamura. Mittlerweile hat Detective Cheryl Nunes die Ermittlungen im „Ratte“-Fall übernommen und fühlt Otto mächtig auf die Zehen. Wenn er auch nicht selbst der raffinierte Kunsträuber ist, so hegt Nunes doch den starken Verdacht, dass Otto durchaus der Komplize der „Ratte“ sein könnte. Und als wären das nicht noch genügend Probleme, schuldet Otto dem Gauner Deke noch eine ganze Stange Geld, um sein Boot „Auf und davon“ abzubezahlen.
„Ich wünschte, ich hätte Freunde, zu denen ich fliehen könnte. Ich wünschte, ich hätte eine Familie. Ich wünschte, ich könnte den K’plua anrufen und um Rat bitten. Er wüsste, was zu tun ist. Wenn ich ein Amischer wäre, könnte ich mit einer Pferdekutsche in ein abgelegenes Dorf fahren, wo man mich vor fiesen Räubern und Gendarmen verstecken würde. Vielleicht sogar vor meiner eigenen Vergangenheit. Genau das bräuchte ich jetzt. Ein völlig neues Leben. Ein Auslöschen meines gesamten Erinnerungsschatzes. Zuerst nehme ich das nicht ernst. Zuerst albere ich nur mit der Vorstellung herum, während ich mir die zahlreichen Arten von Unheil ausmale, die mich erwarten, doch dann …“ (S. 258) 
Otto Starks entwickelt tatsächlich eine Art von Plan, all seine Probleme in den Griff zu bekommen, doch stößt er sehr schnell auf einen nicht unerheblichen Gewissenskonflikt …
Der 1971 geborene amerikanische Schriftsteller Adam Davies hat mit „Dein oder mein“ ein äußerst unterhaltsames Gaunerstück abgeliefert, das wie eine Mischung aus Soderberghs „Ocean’s“-Trilogie und einer sehr komplizierten Love-Story wirkt. Bei allen kuriosen Wendungen und Entwicklungen bildet der durchweg sympathisch gezeichnete Ich-Erzähler Otto Starks den Dreh- und Angelpunkt der aberwitzigen Geschichte, die mit vielen amüsanten Fußnoten gespickt ist und herrlich witzig geschrieben ist. Das ist filmreife Unterhaltung, wie sie kurzweiliger nicht sein könnte.

Stephen King – „Joyland“

Sonntag, 23. Juni 2013

(Heyne, 352 S., HC)
Nach zwei Jahren, in denen Devin Jones mit an der University von New Hampshire mit Wendy Keegan ging und in denen sie alles gemeinsam machten außer „es“, kommt es im Sommer 1973 zum Bruch. Sonst arbeiteten sie in den Semesterferien in ihren Nebenjobs durch, sie in der Bibliothek, er in der Mensa, aber diesmal haben Wendy und ihre Freundin Renee einen Job bei Filene’s in Boston bekommen. Per Brief macht Wendy schließlich mit Devin Schluss und lässt einen jungen Mann mit gebrochenem Herzen zurück. Doch als Devin in einer Ausgabe von „Carolina Living“ auf ein Jobangebot mit dem Titel „Work Close To Heaven!“ stößt, beginnt für den 21-jährigen Anglistsik-Studenten das Abenteuer seines Lebens.
In dem eindrucksvollen Freizeitpark „Joyland“ in Heaven’s Bay findet er neue Freunde und trifft auf merkwürdige Gestalten. Sein Kollege Lane Hardy erzählt ihm, dass es im Horror House spuken soll, seitdem das junge Mädchen Linda Gray dort mit aufgeschnittener Kehle aufgefunden wurde. Vor allem ist Devin von Annie Ross und ihrem im Rollstuhl sitzenden Sohn Mike fasziniert, denen er auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig begegnet und mit denen er sich anzufreunden beginnt.
 „Mein Vater hatte recht: Ich war immer noch traurig und deprimiert darüber, wie es mit Wendy zu Ende gegangen war, aber immerhin hatte ich angefangen, den Tatsachen ins Auge zu blicken und mich (wie es in den Selbsthilfegruppen heutzutage so schön heißt) mit ihnen abzufinden. Von echter Gelassenheit war ich natürlich noch weit entfernt, aber ich quälte mich auch nicht mehr Tag und Nacht wie noch im Juni und hatte zumindest das Gefühl, dass es langsam wieder bergauf ging. Dass ich hier bleiben wollte, hatte auch mit anderen Dingen zu tun, über die ich mir bei Weitem noch nicht im Klaren war, weil sie in einem wilden Haufen durcheinanderlagen und nur vom groben Garn der Intuition zusammengehalten wurden. Mit meiner Begegnung mit Hallie Stansfield zum Beispiel. Und mit Bradley Easterbrook, der am Sommeranfang gesagt hatte: Wir verkaufen Spaß. (…) Und dem Jargon, der Geheimsprache, die die anderen Grünschnäbel bis zu den Weihnachtsferien vergessen haben würden. Ich wollte all die tollen Wörter nicht vergessen. Ich hatte das Gefühl, dass in Joyland noch mehr auf mich wartete. Ich wusste nicht, was, nur eben einfach … mehr.“ (S. 153) 
Tatsächlich kommen Devin und seine Kollegin Erin Cook einer ganzen Reihe von Morden an jungen Mädchen auf die Spur, die quer durch das Land in der Nähe von Vergnügungsparks verübt worden sind. Doch je mehr sich Devin mit der Aufarbeitung der Morde und dem Geist von Linda Gray im Horror House beschäftigt, desto mehr begibt er sich selbst in Lebensgefahr …
Nach seinen letzten beiden episch angelegten Romanen „Die Arena“ und „Der Anschlag“, die in den 60er Jahren angesiedelt waren, demonstriert Bestseller-Autor Stephen King mit seinem neuen Roman „Joyland“, dass er nach wie vor auch sehr kurz gehaltene und ebenso kurzweilige Geschichten zu erzählen vermag. „Joyland“ ist nur auf den ersten Blick eine typische Jahrmarkts-Geistergeschichte. Tatsächlich handelt es sich hier um eine lupenreine Coming-of-Age-Story, in der die Schicksale einer überschaubaren Anzahl von Personen immer mehr miteinander verstrickt werden. King entwickelt dabei ein feines Gespür für seine Figuren und ihre ganz eigenen Befindlichkeiten, die der besorgten Mutter eines zum Sterben verurteilten Kindes ebenso wie die des kleinen Jungen selbst. Vor allem aber füllt der Ich-Erzähler Devin Jones die Seiten mit all seinen verwirrten Gefühlen über seine erste, nicht wirklich erfüllte Liebe, über die Beziehung zu seinem Vater und zu Annie Ross und ihrem Sohn. Die Mordfälle geraten dabei nahezu in den Hintergrund, doch zum spannenden Finale hin nimmt dieser Aspekt mächtig an Fahrt auf, was „Joyland“ auch noch eine lupenreine Thriller-Komponente verleiht. Die letzten Werke von Stephen King waren schon sehr gut, aber mit „Joyland“ hat der King of Horror ein Meisterwerk abgeliefert, das einen ganz fesselnden Groove und einen geheimnisvollen Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann.

Jeffery Deaver – „Schutzlos“

Samstag, 15. Juni 2013

(Blanvalet, 509 S., Tb.)
Das FBI-Büro in Charleston, West Virginia, ist bei einer Drogenrazzia auf die Fingerabdrücke des Lifters Henry Loving gestoßen, der eigentlich vor zwei Jahren in einem abgebrannten Lagerhaus zu Tode gekommen sein soll. Lifter sind freiberufliche Vernehmungsspezialisten, die angeheuert werden, um von bestimmten Personen Informationen herauszuholen, auf welche Weise auch immer.
Nun ist Loving auf die Familie des in Washington, D.C. lebenden Polizisten Ryan Kessler angesetzt worden. Die Staatsanwaltschaft setzt den privaten Personenschützer Corte darauf an, die Kesslers in einem sicherem Haus unterzubringen, bis Loving gestellt worden und sein Auftraggeber bekannt ist. Corte hat dabei noch eine persönliche Rechnung mit Loving offen: vor sechs Jahren tötete er nämlich Cortes Mentor Abe Fallow. Zunächst scheint es, als wäre Kessler durch die zwei größeren Fälle, an denen er momentan arbeitet, in Lovings Visier gerückt, doch alle Ermittlungen von Cortes streng geheim operierender Firma in dieser Richtung führen ins Leere.
„Einer der besten Lifter war hinter Ryan Kessler her. Und zwar nicht wegen seiner beiden aktuellen großen Fälle. Und es war nicht wegen seiner Verwaltungstätigkeit. Die Spieltheorie berücksichtigt Unbekannte und Bekannte in der Gleichung. Man weiß nicht, wie der Würfel fallen wird, welche Karte man als nächste aufhebt oder bekommt. Man kennt den nächsten Zug seines Gegners nicht. Deine zitternde Hand lässt dich manchmal irrtümlich ziehen. Aber etwas, was du immer weißt, ist, wer dein Gegner ist und welches Ziel er verfolgt. Dieses Spiel war jedoch anders. Ich kannte den Gegner nicht – nur die Spielfigur, den Springer oder Turm: Henry Loving. Und ich kannte das Ziel des Spiels nicht.“ (S. 329) 
Tatsächlich scheinen auch die anderen Kesslers potenzielle Kandidaten zu sein, brisante Informationen in sich zu tragen. Doch Loving hat mit seinem Partner schon längst die Spur aufgenommen und bringt Corte und seine Mandanten in eine lebensbedrohliche Situation …
Neben seinen schon legendären Lincoln-Rhyme-Romanen schreibt der amerikanische Bestseller-Autor Jeffery Deaver immer mal wieder eigenständige Thriller, mit denen er unter Beweis stellt, dass er stets neue interessante Settings zu ersinnen versteht. In „Schutzlos“ wird die Spannung auf gleich auf mehreren Ebenen aufgebaut. Zunächst wird das Duell zwischen den beiden Todfeinden Loving und Corte ins Feld gebracht, wobei Corte als Spiel-Experten und –Sammler immer wieder passende Gedanken zur Spieltheorie in den Mund gelegt werden, um seine Strategie zu beschreiben. Auf der darüber liegenden Ebene wird Lovings Auftraggeber gesucht, der schließlich das Motiv für die Jagd auf die Kesslers besitzt. Und schließlich bleibt lange unklar, wer konkret aus der Familie eigentlich Lovings Ziel ist. Was die Motive und die Zielperson angeht, arbeitet Deaver geschickt mit immer neuen Wendungen, die auf Dauer aber auch sehr konstruiert wirken, was gerade auf die finale Identifizierung des Auftraggebers zutrifft. Aber bis dahin bietet „Schutzlos“ ein packendes Lesevergnügen mit vielschichtigen Figuren und einem sympathischen wie gewissenhaften Protagonisten, der es nicht immer leicht hat, seine Mandanten nur als solche zu sehen.
Leseprobe: Jeffery Deaver – “Schutzlos”

Linwood Barclay – „Fenster zum Tod“

Samstag, 25. Mai 2013

(Knaur, 589 S., Pb.)
Der 35-jährige Thomas Kilbride ist schizophren, verfolgt aber seit seiner Kindheit das ambitionierte Projekt, Karten und Stadtpläne auf der ganzen Welt in sich aufzusaugen. Als er die Webseite Whirl360.com kennenlernt, geht ein Traum für ihn Erfüllung. Systematisch nimmt er sich am Computer in seinem Zimmer, das er eigentlich nur zum Essen und Verdauen verlässt, Stadt für Stadt vor und prägt sich die einzelnen Straßen, ihre Häuser, Fassaden und Geschäfte ein, die auf der Website einzusehen sind. Eines Tages entdeckt er auf einer seiner Entdeckungstouren in der Orchard Street in Manhattan, wie der Mord an einer Frau am Fenster fotografiert worden ist.
Sein Bruder Ray, der als Illustrator in Burlington lebt, sich nach dem Tod des Vaters aber auch um Thomas kümmern muss, begegnet dieser Beobachtung zunächst mit Skepsis, weil sein Bruder auch glaubt, für die CIA zu arbeiten und ihren Agenten helfen zu können, wenn sie nach dem Ausfall elektronischer Hilfsmittel schnell fliehen müssen. Thomas drängt seinen Bruder, mit dem Foto nach Manhattan zu erfahren und vor Ort Näheres zu diesem mutmaßlichen Vorfall in Erfahrung zu bringen.
„Ich hatte mir einen Ausdruck der Szene am Fenster mitgenommen. Während der Zug den Hudson entlangfuhr, sah ich ihn mir noch einmal ganz genau an. Ich musste zugeben, von dem Bild ging eine besondere Wirkung aus. Dass der Kamerawagen von Whirl360 bei seinem Einsatz in Manhattan buchstäblich im Vorbeifahren einen gerade stattfindenden Mord aufgenommen haben sollte, schien mir im Gegensatz zu Thomas sehr weit hergeholt. Allerdings immer weniger, je länger ich das Foto betrachtete. Es sah tatsächlich so aus, als würde hier ein Mensch erstickt, als hätte sich jemand von hinten angeschlichen, ihm eine Tüte über den Kopf gestülpt und festgezogen.“ (S. 232f.) 
Ray und Thomas müssen bald erfahren, dass sich hinter dem vertuschten Mord die in Gefahr geratene Politikerkarriere des Gouverneur-Kandidaten Morris Sawchuck und die geheime lesbische Beziehung seiner Frau Bridget verbergen. Sawchucks mit allen Wassern gewaschener Wahlkampfmanager Howard Talliman und sein skrupelloser Handlanger Lewis Blocker lassen nicht locker, bis sie alle weiteren Spuren und Zeugen beseitigt haben, und machen sich auf die Suche nach Thomas Kilbride, der von den Überwachungskameras über dem besagten Appartement erfasst worden ist …
Seit seinem 2007 veröffentlichten Debüt „Ohne ein Wort“ hat sich der amerikanische, in Kanada lebende Linwood Barclay als erfolgreicher Thriller-Autor etabliert. Sein neues Werk „Fenster zum Tod“ beginnt als interessante Variation von Hitchcocks Suspense-Klassiker „Das Fenster zum Hof“, entwickelt aber ganz schnell eine eigene Dynamik, die auf der einen Seite vor allem dem interessanten Bruder-Paar zu verdanken ist, andererseits aber auch der Geschichte um die eigenwillige Auftragskillerin Nicole. Spannend und wendungsreich erzählt Barclay ein vielschichtiges und faszinierendes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der Ich-Erzähler Ray Kilbride auch der Frage nachgeht, ob der Tod seines Vaters wirklich ein Unfall gewesen war und was der Eintrag „Kinderprostitution“ in der Chronik auf dem Laptop seines Vaters zu bedeuten hat.
Das furiose Finale wirkt zwar wieder etwas arg konstruiert, doch das mindert das kurzweilige Lesevergnügen nur minimal.
Leseprobe: Linwood Barclay – “Fenster zum Tod”

Stephen King – „Die Arena“

Sonntag, 12. Mai 2013

(Heyne, 1280 S., HC)
Wie aus dem Nichts wird die amerikanische Kleinstadt Chester’s Mill von einer durchsichtigen, leicht luftdurchlässigen und – wie sich bald herausstellen wird – leider auch unzerstörbaren Kuppel eingeschlossen. Claudette Sanders zerschellt während ihrer Flugstunde mit der heißgeliebten Seneca ebenso an der massiven Barriere wie Murmeltiere zerteilt werden, als der „Dome“ unbemerkt die Einwohner der Stadt einsperrt. Das kommt vor allem Dale „Barbie“ Barbara ungelegen, weil er nach einer Abreibung auf dem Parkplatz des Dipper’s gerade die Stadt verlassen wollte.
Die Kuppel macht die Pläne des Grillkochs und Irak-Veterans zunichte, kommt dem Zweiten Stadtverordneten Jim Rennie aber gerade recht. Nachdem das Militär unter Führung von Colonel Cox selbst mit Raketen erfolglos versucht hat, die Kuppel zu zerstören, herrscht in Chester’s Mill der Ausnahmezustand. Der Gebrauchtwagenhändler Big Jim Rennie nutzt diese Gelegenheit, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die Macht an sich zu reißen. Mit seinen willigen Helfen, vom stellvertretenden Polizeichef Randolph über den Ersten Stadtverordneten Andy Sanders bis zu seinem Sohn Junior Rennie, den er eine Mannschaft von jungen Deputys zusammenstellen lässt, um die Ordnung zu wahren, schaltet er systematisch seine politischen Feinde aus, setzt Lügen in die Welt und schreckt auch vor Mord nicht zurück.
„In der großen Welt hätte er vielleicht mehr Geld scheffeln können, aber Wohlstand war das Dünnbier der Existenz. Macht war Champagner. Über The Mill zu herrschen war an gewöhnlichen Tagen gut, aber in Krisenzeiten war es besser als gut. In solchen Zeiten konnte man auf Schwingen reiner Intuition fliegen, in der Gewissheit, dass man nichts vermasseln konnte, absolut keine Chance. Man konnte die Verteidigung durchschauen, noch bevor sie sich formiert hatte, und punktete mit jedem Wurf. Man fühlte es, und das konnte zu keinem besseren Zeitpunkt passieren als in einem Meisterschaftsfinale. Dies war sein Meisterschaftsfinale, und alles entwickelte sich zu seinem Vorteil. Er spürte – nein, we wusste -, dass bei diesem magischen Lauf nichts schiefgehen konnte; selbst Dinge, die schlecht zu stehen schienen, würden sich als Chancen statt als Stolpersteine erweisen.“ (S. 528f.) 
Zu den Stolpersteinen zählen nicht nur die Dritte Stadtverordnete Andrea Grinnell und Julia Shumway, die Herausgeberin des Lokalblatts „The Democrat“, vor allem Brenda Perkins, die Frau des verstorbenen Polizeichefs, könnte mit ihrem belastenden Material, das ihr Mann über Rennie zusammengetragen hat, zu einem echten Problem werden. Doch Rennie ist gerissen und skrupellos genug, um seine Feinde in die Schranken zu verweisen, während es keine Lösung für die Vernichtung der Kuppel zu geben scheint, unter die Luft zum Atmen immer schlechter wird …
Stephen King hat im Verlauf seiner ebenso langjährigen wie produktiven Karriere immer mal wieder monumentale Werke geschaffen, von dem apokalyptischen „The Stand“ bis zum mehrteiligen Western-Fantasy-Zyklus „Der Dunkle Turm“. Den Entwurf zu „Under the Dome“ verfasste King – wie er im Nachwort erwähnt – bereits 1976, verzagte aber bei den ökologischen und meteorologischen Aspekten, die die Kuppel aufwarf. Mit „Die Arena“ schuf King ein weiteres Endzeit-Epos, das im Mikrokosmos einer auf sich allein gestellten Kleinstadt demonstriert, wohin die Gier nach Macht Menschen treiben kann und wie wenig sich die normale Bevölkerung dagegen zu wehren versteht. Es dürfte nicht schwerfallen, in „Die Arena“ einen Kommentar auf die amerikanische Politik im Kampf gegen den Terror zu sehen. Stephen King beschreibt das Grauen, das aus einem plötzlich entstandenen Machtvakuum entsteht, gewohnt anschaulich und spannend, versäumt es aber, die unzähligen Beteiligten detailliert zu beschreiben, wofür bei knapp 1300 Seiten mehr als genug Platz gewesen wäre. Dafür sind der Verfall der städtischen Gemeinschaft und der Zusammenhalt einiger weniger aufrecht kämpfender Bürger umso bemerkenswerter beschrieben. „Die Arena“ bietet trotz der epischen Länge King-typische Spannung bis zum außergewöhnlichen Finale und bietet genügend Anregungen zum Nachdenken über das Gemeinwohl und die Wertschätzung des Lebens allgemein.
Leseprobe: Stephen King – “Die Arena”