Thomas Harris – „Roter Drache“

Donnerstag, 25. Juli 2013

(Heyne, 447 S., Tb.)
Nach grausamen Morden in Birmingham und Atlanta, wo nach gleichen Mustern in Vollmondnächten zwei Familien abgeschlachtet worden sind, sucht Jack Crawford vom FBI den Sonderermittler Will Graham auf, der vor einigen Jahren bei der Festnahme des Serienkillers Dr. Hannibal Lecter schwer verletzt worden war und sich seither vorwiegend um seine Familie und sein Boot kümmert. Crawford kann Graham überreden, sich die beiden Tatorte anzusehen und bei den weiteren FBI-Ermittlungen in Washington beratend zu unterstützen.
Tatsächlich erhält Graham bei den Besichtigungen der betreffenden Häuser wertvolle Hinweise auf den Täter, erhofft sich aber durch den Besuch bei Hannibal Lecter weitere Erkenntnisse, die ihn auf die Spur der sogenannten „Zahnschwuchtel“ bringen, wie der Killer nach Auswertung der Gebissspuren an den weiblichen Opfern genannt wird. Der unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen in einer psychiatrischen Anstalt inhaftierte Lecter wird schließlich von dem „roten Drachen“, wie sich der Killer später selbst nennt, über einen Brief auf Toilettenpapier kontaktiert, und über die Kleinanzeigen im „Tattler“ wollen die beiden Serienkiller in Kontakt bleiben. Währenddessen macht sich vor allem Graham weitere Gedanken über die Natur der „Zahnschwuchtel“.
„Der Mann, der die Familien Jacobi und Leeds ausgelöscht hatte, hatte irgend etwas an ihnen anziehend gefunden, wodurch er zu der Tat getrieben worden war. Er könnte sie zum Beispiel sehr gut gekannt haben – was Graham hoffte -, oder aber er hatte sie überhaupt nicht gekannt. Allerdings war sich Graham sicher, dass der Mörder sie zu Gesicht bekommen haben musste, bevor er sich entschlossen hatte, sie zu ermorden. Er hatte sie ausgesucht, weil irgend etwas an ihnen ihn angesprochen hatte, wobei das Hauptgewicht dieser Anziehung aller Wahrscheinlichkeit nach bei den Frauen zu suchen war. Doch was war dieses gewisse Etwas, das diesen Familien zum Verhängnis geworden war?" (S. 106) 
Allerdings rennt dem FBI und Graham die Zeit davon, denn bis zum nächsten Vollmond ist es nicht mehr lange hin …
Im Auftakt der „Hannibal Lecter“-Reihe, der bislang die ebenfalls allesamt verfilmten Bände „Das Schweigen der Lämmer“, „Hannibal“ und „Hannibal Rising“ folgten, spielt Hannibal Lecter noch eine Nebenrolle, doch reichen die wenigen Szenen, die sich mit ihm befassen, bereits aus, um eine nachhaltige Faszination für diese vielschichtige, intellektuell herausragende und doch so abnorme Figur zu entwickeln.
Im Mittelpunkt des 1981 veröffentlichten und 1988 erstmals in deutscher Sprache erschienenen Psycho-Thrillers stehen vor allem zwei Personen: der ebenfalls psychisch angeschlagene Ermittler Will Graham, der sich durch ein erhöhtes Einfühlungsvermögen an Tatorten und für den Tathergang auszeichnet, und der „rote Drache“ auf der anderen Seite.
Thomas Harris gelingt es auf einzigartige Weise, vor allem die fehlgeleitete Psyche des Täters so transparent darzustellen, dass seine Motivationen absolut nachvollziehbar erscheinen. Gerade daraus, die Gedanken und Gefühle des von Williams Blakes Gemälde „Der große, rote Drache und die mit der Sonne bekleidete Frau“ inspirierten Täters verstehen zu können, bezieht der extrem spannende Roman seine Faszination, aber auch die detaillierte Ermittlungsarbeit von Graham und dem FBI ist fantastisch beschrieben. So entwickelt sich ein intellektueller Wettkampf, dessen Auswirkungen noch lange nachhallen.
Leseprobe Thomas Harris – “Roter Drache”

Jack Ketchum – „Versteckt“

Sonntag, 21. Juli 2013

(Heyne, 243 S., Tb.)
Dan Thomas ist in dem kleinen Kaff Dead River in Washington County aufgewachsen, im ärmsten Bezirk des ganzen Landes, wie er meint. Jeder scheint hier von der Hand in den Mund zu leben, er selbst hat die Schule geschmissen und arbeitet in der örtlichen Sägemühle. Sein geregeltes Leben kommt ordentlich in Schwung, als Casey, Kim und Steven mit ihren reichen Eltern die Ferien in Dead River verbringen.
Anfangs hängen sie zu viert herum und wollen in der langweiligen Gegend spannende Sachen erleben, dann kommen sich Dan und Casey beim Nacktbaden näher. Ob es Liebe ist, kann Dan noch nicht sagen, aber aufregend ist es auf jeden Fall. Doch Casey begnügt sich mit einem unbekümmerten Urlaubsflirt oder Picknicks am Strand mit geklauten Lebensmitteln aus dem Supermarkt. Ständig ist sie auf der Suche nach dem nächsten Kick. Als Dan Caseys apathisch wirkenden Vater kennenlernt, bekommt er eine Ahnung, warum Casey so ist, wie sie ist.
„Jeder ist einsam. Im Grunde unseres Herzens sind wir allein. Nur dass manche diesem Umstand den Krieg erklären und andere nicht. Damit will ich nicht über Casey urteilen. Sie hatte gute Gründe für ihr Verhalten, und sie wusste sich nicht anders zu helfen. Es lag nicht in ihrer Natur, dass sie so grausam war. Denn Krieg bedeutet immer auch Tod. Und der Tod ist ansteckend und nicht wählerisch.“ (S. 105f.) 
Doch Caseys emotionale Ausbrüche bringen auch Dan in Schwierigkeiten. Schließlich beschließen die vier, die Nacht in dem verlassenen Crouch-Haus zu verbringen und verstecken zu spielen. Vor Jahren haben hier die beiden gehandicapten Geschwister Ben und Mary mit ihren Hunden gelebt, bis sie irgendwann das Haus räumen mussten. Sie verschwanden von einem Tag zum anderen und ließen ihre Hunde einfach im Haus zurück. Was als bierseliger Spaß beginnt, wird jedoch zum tödlichen Ernst, als Dan feststellt, dass außer ihnen noch andere Lebewesen in dem Haus ihr Unwesen treiben …
Nachdem der Heyne-Verlag in seiner Hardcore-Reihe in letzter Zeit fast den gesamten Backcatalogue von Richard Laymon in deutschen Erstausgaben veröffentlicht hat, darf sich das deutsche Publikum darauf freuen, dass auch das umfangreiche Werk von Jack Ketchum nach und nach hier erhältlich sein wird.
Bislang sind mit „Evil“ (im Original 1989 erschienen), „Beutegier“ (1991), „Amokjagd“ (1994), „Wahnsinn“ (1995), „Blutrot“ (1995), „Beutezeit“ (1999) und „The Lost“ (2001) vor allem die Frühwerke des Autors veröffentlicht worden, erst mit „Beuterausch“ (2011) kam zeitnah auch ein aktuelles Werk von Dallas Mayr (so Ketchums bürgerlicher Name) auf den Markt. Dazwischen sind aber noch über zwanzig (teilweise mit Edward Lee und Richard Laymon verfasste) Bücher erschienen, die noch auf eine deutschsprachige Übersetzung warten.
Mit „Versteckt“ ist nun aber Ketchums erst zweites Buch aus dem Jahre 1984 veröffentlicht worden. Der Schützling von Altmeister Robert Bloch („Psycho“) demonstriert auf gerade mal knapp 230 Seiten aber schon eindrucksvoll seine Stärke, normale Menschen in psychischen wie physischen Ausnahmesituationen agieren zu lassen, wobei er mit klarer Sprache, pointierten Dialogen, expliziten Sex- und Gewalt-Szenen straffe Handlungszüge entwickelt, die keine Zeit zum Luftholen lassen. „Versteckt“ wird aus der Perspektive des sympathischen Dead-River-Einwohners Dan Thomas erzählt, und der geschliffene Roman bringt sehr gut die Einöde des kleinstädtischen Lebens ebenso gut zum Ausdruck wie die Faszination für die reichen Kids aus Boston, die leidenschaftlichen Gefühle, die er für Casey zu empfinden beginnt, aber auch die gefährlichen Züge, die ihrer Persönlichkeit zu eigen sind. Das eigentliche Versteck-Spiel folgt allerdings den konventionellen Genre-Konventionen und kann nicht ganz an die Klasse der ersten zwei Drittel der Geschichte anknüpfen. Aber spannend bleibt das Werk bis zum Schluss.
Abgerundet wird „Versteckt“ durch biografische Ergänzungen des Autors zur Entstehung der Geschichte und einer Werkbiografie, wie man sie bereits aus den letzten Richard-Laymon-Veröffentlichungen her kennt.
Leseprobe Jack Ketchum „Versteckt“

Don Winslow – „Zeit des Zorns“

Samstag, 20. Juli 2013

(Suhrkamp, 338 S., Pb.)
Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, doch zusammen sind sie ein einzigartig gut funktionierendes Team: Chon heißt eigentlich John, und niemand weiß mehr, wann aus dem einen Namen der andere wurde. Wichtig ist nur, dass der aufbrausende, temperamentvolle Chon zusammen mit dem friedfertigen Ben das beste Hydro-Gras überhaupt anbaut und auf eine ausgesuchte Klientel bauen kann. Beide lieben O – Ophelia – abgöttisch, was auf absoluter Gegenseitigkeit beruht. Zwar wohnt O eigentlich noch bei ihrer Mutter, die sie nur Paku nennt – Passiv aggressive Königin des Universums -, doch die meiste Zeit hängt sie mit ihren Jungs ab und gibt deren Geld aus, weil sie außer shoppen und Sex keine nennenswerten Interessen verfolgt.
Das bequeme Leben in dem Vier-Millionen-Dollar-Bau auf einem Felsvorsprung oberhalb von Table Rock Beach ändert sich allerdings schlagartig, als das berüchtigte Baja-Kartell aus Mexico den Gras-Produzenten einen Deal anbietet, den man nicht ausschlagen sollte. Doch Ben, der sein Geld für Hilfsprojekte in aller Welt ausgibt, und Chon, der mit seiner SEAL-Ausbildung seine kämpferischen Instinkte schulen konnte, wollen lieber ihr Geschäft aufgeben und etwas Neues anfangen, wie beispielsweise in erneuerbare Energien zu investieren, als für das Kartell zu arbeiten. Doch ein Nein akzeptiert Elena Lauter Sanchez nicht, seit sie die Führung des Kartells übernommen hat. Sie lässt O entführen und bringt die Jungs in Zugzwang.
„Was sollen sie bloß machen?
Zum FBI gehen? Zur DEA?
Ben ist bereit, es zu tun, auch wenn es ihn zweifellos viele Jahre Gefängnis kosten würde, Hauptsache, es würde O retten. Aber das würde es nicht – es würde sie umbringen. Wenn die Bundesbehörden mit den Kartellen klarkämen, hätten sie längst dichtgemacht. Das fällt also aus.
Die Alternative ist …
Nada. 
Sie sind gearscht.
Das ist Bens Schuld und reicht lange zurück. Ben hat immer geglaubt, er könnte in beiden Welten leben. Mit einem Birkenstock in der amtlich kriminellen Halbwelt der Marihuana-Geschäfte stehen und mit dem anderen in der Welt von Recht und Ordnung. Jetzt weiß er, dass das nicht geht. Er steht mit beiden Füßen fest im Dschungel. Chon hat sich solchen Illusionen nie hingegeben. Chon hat immer gewusst, dass es zwei Welten gibt:
Eine bestialische
Eine weniger bestialische.“ (S. 154f.) 
Da Chon nicht im Traum daran denkt, klein beizugeben, und Ben weiß, dass er seinen Freund nicht von seinem Entschluss abbringen kann, schmieden sie einen Plan, um O freizukaufen – mit dem Geld des Baja-Kartells. Doch wie schnell sich die ersten geglückten Coups in ein Spiel mit dem Feuer verwandeln, müssen Ben, Chon und O bald am eigenen Leib erfahren …
Nach seinem mit dem Deutschen Krimipreis 2011 ausgezeichneten Meisterwerk „Tage der Toten“ bleibt der in Kalifornien lebende Autor Don Winslow in seinem folgenden Werk „Zeit des Zorns“ dem Drogenmilieu treu. Diesmal steht aber kein US-Drogenfahnder im Zentrum der Geschichte, sondern ein eingespieltes Team junger Gras-Anbauer, die auf einmal mit der harten und blutigen Realität des ganz großen Drogenmarktes konfrontiert werden. Dazu hat sich Winslow zu einem fast Stakkato-artigen Schreibstil entschieden, der in meist sehr kurzen Kapiteln die stechend scharfen Dialoge und rasanten Handlungen präsentiert. Dabei wachsen dem Leser die drei in die Klemme geratenen jungen Leute schnell ans Herz.  
Oliver Stone fand das harte Drogen-Thriller-Drama so faszinierend, dass er den Stoff unter dem Titel „Savages“ verfilmte. Doch seine zugegebenermaßen gelungene Adaption kann leider nicht die Leidenschaft und Aufopferungsbereitschaft transportieren, die Winslows „Zeit des Zorns“ zu einem so imponierenden wie kurzweiligen Spannungsroman macht.
Leseprobe Don Winslow - "Zeit des Zorns"

John Katzenbach – „Der Sumpf“

Montag, 15. Juli 2013

(Knaur, 717 S., Tb.)
Matt Cowart, Reporter beim Miami Journal, hat schon einige Leitartikel geschrieben, in denen er die Todesstrafe verurteilt. Dennoch staunt er nicht schlecht, als ihn eines Tages in der Redaktion ein Brief von Robert Earl Ferguson erreicht, der seit drei Jahren im Todestrakt des Staatsgefängnisses Starke in Florida sitzt. Wie er in dem Brief darlegt, hat er an einem Maitag 1987 seine Großmutter in Pachoula, Escambia County, besucht und wurde zu einer Vernehmung wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung ins Präsidium des Sheriffs gebracht, wo er nach eigenen Angaben sechsunddreißig Stunden ohne Essen und Trinken gefangen gehalten und mit einem Telefonbuch verprügelt wurde, bis er ein Geständnis ablegte. Dies zu widerrufen, sei ihm nicht gelungen. Trotz fehlender Beweise hätten ihn die durchweg weißen Geschworenen und der weiße Richter schließlich zum Tode verurteilt.
Ferguson beteuert seine Unschuld und bittet den Reporter um seine Hilfe. Als zusätzlichen Köder gibt Ferguson an, den wahren Täter zu kennen. Nachdem sich Cowart mit dem Fall vertraut gemacht hat, ist er neugierig geworden und kontaktiert erst Fergusons Anwalt, dann besucht er den Todeskandidaten im Gefängnis. Da der Prozess gegen Ferguson offensichtlich eine Farce gewesen ist, beschließt Cowart, mit den beteiligten Detectives Brown und Wilcox zu sprechen und den Fall neu aufzurollen.
„Seine Fahrt nach Pachoula hatte ihn beflügelt, hatte ihm eine Fülle von Antworten beschert, aber ebenso viele Fragen aufgeworfen, die ihm unter den Nägeln brannten. Von dem Moment an, als Tanny Brown wütend eingeräumt hatte, dass Ferguson von Wilcox geohrfeigt worden war, hatte er die Reportage halb fertig im Kopf. Dieses kleine Geständnis hatte ihm die Augen für ein ganzes Lügengespinst geöffnet. Auch wenn Matthew Cowart nicht wusste, was genau zwischen den beiden Detectives und ihrer Beute vorgefallen war, zweifelte er nicht, dass es genügend Fragen, genügend Ungereimtheiten gab, die seinen Artikel rechtfertigten und vermutlich auch zur Wiederaufnahme des Verfahrens reichten. Jetzt richtete sich sein ganzer Reporterinstinkt auf das zweite Element. Wenn Ferguson das kleine Mädchen nicht umgebracht hatte, wer dann?“ (S. 142f.) 
Ferguson bringt mit dem ebenfalls zum Tode verurteilten, sehr geständigen psychopathischen Serienkiller Blair Sullivan einen Mann ins Spiel, der Cowart tatsächlich einen Beweis liefert, nämlich den Aufenthalt des Messers, mit dem das Mädchen getötet worden ist, doch nach wie vor sind viele der am Prozess Beteiligten der Meinung, Ferguson sei nach wie vor der Täter …
Der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach hat „Der Sumpf“ bereits 1992 geschrieben, ein Jahr später wurde das Werk auch auf Deutsch veröffentlicht und schließlich in Hollywood mit Sean Connery unter dem Titel „Just Cause – Im Sumpf des Verbrechens“ verfilmt. Mittlerweile ist Katzenbach mit Romanen wie „Der Patient“, „Die Anstalt“ und „Das Opfer“ auch hierzulande zu einem renommierten Bestseller-Garanten avanciert, was es legitim erscheinen lässt, das vorliegende Frühwerk in neuer Übersetzung wiederzuveröffentlichen. Tatsächlich zählt „Der Sumpf“ zu Katzenbachs besten Werken. Noch intensiver, als es beispielsweise John Grisham vermag, gelingt es dem Autor, nicht nur einen packenden Fall um die Fragen nach Schuld, Gerechtigkeit und Todesstrafe zu konstruieren, er lässt auch dabei den Leser wie den recherchierenden Reporter stets im Ungewissen, wie sich das Verbrechen tatsächlich abgespielt haben mag. Dieses Szenario wird durch die Etablierung gleich zweier außergewöhnlicher Todeskandidaten effektvoll auf die Spitze getrieben.
Aber ebenso wie die wendungsreich inszenierte Suche nach der Wahrheit fasziniert „Der Sumpf“ durch die sorgfältige Charakterisierung aller wichtigen Figuren, angefangen von dem getrennt lebenden Reporter, der nicht nur den Verlust von Frau und Tochter zu verschmerzen hat, sondern auch kaum Freunde hat und sein Lebenselixier aus seinem Beruf zieht.
Darüber hinaus präsentiert der Thriller die faszinierende Abhängigkeit zwischen Medien und Strafverfolgungsbehörden. Der Zwiespalt, den beide Parteien bei der Erreichung ihrer jeweiligen Ziele empfinden, wenn es um eine Zusammenarbeit geht, wird in „Der Sumpf“ eindrucksvoll thematisiert.
Fazit: Wann immer der Leser ein Gespür dafür zu bekommen scheint, wer tatsächlich für den Mord an dem Mädchen verantwortlich gewesen ist, sorgen neue Entwicklungen und Entdeckungen wieder für neue Unsicherheiten – bis zum packenden Finale.
 Leseprobe: John Katzenbach – „Der Sumpf“

Adam Davies – „Dein oder mein“

Freitag, 12. Juli 2013

(Diogenes, 366 S., HC)
Otto Starks ist ein recht unscheinbarer, aber hochspezialisierter Sicherheitsbeauftragter, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, Kunstdiebe davon abzuhalten, die kostbaren Objekte ihrer Begierde an sich zu nehmen. Bei der Ausübung seiner Tätigkeit kommt ihm ein nahezu übernatürliches Wahrnehmungsvermögen ebenso zugute wie seine jahrelang erfolgreich praktizierte Immunisierung gegen jedwede Art von Nervengiften. Allerdings läuft es in letzter Zeit überhaupt nicht gut für den Guardian bei Janus Security. Die sogenannte „Ratte“ hat es in den vergangenen neun Monaten gleich dreimal geschafft, ein zu bewachendes Kunstwerk aus Ottos Obhut zu stibitzen, was dem jungen Mann zwei Abmahnungen in den letzten acht Wochen eingebracht hat.
Während dieser schwierigen Zeit will Otto seiner langjährigen Lebensgefährtin, der Kunsthistorikern Charlie Izzo, die Frage aller Fragen stellen und ihr beichten, dass er kein Talentsucher für die New York Mets ist. Doch gerade als er sein Geständnis vor der K’plua-Maske einübt, schlägt die „Ratte“ erneut zu. Am Ende seiner Karriere angelangt sieht Otto nur noch eine Möglichkeit, seinen Chef von seinen Fähigkeiten zu überzeugen, nämlich bei der einwöchigen Bewachung eines Kunstwerks für den Japaner Nakamura. Mittlerweile hat Detective Cheryl Nunes die Ermittlungen im „Ratte“-Fall übernommen und fühlt Otto mächtig auf die Zehen. Wenn er auch nicht selbst der raffinierte Kunsträuber ist, so hegt Nunes doch den starken Verdacht, dass Otto durchaus der Komplize der „Ratte“ sein könnte. Und als wären das nicht noch genügend Probleme, schuldet Otto dem Gauner Deke noch eine ganze Stange Geld, um sein Boot „Auf und davon“ abzubezahlen.
„Ich wünschte, ich hätte Freunde, zu denen ich fliehen könnte. Ich wünschte, ich hätte eine Familie. Ich wünschte, ich könnte den K’plua anrufen und um Rat bitten. Er wüsste, was zu tun ist. Wenn ich ein Amischer wäre, könnte ich mit einer Pferdekutsche in ein abgelegenes Dorf fahren, wo man mich vor fiesen Räubern und Gendarmen verstecken würde. Vielleicht sogar vor meiner eigenen Vergangenheit. Genau das bräuchte ich jetzt. Ein völlig neues Leben. Ein Auslöschen meines gesamten Erinnerungsschatzes. Zuerst nehme ich das nicht ernst. Zuerst albere ich nur mit der Vorstellung herum, während ich mir die zahlreichen Arten von Unheil ausmale, die mich erwarten, doch dann …“ (S. 258) 
Otto Starks entwickelt tatsächlich eine Art von Plan, all seine Probleme in den Griff zu bekommen, doch stößt er sehr schnell auf einen nicht unerheblichen Gewissenskonflikt …
Der 1971 geborene amerikanische Schriftsteller Adam Davies hat mit „Dein oder mein“ ein äußerst unterhaltsames Gaunerstück abgeliefert, das wie eine Mischung aus Soderberghs „Ocean’s“-Trilogie und einer sehr komplizierten Love-Story wirkt. Bei allen kuriosen Wendungen und Entwicklungen bildet der durchweg sympathisch gezeichnete Ich-Erzähler Otto Starks den Dreh- und Angelpunkt der aberwitzigen Geschichte, die mit vielen amüsanten Fußnoten gespickt ist und herrlich witzig geschrieben ist. Das ist filmreife Unterhaltung, wie sie kurzweiliger nicht sein könnte.

Stephen King – „Joyland“

Sonntag, 23. Juni 2013

(Heyne, 352 S., HC)
Nach zwei Jahren, in denen Devin Jones mit an der University von New Hampshire mit Wendy Keegan ging und in denen sie alles gemeinsam machten außer „es“, kommt es im Sommer 1973 zum Bruch. Sonst arbeiteten sie in den Semesterferien in ihren Nebenjobs durch, sie in der Bibliothek, er in der Mensa, aber diesmal haben Wendy und ihre Freundin Renee einen Job bei Filene’s in Boston bekommen. Per Brief macht Wendy schließlich mit Devin Schluss und lässt einen jungen Mann mit gebrochenem Herzen zurück. Doch als Devin in einer Ausgabe von „Carolina Living“ auf ein Jobangebot mit dem Titel „Work Close To Heaven!“ stößt, beginnt für den 21-jährigen Anglistsik-Studenten das Abenteuer seines Lebens.
In dem eindrucksvollen Freizeitpark „Joyland“ in Heaven’s Bay findet er neue Freunde und trifft auf merkwürdige Gestalten. Sein Kollege Lane Hardy erzählt ihm, dass es im Horror House spuken soll, seitdem das junge Mädchen Linda Gray dort mit aufgeschnittener Kehle aufgefunden wurde. Vor allem ist Devin von Annie Ross und ihrem im Rollstuhl sitzenden Sohn Mike fasziniert, denen er auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig begegnet und mit denen er sich anzufreunden beginnt.
 „Mein Vater hatte recht: Ich war immer noch traurig und deprimiert darüber, wie es mit Wendy zu Ende gegangen war, aber immerhin hatte ich angefangen, den Tatsachen ins Auge zu blicken und mich (wie es in den Selbsthilfegruppen heutzutage so schön heißt) mit ihnen abzufinden. Von echter Gelassenheit war ich natürlich noch weit entfernt, aber ich quälte mich auch nicht mehr Tag und Nacht wie noch im Juni und hatte zumindest das Gefühl, dass es langsam wieder bergauf ging. Dass ich hier bleiben wollte, hatte auch mit anderen Dingen zu tun, über die ich mir bei Weitem noch nicht im Klaren war, weil sie in einem wilden Haufen durcheinanderlagen und nur vom groben Garn der Intuition zusammengehalten wurden. Mit meiner Begegnung mit Hallie Stansfield zum Beispiel. Und mit Bradley Easterbrook, der am Sommeranfang gesagt hatte: Wir verkaufen Spaß. (…) Und dem Jargon, der Geheimsprache, die die anderen Grünschnäbel bis zu den Weihnachtsferien vergessen haben würden. Ich wollte all die tollen Wörter nicht vergessen. Ich hatte das Gefühl, dass in Joyland noch mehr auf mich wartete. Ich wusste nicht, was, nur eben einfach … mehr.“ (S. 153) 
Tatsächlich kommen Devin und seine Kollegin Erin Cook einer ganzen Reihe von Morden an jungen Mädchen auf die Spur, die quer durch das Land in der Nähe von Vergnügungsparks verübt worden sind. Doch je mehr sich Devin mit der Aufarbeitung der Morde und dem Geist von Linda Gray im Horror House beschäftigt, desto mehr begibt er sich selbst in Lebensgefahr …
Nach seinen letzten beiden episch angelegten Romanen „Die Arena“ und „Der Anschlag“, die in den 60er Jahren angesiedelt waren, demonstriert Bestseller-Autor Stephen King mit seinem neuen Roman „Joyland“, dass er nach wie vor auch sehr kurz gehaltene und ebenso kurzweilige Geschichten zu erzählen vermag. „Joyland“ ist nur auf den ersten Blick eine typische Jahrmarkts-Geistergeschichte. Tatsächlich handelt es sich hier um eine lupenreine Coming-of-Age-Story, in der die Schicksale einer überschaubaren Anzahl von Personen immer mehr miteinander verstrickt werden. King entwickelt dabei ein feines Gespür für seine Figuren und ihre ganz eigenen Befindlichkeiten, die der besorgten Mutter eines zum Sterben verurteilten Kindes ebenso wie die des kleinen Jungen selbst. Vor allem aber füllt der Ich-Erzähler Devin Jones die Seiten mit all seinen verwirrten Gefühlen über seine erste, nicht wirklich erfüllte Liebe, über die Beziehung zu seinem Vater und zu Annie Ross und ihrem Sohn. Die Mordfälle geraten dabei nahezu in den Hintergrund, doch zum spannenden Finale hin nimmt dieser Aspekt mächtig an Fahrt auf, was „Joyland“ auch noch eine lupenreine Thriller-Komponente verleiht. Die letzten Werke von Stephen King waren schon sehr gut, aber mit „Joyland“ hat der King of Horror ein Meisterwerk abgeliefert, das einen ganz fesselnden Groove und einen geheimnisvollen Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann.

Jeffery Deaver – „Schutzlos“

Samstag, 15. Juni 2013

(Blanvalet, 509 S., Tb.)
Das FBI-Büro in Charleston, West Virginia, ist bei einer Drogenrazzia auf die Fingerabdrücke des Lifters Henry Loving gestoßen, der eigentlich vor zwei Jahren in einem abgebrannten Lagerhaus zu Tode gekommen sein soll. Lifter sind freiberufliche Vernehmungsspezialisten, die angeheuert werden, um von bestimmten Personen Informationen herauszuholen, auf welche Weise auch immer.
Nun ist Loving auf die Familie des in Washington, D.C. lebenden Polizisten Ryan Kessler angesetzt worden. Die Staatsanwaltschaft setzt den privaten Personenschützer Corte darauf an, die Kesslers in einem sicherem Haus unterzubringen, bis Loving gestellt worden und sein Auftraggeber bekannt ist. Corte hat dabei noch eine persönliche Rechnung mit Loving offen: vor sechs Jahren tötete er nämlich Cortes Mentor Abe Fallow. Zunächst scheint es, als wäre Kessler durch die zwei größeren Fälle, an denen er momentan arbeitet, in Lovings Visier gerückt, doch alle Ermittlungen von Cortes streng geheim operierender Firma in dieser Richtung führen ins Leere.
„Einer der besten Lifter war hinter Ryan Kessler her. Und zwar nicht wegen seiner beiden aktuellen großen Fälle. Und es war nicht wegen seiner Verwaltungstätigkeit. Die Spieltheorie berücksichtigt Unbekannte und Bekannte in der Gleichung. Man weiß nicht, wie der Würfel fallen wird, welche Karte man als nächste aufhebt oder bekommt. Man kennt den nächsten Zug seines Gegners nicht. Deine zitternde Hand lässt dich manchmal irrtümlich ziehen. Aber etwas, was du immer weißt, ist, wer dein Gegner ist und welches Ziel er verfolgt. Dieses Spiel war jedoch anders. Ich kannte den Gegner nicht – nur die Spielfigur, den Springer oder Turm: Henry Loving. Und ich kannte das Ziel des Spiels nicht.“ (S. 329) 
Tatsächlich scheinen auch die anderen Kesslers potenzielle Kandidaten zu sein, brisante Informationen in sich zu tragen. Doch Loving hat mit seinem Partner schon längst die Spur aufgenommen und bringt Corte und seine Mandanten in eine lebensbedrohliche Situation …
Neben seinen schon legendären Lincoln-Rhyme-Romanen schreibt der amerikanische Bestseller-Autor Jeffery Deaver immer mal wieder eigenständige Thriller, mit denen er unter Beweis stellt, dass er stets neue interessante Settings zu ersinnen versteht. In „Schutzlos“ wird die Spannung auf gleich auf mehreren Ebenen aufgebaut. Zunächst wird das Duell zwischen den beiden Todfeinden Loving und Corte ins Feld gebracht, wobei Corte als Spiel-Experten und –Sammler immer wieder passende Gedanken zur Spieltheorie in den Mund gelegt werden, um seine Strategie zu beschreiben. Auf der darüber liegenden Ebene wird Lovings Auftraggeber gesucht, der schließlich das Motiv für die Jagd auf die Kesslers besitzt. Und schließlich bleibt lange unklar, wer konkret aus der Familie eigentlich Lovings Ziel ist. Was die Motive und die Zielperson angeht, arbeitet Deaver geschickt mit immer neuen Wendungen, die auf Dauer aber auch sehr konstruiert wirken, was gerade auf die finale Identifizierung des Auftraggebers zutrifft. Aber bis dahin bietet „Schutzlos“ ein packendes Lesevergnügen mit vielschichtigen Figuren und einem sympathischen wie gewissenhaften Protagonisten, der es nicht immer leicht hat, seine Mandanten nur als solche zu sehen.
Leseprobe: Jeffery Deaver – “Schutzlos”