Tony O’Neill – „Sick City“

Samstag, 31. August 2013

(Heyne, 398 S., Tb.)
Nach vier Jahren, die Jeffrey mit seinem spendablen Liebhaber Bill zusammengelebt hat, stirbt der alte Mann an Herzversagen und hinterlässt einen ratlosen Junkie. Die Tatsache, dass Bill einst ein Cop gewesen war, der als einer der ersten Polizisten am Tatort der Sharon-Tate-Morde gewesen ist, bietet ihm die einmalige Chance für einen Neuanfang.
Jeffrey räumt den einen Safe des alten Mannes leer - Bargeld, Kokain, Marihuana und eine Pistole -, dann einen weiteren mit einer externen Festplatte, CD-ROMs und noch mehr Drogen. Doch der wahre Schatz verbirgt sich in einer alten Filmdose, die das letzte Zeugnis des Lebens der Hollywood-Ikone Sharon Tate darstellt. Mit diesen Habseligkeiten begibt sich Jeffrey in die Entzugsklinik des Fernseh-Therapeuten Dr. Mike, der in seiner Sendung „Detoxing America Prominente beim Drogen-Entzug begleitet. Dort teilt er sich das Zimmer mit dem nun mittellosen Randal, dem verwöhnten Spross einer Hollywood-Familie. Gemeinsam schmieden die beiden den Plan, nach ihrem Entzug den brisanten Sharon-Tate-Film an einen exzentrischen Sammler zu verkaufen.
 „Seit er Jeffrey zuletzt gesehen hatte, nagte die Idee, den Sexfilm zu verkaufen, an Randal. Der Gedanke daran hatte ihm geholfen, den Stumpfsinn des täglichen Lebens in der Ebtzugsklinik zu ertragen, dank ihm hatte er all die sinnlosen, luftleeren Meetings mit Beratern und den sogenannten Life Coaches durchgestanden. Der Film selbst hatte in seiner Vorstellung die Kraft eines Glücksbringers. Er stellte für ihn die Chance dar, endlich aus seinem kaputten Leben in Hollywood aussteigen und woanders neu beginnen zu können.“ (S. 238) 
Doch mit dem Verkauf des Sammlerstücks ist es nicht getan. Randal und Jeffrey wollen sich die Vermittlungsprovision sparen und den Deal anderweitig unter Dach und Fach bringen. Damit lösen die beiden Junkies aber nur eine weitere Reihe von Drogen- und Sexexzessen aus, Blutvergießen inklusive.
Der ehemalige Marc-Almond-Keyboarder und Punk-Band-Musiker Tony O’Neill hat seine Drogenerlebnisse bereits in seinem Debütroman „Digging the Vein“ (2006) verarbeitet, aber auch sein vier Jahre später erschienenes Werk „Sick City“ dreht sich eigentlich nur um das Leben mit der Sucht. Die Krimihandlung dient dabei als roter Faden für das chaotische Treiben der beiden Anti-Helden, die erfahren müssen, dass auch ein Millionengewinn keine Erlösung bedeutet, sondern einfach das massivere Konsumieren von noch mehr Drogen. Natürlich gehören auch eine Menge Sex in den verzweifeltsten, brutalsten Variationen dazu, die Ermordung von Dealern und das Ableben von schönen Transvestiten.  
Tony O’Neill beschreibt in „Sick City“ alle schaurigen Nebenwirkungen der Drogenexzesse auf mehr als anschauliche, ungeschönte Art. „Sick City“ ist die lautmalerische Chronik zerstörter Existenzen und rechnet scharf mit den selbst proklamierten Heilsbringern ab. Das ist abschreckend und unterhaltsam zugleich, denn bei allem Elend, das O’Neill beschreibt, lässt er seinen makabren Humor nie zu kurz kommen.
Leseprobe: Tony O'Neill – “Sick City”

Daniel Woodrell – „Im Süden – Die Bayou Trilogie“

Sonntag, 18. August 2013

(Heyne, 651 S., Tb.)
Der amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell wurde hierzulande vor allem durch zwei Verfilmungen seiner Romane bekannt, „Wer mit dem Teufel reitet“ von Ang Lee (1999) und „Winters Knochen“ von Debra Granik (2010). Nachdem seine ersten drei Romane lange Zeit vergriffen waren, hat der Heyne-Verlag die drei Romane „Cajun Blues“ (1986), „Der Boss“ (1988) und „John X“ (1992), die ab Mitte der 90er Jahre bei Heyne und Rowohlt veröffentlicht worden sind, erstmals komplett in dem Band „Im Süden“ zusammengefasst.
Gemeinsam ist den drei Romanen der Ort, an dem sie angesiedelt sind, nämlich in der fiktiven Bayou-Gemeinde St. Bruno, die in den schwülen Sümpfen Louisianas liegt, und Detective Rene Shade, der es in seinen Fällen vor allem mit Glücksspiel und Korruption zu tun hat.
In „Cajun Blues“ ist Jeff Cobb nach Saint Bruno gekommen, um in den fetten Geldtopf der Stadt zu greifen. Von seinem Vetter Duncan und Pete Ledoux erhält er den Auftrag, einen Nigger kaltzumachen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Wenig später wird Alvin Rankin, Hoffnungsträger der Demokratischen Partei, tot in seinem Haus aufgefunden, dann muss auch Teejay Crane dran glauben. Diesmal wurde aber ein junger blonder Mann in der Nähe des Tatorts gesehen, was für ein schwarzes Viertel ungewöhnlich genug ist.
„Der blonde Kerl hatte offensichtlich Eindruck gemacht. Man erinnerte sich an ihn, und Shade hatte keinerlei Schwierigkeiten, seine Route vom Olde Sussex Theatre bis zur Second Street zu verfolgen. Er brauchte nur an die Fenster zu klopfen und Leute auf der Straße zu fragen, ob sie einen panischen jungen Weißen mit irrem Blick gesehen hätten. In der Gegend wohnten zwar nicht nur Schwarze, aber sie beherrschten das Bild. Die wummernden Bässe, die aus den Stereoanlagen dröhnten, waren sepiafarbene Kunst, und selbst die Stimmen der weißen Anwohner klangen wie schwarzer Rap. Alle erinnerten sich an den Blonden, sagten aber nicht viel, sondern deuteten nur nach ‚da lang‘ – zum Fluss hinunter.“ (S. 144) 
Shade findet aber bald heraus, dass der gesuchte blonde junge Mann nicht allein für die Morde verantwortlich gewesen ist. Bei seinen Nachforschungen stößt er in ein Wespennest, das die wirtschaftlichen und politischen Spitzen der Stadt aufscheucht …
In „Der Boss“ will Shade gerade mit seiner Freundin Nicole für eine Woche zum Angeln in die Ouachitas aufbrechen, da muss er sich um die Leiche des Streifenpolizisten Gerald Bell kümmern. Der Fall ist deshalb so heikel, weil Bell nebenbei auch abkassierte, u.a. für den Cop Shuggie Zech, der Shade bei diesem Fall als Partner zugeteilt wird. Wie Shade von seinem Captain ganz offen mitgeteilt wird, war Bell an einem Spiel beteiligt, bei dem er eigentlich auf die Tür achten sollte. Stattdessen konnten drei maskierte Räuber unbehelligt die Runde der prominenten Spieler aufmischen und dabei eine Menge Bares kassieren. Shade bekommt den Auftrag, die Polizistenmörder nicht nur zu finden, sondern gleich kaltzumachen …
In „John X“ ist Rene Shade nach den unerfreulichen Ereignissen rund um seinen letzten Fall vom Dienst suspendiert worden und konzentriert sich nun auf das Familienleben und eine mögliche Hochzeit mit seiner schwangeren Freundin Nicole. Doch im Mittelpunkt der Ereignisse steht John X Shade, der Vater von Rene, Tip und Francois. Seine Frau Randi lässt ihn mit der zehnjährigen Tochter Etta sitzen und mit der Nachricht, dass sie Geld vom Killer Lunch gestohlen hat, um ihre Träume von einer Gesangskarriere verwirklichen zu können. Um nicht gleich in Lunchs Schusslinie zu geraten, flieht der alte Mann mit den unruhigen Händen und wässrigen Augen samt Etta nach St. Bruno zu seinen Söhnen, wo er sich mit organisierten Pokerrunden über Wasser halten will. Doch Lunch hat längst Witterung aufgenommen …
Die drei Romane der „Bayou“-Trilogie, denen bis heute leider keine Fortsetzung mehr gefolgt ist, sind vordergründig Krimi-Dramen vor einer außerordentlichen Kulisse. Aber das eigentliche Thema bei Woodrell sind die Menschen, die jeder auf ihre Weise ihr Päckchen zu tragen oder auch mehr oder weniger Schuld auf sich geladen haben. Die familiären Strukturen sind aufgebrochen und liegen in Trümmern. Stabile Ehen wurden für gelegentliche Abenteuer oder dauerhafte Affären aufs Spiel gesetzt, was immer wieder zu offenem Misstrauen, Hass und brutaler Gewalt führt. Der Autor füllt die Biografien seiner Figuren mit unzähligen humorvollen wie tragischen Anekdoten und lässt sie äußerst lebendig werden. Woodrells (Anti-)Helden betäuben die ermüdende Tretmühle ihres Daseins mit Alkohol, Gewalt, Glücksspielen und Sex. Erlösung ist nirgends in Sicht. Aus der Konstellation all dieser bemerkenswerten, irgendwie trostlosen Einzelschicksale knüpft Woodrell einen Sog aus klarer, Details ausschmückender Sprache und Geschichten, die nie ein gutes Ende nehmen. Und doch hofft der Leser nach jeder der drei Storys, dass ein besseres Leben für alle Beteiligten doch irgendwie noch möglich sein kann …
Leseprobe Daniel Woodrell - „Im Süden“

Thomas Harris – „Schwarzer Sonntag“

Sonntag, 4. August 2013

(Heyne, 349 S., Tb.)
Mit Hannibal Lecter hat der amerikanische Schriftsteller Thomas Harris eine Serienkiller-Ikone geschaffen, die in „Roter Drache“ erst als Nebenfigur eingeführt worden war und in „Das Schweigen der Lämmer“ so richtig aufdrehen durfte. Doch bereits mit seinem 1975 veröffentlichten Debütroman „Schwarzer Sonntag“ hat sich Harris als Meister im Kreieren psychopathischer Figuren erwiesen.
Hafez Nadscheer, Chef der Eliteeinheit Jihaz al-Rasd (RASD), des Geheimdienstes der El-Fatah, leitet den „Schwarzen September“ und hält nichts von der Rückgabe Palästinas an die Araber. Stattdessen glaubte er an das läuternde Feuer der Massenvernichtung. In diesem Glauben fand er in Dahlia Iyad, Abu Ali und dem Waffenexperten Muhammad Fasil tatkräftige Verbündete.
Der „Schwarze September“ war ebenso für die Aktionen in Italien und Frankreich verantwortlich wie für den Überfall auf das Olympische Dorf in München. Nun plant die Organisation einen vernichtenden Schlag gegen die USA. Dabei hat sich Dahlia Iyad die Unterstützung des labilen U.S.-Navy-Piloten Michael J. Lander gesichert, der nach seiner Kriegsgefangenschaft in Vietnam aus dem Dienst geschieden ist und nun ein Luftschiff über dem Tulane-Stadion navigiert. Dort plant der „Schwarze September“ am 12. Januar zum Super-Bowl-Spiel zuzuschlagen, wenn sich unter den 80000 Zuschauern auch der Präsident der Vereinigten Staaten befindet.
Nachdem ein israelisches Killer-Kommando unter Führung von Kabakov Nadscheer und Abu Ali außer Gefecht gesetzt hat, liegt es allein an Dahlia, die Operation zum erfolgreichen Abschluss zu bringen. Doch Kabakov hat zusammen mit den amerikanischen Geheimdiensten längst die Witterung aufgenommen.
„Die amerikanische Zelle des ‚Schwarzen September‘ hatte sich inzwischen bestimmt vollständig abgeriegelt und auch die Verbindung zur Guerillaführung in Beirat gekappt. Es würde verdammt schwer sein, sie aufzuspüren. Der Schock, den das Phantombild ausgelöst hatte, würde die Terroristen noch tiefer in ihren Bau treiben. Sie mussten ganz in der Nähe sein – sie hatten nach der Explosion zu schnell reagiert. Warum hatte dieser verfluchte Corley bloß das Krankenhaus nicht genügend überwachen lassen? Was war im Hauptquartier des ‚Schwarzen September‘ in Beirut geplant worden, und wer war dabei gewesen? Nadscheer. Nadscheer war tot. Die Frau. Sie hielt sich versteckt. Abu Ali? Ali war tot. Man konnte nicht mehr feststellen, ob Ali bei den Planungen dabei gewesen war, aber es war sehr wahrscheinlich, denn Ali gehörte zu den wenigen Männern auf der Welt, denen Nadscheer vertraut hatte. Ali war Psychologe gewesen. Aber Ali war auch noch vieles andere gewesen. Wozu brauchten sie einen Psychologen?“ (S. 194) 
Über 35 Jahre vor den Anschlägen des 11. September 2001 hat Thomas Harris bereits das erschreckende Szenario eines verheerenden terroristischen Anschlags auf amerikanischem Boden entwickelt. Der Plot ist dabei so spannend konstruiert, die psychischen Befindlichkeiten der Figuren so überzeugend gezeichnet, dass es nicht verwundern kann, dass bereits dieses Debüt erfolgreich verfilmt worden ist.  
Thomas Harris hat seine Meisterschaft sicher erst mit den Hannibal-Lecter-Romanen erreicht, aber „Schwarzer Sonntag“ zeigt bereits deutlich die Stärken des Bestseller-Autors auf, der zwar nur alle Jubeljahre etwas veröffentlicht, dann aber immer einen großen Wurf abliefert.

Dominik Kamalzadeh, Michael Pekler – „Terrence Malick“

Montag, 29. Juli 2013

(Schüren, 206 S., Pb.)
Wenn es darum geht, als Filmliebhaber tiefer in ein bestimmtes Thema einzusteigen oder sich näher mit einem Regisseur zu befassen, kommt man am Marburger Schüren-Verlag nicht vorbei. Mit seinen Monografien zu Filmemachern wie Stanley Kubrick, Abel Ferrara, Joel und Etahn Coen, David Lynch, Kathryn Bidelow oder Steven Spielberg hat der Verlag dazu beigetragen, beim interessierten Publikum ein besseres Verständnis für die Filme der ausgewählten Regisseure zu entwickeln.
Dass nun auch Terrence Malick Gegenstand einer solch analytischen Auseinandersetzung ist, ist überfällig und auf jeden Fall mehr als lohnenswert. Denn seit seinem gefeierten Debütfilm „Badlands“ aus dem Jahre 1973 hat sich der zurückgezogen lebende Malick stilsicher in die erste Garde ambitionierter Filmemacher gearbeitet. Zwar sollten bis zu seinem nächsten Film „Days Of Heaven“ (1978) fünf Jahre und daraufhin bis zu „The Thin Red Line“ (1998) sogar unglaubliche zwanzig Jahre vergehen, doch jedes seiner Werke war wie eine Offenbarung.
Wie die beiden österreichischen Autoren bereits im Vorwort konstatieren: „Diese Sonderstellung manifestiert sich darin, dass Malicks Filme sich nicht auf das beschränken, was man auf der Leinwand zu sehen bekommt. Sie begnügen sich nicht damit, das Schicksal eines einzelnen Menschen zu erzählen oder nur einen Ausschnitt aus der Welt zu zeigen. In Malicks Filmen geht es immer um das Ganze, und dieser Anspruch ist für sein Kino unabdingbar.“ (S. 9).
Auf knapp 200 Seiten gehen die Autoren der spannenden Frage nach, wie die als „naturmystisch“ bezeichneten Bilder und Töne in Malicks Filmen der Suche nach dem verlorenen Paradies entsprechen. Nach einem kurzen biografischen Abriss, der Malicks Stationen über Theateraufführungen an der High School, das Studium der Philosophie in Harvard, seine Arbeit als Journalist bis zu seinem Studium am neu gegründeten Center for Advanced Film Studies umfasst, geht es um die Art und Weise, wie Malick vor allem in den Filmen „The New World“ und „The Tree Of Life“ die Natur und eine sich in Bewegung befindliche Welt beschreibt. In diesem Zusammenhang kommt mit dem Transzendentalismus, den u.a. Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau im 19. Jahrhundert entwickelten, eine besondere Bedeutung zu.
Was Malicks Filme nach „Days Of Heaven“ auszeichnete, war eine zunehmende Loslösung von ästhetischen Konventionen und Figuren, die sich oft als Suchende und Außenseiter betrachten. Bei all diesen komplexen Fragestellungen gehen die Autoren sehr analytisch vor, bemühen filmische Vorbilder, philosophische Wurzeln und zitieren andere Kritiker. Deutlich wird dabei Malicks Hang zur Nostalgie, da bis auf „To The Wonder“ und Teile von „The Tree Of Life“ keiner von seinen Filmen in der Gegenwart spielt. Das Buch wird abgerundet durch ein ausführliches Interview mit dem Produktions-Designer Jack Fisk, der seit „Badlands“ Weggefährte von Malick ist, einen farbigen Bildteil, etlichen Schwarz-Weiß-Bildern im Textteil und einer ausführlich kommentierten Filmografie, dazu eine umfangreiche Bibliografie und ein Register. Das Buch eignet sich mit seiner flüssig geschriebenen und umfassend darstellenden Weise hervorragend dazu, Malicks Filme in einem besseren Licht zu sehen und die ihm wichtigen Themen zusammenhängend zu verstehen. Leseprobe D. Kamalzadeh, M. Pekler - "Terrence Malick"

Thomas Harris – „Das Schweigen der Lämmer“

Samstag, 27. Juli 2013

(Heyne, 358 S., Tb.)
Der amerikanische Schriftsteller Thomas Harris lässt zwar nur alle Jubeljahre mit einem neuen Werk von sich hören, doch wenn es soweit ist, gehören ihm die Bestseller-Listen auf der ganzen Welt, und die Film-Produzenten schlagen sich bereits während der Entstehung eines neuen Thrillers um die Filmrechte. Schließlich sind nicht nur alle – leider an nur einer Hand abzuzählenden – Romane des Autors erfolgreich verfilmt worden, mit Dr. Hannibal Lecter hat Harris eine Kult-Figur des soziopathischen Serienkillers geschaffen, der durch Anthony Hopkins auch noch grandios auf der Leinwand verkörpert worden ist.
Nachdem er in „Roter Drache“ (1981) nur einen kurzen Auftritt als Berater bei einem aktuellen Fall des FBI hatte, steht er im sieben (!) Jahre später entstandenen Sequel schon etwas mehr im Mittelpunkt der Geschehnisse. Unter dem Vorwand, einen Fragebogen zur Erstellung einer Datenbank für psychologische Diagramme in ungelösten Fällen ausfüllen zu lassen, schickt Special Agent Jack Crawford von der Abteilung für Verhaltensforschung die angehende Agentin Clarice Starling nach Baltimore, um im State Hospital für geistesgestörte Straftäter zu versuchen, ein paar Antworten von Dr. Hannibal Lecter zu erhalten. Tatsächlich lässt sich Lecter auf ein Gespräch mit Crawfords Schützling ein und bietet sogar seine Mithilfe im „Buffalo Bill“-Fall an.
Der Killer wird so genannt, weil er seine weiblichen Opfer regelrecht häutet und seine Spuren geschickt verwischt, indem er die Leichen in Flüssen entsorgt. Nach dem vielversprechenden Auftakt bindet Crawford Starling in die laufenden Ermittlungen mit ein.
 „Es gab keinen klaren Zusammenhang zwischen dem Ort, wo Bill die jungen Frauen entführte, und dem, wo er sie ablud. In den Fällen, in denen die Leichen rechtzeitig genug für eine Festsetzung der Todeszeit gefunden wurden, erfuhr die Polizei etwas weiteres über den Killer: Bill ließ sie eine Zeitlang am Leben. Diese Opfer starben erst eine Woche bis zehn Tage nach ihrer Entführung. Das bedeutete, dass er einen Ort haben musste, an dem er sie festhalten konnte, sowie einen Ort, wo er ungestört arbeiten konnte. Es bedeutete, dass er kein ziellos herumreisender Mensch war. Er glich eher einer Falltürspinne. Mit seinen eigenen Verstecken. Irgendwo.“ (S. 77) 
Als die Tochter von Senatorin Martin entführt wird, läuft der Polizei die Zeit davon. Lecter ist nur bereit, seine Fähigkeiten zur Ergreifung des Täters bereitzustellen, wenn ihm die Senatorin im Gegenzug eine Zelle mit Aussicht in einem Bundesgefängnis zusagt. Doch dann kann Dr. Lecter fliehen …
Bereits mit „Roter Drache“ hat Thomas Harris den prototypischen Serienkiller-Thriller verfasst und mit genauen psychologischen Betrachtungen die Faszination für diese abnorm veranlagten Serientäter geschürt. Seither hat es unzählige Nachahmer sowohl in der Spannungsliteratur als auch unter Hollywoods Filmemachern gegeben, doch mit „Das Schweigen der Lämmer“ hat Harris die Latte in Sachen Spannungsaufbau noch höhergelegt. Die Figuren Jack Crawfords, der neben den komplexen Ermittlungen im „Buffalo Bill“-Fall noch seine sterbenskranke Frau zu pflegen hat, der FBI-Schülerin Clarice Starling, die unbedingt weiter an dem Fall mitarbeiten möchte, und nicht zuletzt des hochintelligenten Dr. Hannibal Lecter sind so lebendig herausgearbeitet, die Ermittlungsarbeit so präzise und kurzweilig beschrieben, dass der Roman atemloses Lesevergnügen bis zum furiosen Finale verspricht.
Mit „Hannibal“ sollte erst 1999 die lang ersehnte Fortsetzung folgen …
Leseprobe Thomas Harris – „Das Schweigen der Lämmer“

Thomas Harris – „Roter Drache“

Donnerstag, 25. Juli 2013

(Heyne, 447 S., Tb.)
Nach grausamen Morden in Birmingham und Atlanta, wo nach gleichen Mustern in Vollmondnächten zwei Familien abgeschlachtet worden sind, sucht Jack Crawford vom FBI den Sonderermittler Will Graham auf, der vor einigen Jahren bei der Festnahme des Serienkillers Dr. Hannibal Lecter schwer verletzt worden war und sich seither vorwiegend um seine Familie und sein Boot kümmert. Crawford kann Graham überreden, sich die beiden Tatorte anzusehen und bei den weiteren FBI-Ermittlungen in Washington beratend zu unterstützen.
Tatsächlich erhält Graham bei den Besichtigungen der betreffenden Häuser wertvolle Hinweise auf den Täter, erhofft sich aber durch den Besuch bei Hannibal Lecter weitere Erkenntnisse, die ihn auf die Spur der sogenannten „Zahnschwuchtel“ bringen, wie der Killer nach Auswertung der Gebissspuren an den weiblichen Opfern genannt wird. Der unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen in einer psychiatrischen Anstalt inhaftierte Lecter wird schließlich von dem „roten Drachen“, wie sich der Killer später selbst nennt, über einen Brief auf Toilettenpapier kontaktiert, und über die Kleinanzeigen im „Tattler“ wollen die beiden Serienkiller in Kontakt bleiben. Währenddessen macht sich vor allem Graham weitere Gedanken über die Natur der „Zahnschwuchtel“.
„Der Mann, der die Familien Jacobi und Leeds ausgelöscht hatte, hatte irgend etwas an ihnen anziehend gefunden, wodurch er zu der Tat getrieben worden war. Er könnte sie zum Beispiel sehr gut gekannt haben – was Graham hoffte -, oder aber er hatte sie überhaupt nicht gekannt. Allerdings war sich Graham sicher, dass der Mörder sie zu Gesicht bekommen haben musste, bevor er sich entschlossen hatte, sie zu ermorden. Er hatte sie ausgesucht, weil irgend etwas an ihnen ihn angesprochen hatte, wobei das Hauptgewicht dieser Anziehung aller Wahrscheinlichkeit nach bei den Frauen zu suchen war. Doch was war dieses gewisse Etwas, das diesen Familien zum Verhängnis geworden war?" (S. 106) 
Allerdings rennt dem FBI und Graham die Zeit davon, denn bis zum nächsten Vollmond ist es nicht mehr lange hin …
Im Auftakt der „Hannibal Lecter“-Reihe, der bislang die ebenfalls allesamt verfilmten Bände „Das Schweigen der Lämmer“, „Hannibal“ und „Hannibal Rising“ folgten, spielt Hannibal Lecter noch eine Nebenrolle, doch reichen die wenigen Szenen, die sich mit ihm befassen, bereits aus, um eine nachhaltige Faszination für diese vielschichtige, intellektuell herausragende und doch so abnorme Figur zu entwickeln.
Im Mittelpunkt des 1981 veröffentlichten und 1988 erstmals in deutscher Sprache erschienenen Psycho-Thrillers stehen vor allem zwei Personen: der ebenfalls psychisch angeschlagene Ermittler Will Graham, der sich durch ein erhöhtes Einfühlungsvermögen an Tatorten und für den Tathergang auszeichnet, und der „rote Drache“ auf der anderen Seite.
Thomas Harris gelingt es auf einzigartige Weise, vor allem die fehlgeleitete Psyche des Täters so transparent darzustellen, dass seine Motivationen absolut nachvollziehbar erscheinen. Gerade daraus, die Gedanken und Gefühle des von Williams Blakes Gemälde „Der große, rote Drache und die mit der Sonne bekleidete Frau“ inspirierten Täters verstehen zu können, bezieht der extrem spannende Roman seine Faszination, aber auch die detaillierte Ermittlungsarbeit von Graham und dem FBI ist fantastisch beschrieben. So entwickelt sich ein intellektueller Wettkampf, dessen Auswirkungen noch lange nachhallen.
Leseprobe Thomas Harris – “Roter Drache”

Jack Ketchum – „Versteckt“

Sonntag, 21. Juli 2013

(Heyne, 243 S., Tb.)
Dan Thomas ist in dem kleinen Kaff Dead River in Washington County aufgewachsen, im ärmsten Bezirk des ganzen Landes, wie er meint. Jeder scheint hier von der Hand in den Mund zu leben, er selbst hat die Schule geschmissen und arbeitet in der örtlichen Sägemühle. Sein geregeltes Leben kommt ordentlich in Schwung, als Casey, Kim und Steven mit ihren reichen Eltern die Ferien in Dead River verbringen.
Anfangs hängen sie zu viert herum und wollen in der langweiligen Gegend spannende Sachen erleben, dann kommen sich Dan und Casey beim Nacktbaden näher. Ob es Liebe ist, kann Dan noch nicht sagen, aber aufregend ist es auf jeden Fall. Doch Casey begnügt sich mit einem unbekümmerten Urlaubsflirt oder Picknicks am Strand mit geklauten Lebensmitteln aus dem Supermarkt. Ständig ist sie auf der Suche nach dem nächsten Kick. Als Dan Caseys apathisch wirkenden Vater kennenlernt, bekommt er eine Ahnung, warum Casey so ist, wie sie ist.
„Jeder ist einsam. Im Grunde unseres Herzens sind wir allein. Nur dass manche diesem Umstand den Krieg erklären und andere nicht. Damit will ich nicht über Casey urteilen. Sie hatte gute Gründe für ihr Verhalten, und sie wusste sich nicht anders zu helfen. Es lag nicht in ihrer Natur, dass sie so grausam war. Denn Krieg bedeutet immer auch Tod. Und der Tod ist ansteckend und nicht wählerisch.“ (S. 105f.) 
Doch Caseys emotionale Ausbrüche bringen auch Dan in Schwierigkeiten. Schließlich beschließen die vier, die Nacht in dem verlassenen Crouch-Haus zu verbringen und verstecken zu spielen. Vor Jahren haben hier die beiden gehandicapten Geschwister Ben und Mary mit ihren Hunden gelebt, bis sie irgendwann das Haus räumen mussten. Sie verschwanden von einem Tag zum anderen und ließen ihre Hunde einfach im Haus zurück. Was als bierseliger Spaß beginnt, wird jedoch zum tödlichen Ernst, als Dan feststellt, dass außer ihnen noch andere Lebewesen in dem Haus ihr Unwesen treiben …
Nachdem der Heyne-Verlag in seiner Hardcore-Reihe in letzter Zeit fast den gesamten Backcatalogue von Richard Laymon in deutschen Erstausgaben veröffentlicht hat, darf sich das deutsche Publikum darauf freuen, dass auch das umfangreiche Werk von Jack Ketchum nach und nach hier erhältlich sein wird.
Bislang sind mit „Evil“ (im Original 1989 erschienen), „Beutegier“ (1991), „Amokjagd“ (1994), „Wahnsinn“ (1995), „Blutrot“ (1995), „Beutezeit“ (1999) und „The Lost“ (2001) vor allem die Frühwerke des Autors veröffentlicht worden, erst mit „Beuterausch“ (2011) kam zeitnah auch ein aktuelles Werk von Dallas Mayr (so Ketchums bürgerlicher Name) auf den Markt. Dazwischen sind aber noch über zwanzig (teilweise mit Edward Lee und Richard Laymon verfasste) Bücher erschienen, die noch auf eine deutschsprachige Übersetzung warten.
Mit „Versteckt“ ist nun aber Ketchums erst zweites Buch aus dem Jahre 1984 veröffentlicht worden. Der Schützling von Altmeister Robert Bloch („Psycho“) demonstriert auf gerade mal knapp 230 Seiten aber schon eindrucksvoll seine Stärke, normale Menschen in psychischen wie physischen Ausnahmesituationen agieren zu lassen, wobei er mit klarer Sprache, pointierten Dialogen, expliziten Sex- und Gewalt-Szenen straffe Handlungszüge entwickelt, die keine Zeit zum Luftholen lassen. „Versteckt“ wird aus der Perspektive des sympathischen Dead-River-Einwohners Dan Thomas erzählt, und der geschliffene Roman bringt sehr gut die Einöde des kleinstädtischen Lebens ebenso gut zum Ausdruck wie die Faszination für die reichen Kids aus Boston, die leidenschaftlichen Gefühle, die er für Casey zu empfinden beginnt, aber auch die gefährlichen Züge, die ihrer Persönlichkeit zu eigen sind. Das eigentliche Versteck-Spiel folgt allerdings den konventionellen Genre-Konventionen und kann nicht ganz an die Klasse der ersten zwei Drittel der Geschichte anknüpfen. Aber spannend bleibt das Werk bis zum Schluss.
Abgerundet wird „Versteckt“ durch biografische Ergänzungen des Autors zur Entstehung der Geschichte und einer Werkbiografie, wie man sie bereits aus den letzten Richard-Laymon-Veröffentlichungen her kennt.
Leseprobe Jack Ketchum „Versteckt“