Simon Beckett – „Der Hof“

Sonntag, 9. Februar 2014

(Wunderlich, 460 S., HC)
Mit seinen David-Hunter-Romanen „Chemie des Todes“, „Kalte Asche“, „Leichenblässe“ und „Verwesung“ hat der englische Autor Simon Beckett weltweit eine enorme Fangemeinde gewinnen können. Doch bevor die Leser ein neues Abenteuer von dem forensischen Pathologen mit romantischen Neigungen präsentiert bekommen, überrascht Beckett mit einem packenden Psychothriller der etwas anderen Art.
Ein Mann auf der Flucht. Als dem Audi das Benzin auszugehen droht, lenkt er den Wagen in einen Feldweg, entfernt die britischen Nummernschilder und wirft sein Handy ins Feld. Er fährt per Anhalter weiter, es wird französisch gesprochen. Nach einem kleinen Imbiss in der nächsten Kleinstadt wandert der Mann weiter und landet auf einem abgelegenen Hof, wo er um Wasser bittet. Als er im Wald in eine Tierfalle tritt, wird er zurück zum Hof gebracht, der von dem herrischen Arnaud und seiner Tochter Mathilde bewirtschaftet wird. Der Mann namens Sean wird gesundgepflegt, dann bekommt er das Angebot, auf dem Hof auszuhelfen, bis er den Drang verspürt weiterzuziehen. Sean nimmt den Job, Ausbesserungsarbeiten an einem Gebäude zu übernehmen an, weil er sich hier sicher vor der Polizei wähnt. Doch die Art, wie Arnaud, Mathilde und ihre kokette Tochter Gretchen miteinander umgehen, wie die Stadtbewohner auf Arnaud reagieren, macht Sean neugierig. Je länger er auf dem Hof bleibt, desto unheimlicher erscheinen ihm die Geschichten, die ihm zugetragen werden. Und was hat es mit dem Vater von Mathildes Sohn auf sich, der zuletzt in Lyon gesehen worden ist und seitdem als vermisst gilt?
„… ich bin inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass dieser Hof unliebsame Ereignisse einfach absorbiert und sich darüber schließt wie das Wasser um die Steine, die ich in den See werfe. Ein paar Wellen breiten sich kreisförmig aus, danach ist alles wieder ruhig.“ (S. 223) 
Von Beginn an versteht es Simon Beckett, mit seinem neuen Roman einen unheimlichen Sog der Spannung zu erzeugen. Was sich zunächst auf Seans Geschichte bezieht, die nach und nach in einzelnen Kapiteln aufgerollt wird, die die vorangegangenen Geschehnisse in London rekapitulieren, weitet sich schließlich auf das Geschehen auf dem Hof im ländlichen Frankreich aus. Geschickt spielt Beckett hier mit dem geheimnisvollen Figurenensemble, dessen Beziehungsgeflecht nie ganz zu durchschauen ist. Interessant ist dabei vor allem die erotische Spannung herausgearbeitet, die sich zwischen Sean und der aufdringlichen Gretchen einerseits und Sean und der zurückhaltenden, ganz um das Wohl der Familie besorgten Mathilde entwickelt. Die psychologische Feinsinnigkeit, mit der Beckett hier unterwegs ist, reicht allein schon aus, „Der Hof“ zu einer äußerst spannenden Lektüre zu machen, aber die zu lösenden Rätsel und das Auffinden verschwundener Personen sorgen darüber hinaus für den Thriller-Nervenkitzel, für den der Bestseller-Autor berühmt ist.
Mit sprachlicher Virtuosität und einer komplexen Anordnung psychologischer Profile ist mit „Der Hof“ ein Pageturner entstanden, der lange nachwirkt.
Leseprobe Simon Beckett - "Der Hof"

David Baldacci – (John Puller: 1) „Zero Day“

Sonntag, 26. Januar 2014

(Heyne, 607 S., HC)
In dem kleinen Städtchen Drake in West Virginia wird Oberst Matthew Reynolds ermordet aufgefunden. Da er beim Militärischen Geheimdienst DIA für die tägliche Berichterstattung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse an den Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs verantwortlich war, wird der 35-jährige John Puller auf den Fall angesetzt. Der hochdekorierte Kriegs-Veteran und Spezialermittler der Militärstrafverfolgungsbehörde CID bekommt allerdings nur die örtlichen Polizeibehörden zur Unterstützung, um nicht die Aufmerksamkeit von FBI und den Medien zu erregen.
Nach seiner Ankunft in Drake lernt Puller nicht nur die tüchtige Polizeibeamtin Sam Cole kennen, die ihm bei den Ermittlungen tatsächlich eine große Hilfe ist, sondern auch die wenigen mächtigen Leute in Drake, die ihren Reichtum dem Kohletagebau verdanken. Nach weiteren Morden in der Stadt und Attentaten auf die beiden Ermittler steht weit mehr auf dem Spiel, als nur einen Mord an einem Armeeangehörigen aufzuklären. Wie Puller durch seinen Bruder, den wegen Hochverrats inhaftierten Atomwissenschaftler Robert, erfährt, werden die bei den Ermittlungen aufgetauchten Elemente Goldfolie und Wolframkarbid beim Bau von Nuklearsprengstoffen verwendet. In diesem Zusammenhang bekommt der abgelegene Regierungsbau mit riesiger Betonkuppel eine ganz neue Bedeutung für den Fall. Als Pullers Vorgesetzter berichtet, dass in drei Tagen mit einem terroristischen Anschlag zu rechnen ist, läuft Puller und Cole die Zeit davon.
„Falls er sterben musste, wollte er als letztes Bild seiner selbst das Bild eines Mannes in Uniform vor sich sehen, der für etwas kämpfte, für das es sich zu kämpfen lohnte. Im Irak und in Afghanistan war die Motivation naheliegend gewesen. Man kämpfte, um sein Leben zu schützen. An zweiter Stelle zählte die Zugehörigkeit zur Armee der Vereinigten Staaten im Allgemeinen und zu den Rangern im Besonderen. Drittens spielte die Verpflichtung gegenüber dem Heimatland eine Rolle. Ein Zivilist hätte diese Reihenfolge möglicherweise als verdreht erachtet, doch Puller wusste es besser. Seine Prioritäten entsprachen vollkommen dem Denken der Mehrheit aller Uniformträger, die regelmäßig die Kastanien aus dem Feuer holen mussten.“ (S. 535f.) 
Der amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci hat zwar auch romantische Stoffe wie „Das Geschenk“ und „Das Versprechen“ verfasst, aber berühmt ist er durch seine Thriller geworden, unter denen der von Clint Eastwood verfilmte Roman „Absolute Power“ und die Reihen um den ehemaligen Secret-Service-Agenten Sean King und seine Partnerin Michelle Maxwell sowie den exklusiven Camel Club zu den bekanntesten zählen.
Mit „Zero Day“ startet nun eine weitere, diesmal im Heyne Verlag veröffentlichte Serie um den CID-Ermittler John Puller. Schnörkellos geschrieben, nimmt sich Baldacci nicht allzu viel Zeit für die Charakterisierung seiner Figuren, sondern enthüllt nur Fragmente von Pullers militärischer Vergangenheit, die ganz im Schatten seines übermächtigen Vaters steht, und seiner Beziehung zum inhaftierten Bruder, der glücklicherweise eine bedeutende Rolle bei der Aufklärung dieses ersten Falls spielen darf. Diese knappen Einblicke in die Vergangenheit des CID-Spezialermittlers lassen natürlich Freiräume für die kommenden Romane, aber im Vordergrund steht ohnehin der Fall, der alles zu bieten hat, was sich Thriller-Freunde wünschen – eine abgelegene Stadt mit einer eingeschworenen Gemeinschaft, einen undurchsichtigen Mordfall ohne ersichtliches Motiv, Indizien und Beweise, die mehrere Deutungsmöglichkeiten offenlassen, und ein wendungsreicher Showdown, der neugierig macht auf die weiteren Fälle von John Puller.
 Leseprobe David Baldacci - "Zero Day"

Joe Hill – „Christmasland“

Sonntag, 5. Januar 2014

(Heyne, 800 S., HC.)
Mit seinen ersten beiden Romanen „Blind“ und „Teufelszeug“ hat sich Joe Hill schon früh aus dem mächtigen Schatten seines Vaters Stephen King lösen und als äußerst origineller Horror-Autor etablieren können. Mit seinem neuen Werk „Christmasland“ liefert er nun sein Magnus Opus ab, eine 800-seitige Saga, in der sich gleich mehrere Themen aus dem Universum seines Vaters wiederfinden.
In den 90er Jahren hat Charles Talent Manx III Dutzende in seinem alten Rolls-Royce von Kindern entführt, um sie an einen Ort zu bringen, wo das ganze Jahr über Weihnachten herrscht. Zusammen mit seinem ebenfalls psychisch derangierten Handlanger Bing Partridge, der mit Gasmaske maskiert und aromatisierten Betäubungsgas bewaffnet die ausgesuchten Opfer ins sogenannte Christmasland brachte, ließ Manx über die Jahre in verschiedenen Bundesstaaten unter jeweils mysteriösen Umständen Kinder und ihre Mütter verschwinden, bis er eines Tages gefasst, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt wurde, wo er allerdings 2001 ins Koma fiel.
Im Dezember 2008 kam Manx in der Dauerpflegestation im Hochsicherheitsspital des FCI Englewood allerdings unerwartet wieder zu sich, um seine Jagd nach vermeintlich unglücklichen Kindern und ihren unwürdigen Müttern fortzusetzen. Allerdings findet er in Victoria McQueen eine versierte Gegenspielerin. In ihrer Kindheit verfügte sie über die beachtliche Gabe, verlorene Dinge wiederzufinden, indem sie sich auf ihr Raleigh-Tuff-Burner-Fahrrad schwang, hinter dem Haus den Hügel hinunterratterte und über die Shorter Way Bridge auf unerklärliche Weise genau dort landete, wo das verschollene Ding zu finden war. Sie war das einzige Mädchen, das den Fängen des Weihnachtsmörders entkommen konnte, allerdings bezahlte sie dieses traumatische Erlebnis mit Wahnvorstellungen, die sie in die Nervenklinik brachten, nachdem sie ihr Haus abgebrannt hatte. Doch 2011 bekommt Vic unerwarteten Besuch von Maggie Leigh, einer stotternden Bibliothekarin, die das Mädchen damals mit seiner besonderen Gabe vertraut gemacht hatte. Als Maggie verkündet, dass die Leiche von Manx verschwunden ist, will Vic nicht wahrhaben, dass die Jagd von Neuem beginnt.
„Vics Wut drohte überzukochen, und sie wollte Maggie damit verbrennen. Nicht nur versperrte Maggie ihr den Weg zu ihrer Haustür und brachte mit ihrem irren Gerede Vics Wahrnehmung der Realität und ihre hart erkämpfte Zurechnungsfähigkeit ins Wanken. Nein, sie gönnte ihr auch nicht die Erleichterung angesichts von Manx‘ Tod. Charlie Manx, der Gott weiß wie viele Kinder entführt hatte, der Vic selbst gekidnappt, gequält und beinahe getötet hatte – Charlie Manx lag unter der Erde. Vic war ihm endlich entkommen. Aber die verdammte Margaret Leigh wollte ihn wieder zurückholen, ihn ausgraben, damit Vic sich weiter vor ihm fürchten musste.“ (S. 334) 
Als sich Vic endlich der Wahrheit stellt, lässt sie sich nicht mehr von ihrem Vorhaben abbringen, Manx endgültig zur Strecke zu bringen. Mit der Entführung ihres Sohnes in sein Christmasland hat er den Bogen nämlich deutlich überspannt…
„NOS4A2“ hat Joe Hill seinen dritten in Deutschland veröffentlichten Roman zunächst etwas kryptisch anmutend betitelt, aber die Bedeutung des Rolls-Royce-Nummernschilds als „Nosferatu“ beschreibt treffend, worum es in „Christmasland“ geht, denn offensichtlich zieht sich Charlie Manx sein Lebenselixier aus den Kindern, die er in sein unheimliches Christmasland bringt.
Was den epischen Roman dabei auszeichnet, ist nicht allein die moderne Variation des ewig faszinierenden Vampir-Themas, sondern der Kampf des Guten gegen das Böse. Hier tauchen Motive aus Stephen Kings „Christine“ ebenso auf wie aus seinen Romanen „Es“, „Shining“ oder „Das letzte Gefecht“, aber auch Ray Bradbury lässt mit „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ grüßen. Dabei lebt die Geschichte von ihren faszinierenden Hauptfiguren, den bösartigen Häschern Charlie Manx und Bing Partridge auf der einen Seite und Vic „das Gör“ McQueen mit ihrer Familie auf der anderen. Über eine Zeitspanne von über 25 Jahren mit verschiedenen – nicht immer einfach nachzuvollziehenden - Rückblenden, Zeitsprüngen und Ortwechseln hinweg folgen Manx und Vic ihren Lebenswegen, um dann aufeinanderzutreffen, sich aus den Augen zu verlieren, bis sich für einen alles entscheidenden Kampf erneut ihre Wege kreuzen.
Diese wendungsreiche, spannende Geschichte entbehrt nicht einiger recht skurriler Einfälle, dokumentiert aber eindrucksvoll, dass Hill schon jetzt zu den einfallsreichsten modernen Horror-Autoren gezählt werden muss, der hoffentlich ebenso produktiv wird wie sein alter Herr.
Leseprobe Joe Hill – “Christmasland”

Dennis Lehane – „In der Nacht“

Dienstag, 24. Dezember 2013

(Diogenes, 592 S., HC.)
Mit Romanen von Dennis Lehane verhält es sich ähnlich wie mit denen von Thomas Harris (“Roter Drache”, “Das Schweigen der Lämmer”). Wenn der Leser nach meist nur wenigen Seiten bereits voll in die Geschichte eingetaucht ist, schreit alles nach Verfilmung. Dennis Lehane hat mit „Mystic River“, „Gone Baby Gone“ und „Shutter Island“ bereits drei Vorlagen zu erfolgreichen, von renommierten Filmemachern wie Clint Eastwood, Martin Scorsese und Ben Affleck inszenierten Thriller-Dramen geliefert, nun folgt mit „In der Nacht“ bereits die nächste, wiederum von Affleck umgesetzt.
„In der Nacht“ stellt zwar keine direkte Fortsetzung von Lehanes letztem Werk „Im Aufruhr jener Tage“ dar, verfolgt aber das Schicksal der Coughlin-Familie in eine andere Richtung. Wir befinden uns im Jahr 1926, Coughlin-Patriarch Thomas dient als stellvertretender Polizeichef in Boston und lässt sich wie viele andere Cops auch ordentlich schmieren, um in den Zeiten der Prohibition immer mal wieder wegzuschauen. Sein ältester Sohn Danny, der im Zentrum von „Im Aufruhr jener Tage“ stand und nach dem Quittieren des Polizeidienst Karriere in Hollywood als Stuntman und schließlich Drehbuchautor machte, taucht nur kurz als Nebenfigur auf, der Fokus liegt in Lehanes neuem Roman auf dem jüngsten Coughlin-Sprössling Joe, der als blutjunger Kleinganove nicht nur den Mumm hat, einen Laden von Gangsterboss Albert White auszurauben, sondern sich auch noch in dessen Geliebte Emma Gould verguckt. Doch der Plan, gemeinsam mit der erbeuteten Kohle irgendwo anders ein neues Leben anzufangen, schlägt furchtbar fehl. Emma verrät ihren neuen Liebhaber in der Hoffnung, dass ihm nichts geschieht, muss aber selbst mit dem Leben büßen, während Joe in Charleston eine Haftstrafe absitzen muss. Dort zieht er alle notwendigen Strippen, um nach seiner Entlassung voll in den Rumhandel einzusteigen. Mit seinem alten Kumpel Dion zieht es Joe nach Ybor, wo er mit Esteban ins Geschäft kommt und selbst schnell zum Gangsterboss aufsteigt. Obwohl er mit der kubanischen Idealistin Graciela eine Familie gründet, denkt Joe nicht daran, seine kriminelle Karriere aufzugeben.
„Genau deshalb waren sie Gesetzlose. Um Dinge zu erleben, die den Versicherungsvertretern, den Lastwagenfahrern und Anwälten und Kassierern und Schreinern und Immobilienmaklern dieser Welt nie vergönnt sein würden. Drahtseilakte ohne Netz und doppelten Boden. Genau in diesem Moment erinnerte sich Joe daran, was ihm damals als Dreizehnjährigem durch den Kopf geschossen war, als sie den Zeitungskiosk in der Bowdoin Street ausgeraubt hatten: Wahrscheinlich werden wir jung sterben.“ (S. 316) 
Mit dieser Erkenntnis wird Joe Coughlin gleich zu Beginn von Lehanes Roman konfrontiert, als er mit einzementierten Füßen auf einem Schlepper im Golf von Mexico seinem Ende entgegensieht. Indem ihm bewusst wird, dass er diese missliche Lage seiner Liebe zu Emma Gould, der Geliebten von Gangsterboss Albert White, zu verdanken hat, lässt er sein turbulentes Leben Revue passieren. Lehane erweist sich dabei als versierter Kenner der Kulturgeschichte, entwirft ein atmosphärisch stimmiges Portrait der Prohibitionszeit und lässt auch relevante Themen wie Rassismus und Korruption auf lebendige Weise in die Geschichte einfließen, in der alle beteiligten Gangster nach immer größeren Gebieten und Gewinnen streben, so dass blutige Auseinandersetzungen zwischen den Italienern, Spaniern und Kubanern nicht zu vermeiden sind.
„In der Nacht“ besticht aber nicht nur durch die hohe Erzählkunst seines Autors, sondern vor allem durch die faszinierende Hauptfigur, die von starken Leidenschaften getrieben wird. Zusammen mit den facettenreichen Figuren und der dramatischen Handlung ist so eine kurzweilige Gangsterballade entstanden, die wie gemacht für die Kinoleinwand scheint.
Leseprobe Dennis Lehane - "In der Nacht"

Stephen King – „Doctor Sleep“

Mittwoch, 11. Dezember 2013

(Heyne, 704 S., HC.)
“Shining” ist nicht nur eines der ältesten (1977 erstmals von Doubleday veröffentlicht) Werke des Horror-Schriftstellers Stephen King, sondern wurde auch 1980 kongenial von Stanley Kubrick mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt. Nach über 35 Jahren legt King mit „Doctor Sleep“ nun eine packende Fortsetzung vor, in der das Schicksal von Daniel Torrance im Mittelpunkt des Geschehens steht.
Er muss ein noch stärker mit dem „Shining“ gesegneten Mädchen vor einer besonderen Art von Vampiren retten. Nachdem das Overlook-Hotel wegen eines defekten Heizkessels – so das Fazit des Brandinspektors von Jicarilla County - bis auf die Grundmauern abgebrannt war und unter anderem der für den Winter eingestellte Hausmeister John Torrance dabei ums Leben kam, lebten seine Frau Wendy und ihr gemeinsamer Sohn Daniel von der Abfindung, die ihnen die Besitzerfirma des Hotels zahlten, im mittleren Süden und dann im sonnigen Tampa.
Mittlerweile ist Dan erwachsen und wie sein Vater dem Alkohol verfallen. Er reist durch die Staaten und nimmt Gelegenheitsjobs als Hausmeister und Krankenpfleger an, bis er in Frazier landet und die Bekanntschaft mit Billy Freeman macht, der ihm einen Job in der Freizeitanlage Teenytown vermittelt. Deren Boss erkennt sofort, dass Dan ein Alkoholiker ist und legt ihm ein strenges Programm auf. Doch kaum hat sich Dan eingelebt, erhält er Botschaften von einem Mädchen namens Abra, das schon als Baby starke „Shining“-Kräfte zum Ausdruck gebracht hat. Während die beiden miteinander kommunizieren, kommen sie einer Vampir-ähnlichen Sekte auf die Spur, die sich der Wahre Knoten nennt und seit Jahrhunderten unauffällig in Wohnmobilen durch die Lande zieht und sich von dem sogenannten Steam ernährt, dem letzten Odem von Menschen, die das „Shining“ besitzen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn der Wahre Knoten hat längst die Spur von Abra aufgenommen …
„Rose wollte das Mädchen nicht nur, weil es – mithilfe des richtigen Drogencocktails und kraftvoller übersinnlicher Beruhigungsmaßnahmen – einen fast endlosen Vorrat an Steam liefern konnte. Die Sache hatte einen persönlicheren Aspekt. So jemand umwandeln? Zum Teil des Wahren Knotens machen? Niemals. Die Kleine hatte Rose the Hat aus ihrem Kopf gescheucht wie eine lästige Sektenanhängerin, die von Tür zu Tür ging, um Broschüren über das Ende der Welt zu verteilen. So war Rose noch von niemand rausgeschmissen worden. Egal wie kraftvoll die Kleine war, man musste ihr eine Lektion erteilen. Und dafür bin ich genau die Richtige.“ (S. 294f.) 
Ebenso wie sich viele Leser gefragt haben, was mit dem kleinen Danny passiert ist, nachdem er mit seiner Mutter Wendy und dem Koch Dick Hallorann in den nächstgelegenen Ort Sidewinder geflüchtet ist, ließ auch den Autor die Frage nie los. 35 Jahre nach "Shining" legt Stephen King mit „Doctor Sleep“ eine Fortsetzung vor, die wie in Kings epochalen Meisterwerken „The Stand - Das letzte Gefecht“ und „Der dunkle Turm“ nicht weniger als den Kampf des Guten gegen das Böse in epischen Dimensionen thematisiert.
Die 700 Seiten werden dabei vor allem von der innigen – durch das „Shining“ geprägte - Beziehung zwischen der jungen Abra und dem Alkoholiker Danny geprägt, von Danny schwerem Weg, die Alkoholsucht zu besiegen und ein neues Leben zu beginnen, von seiner Fähigkeit, als „Doctor Sleep“ im Pflegeheim die Sterbenden zur letzten Ruhe zu begleiten, aber auch von Abras Unsicherheit im Umgang mit ihren außergewöhnlichen mentalen Kräften und natürlich der Konfrontation zwischen dem Wahren Knoten und Abra mit ihren Freunden und Angehörigen.
Der Roman überzeugt dabei durch seine sorgfältig gezeichneten Figuren und den dramaturgisch geschickt inszenierten Spannungsaufbau, der sich in einem furiosen Finale entlädt.
Leseprobe: Stephen King – “Doctor Sleep”

Ian McEwan – „Honig“

Sonntag, 17. November 2013

(Diogenes, 463 S., HC.)
Eigentlich wollte die hübsche wie kluge Bischofstochter Serena Frome bei ihrer Vorliebe für das Lesen von Romanen ein gemächliches Englischstudium an irgendeiner Provinzuniversität absolvieren, doch ihr ausgeprägtes Talent für die Mathematik ließ sie nach Cambridge aufs Newnham College gehen, wo sie nur noch ein kleines Licht auf diesem Gebiet war. Während ihrer wenig aufregenden Studienzeit, in der sie immerhin ihre Unschuld verlor und eine Reihe von Liebhabern hatte, las sie weiterhin Bücher und begann für die Wochenzeitschrift „?Quis?“, die ihre Freundin Rona Kemp ins Leben rief, regelmäßige Kolumnen zu schreiben, zunächst Zusammenfassungen der von ihr verschlungenen Romane mit selbstparodierenden Urteilen, dann – als sie mit einem russischen Schriftsteller liiert war – zunehmend ernsthafte antikommunistische Artikel.
Mit Tony Canning tritt schließlich 1972 der Geschichtstutor ihres aktuellen Freundes Jeremy auf den Plan und rekrutiert Serena für den MI5, wo sie allerdings langweiligen Dienst als Büroangestellte der untersten Dienststufe leistet. Doch dann initiiert der MI5 analog zur CIA, die jahrelang kulturelle Projekte in Europa förderte, das Unternehmen „Honig“. Unter dem Tarnnamen und über den Umweg verschiedener vom britischen Geheimdienst finanzierten Stiftungen sollen junge Schriftsteller und Journalisten gefördert werden, die sich öffentlich für die freie Welt engagieren. Serena bekommt den Auftrag, für dieses Projekt Thomas Haley zu begutachten und schließlich zu rekrutieren.
„Ich hatte seinen Hunger nach Anerkennung freigelegt, nach Lob, nach allem, was ich ihm geben konnte. Daran lag ihm wohl am meisten. Seine Erzählungen waren vermutlich, abgesehen vom routinemäßigen Dank und Schulterklopfen irgendeines Redakteurs, sang- und klanglos untergegangen. Wahrscheinlich hatte keiner, zumindest kein Fremder, ihm jemals gesagt, wie phantastisch seine Prosa war. Jetzt hörte er es und erkannte, dass er das schon immer vermutet hatte. Ich hatte ihm eine umwerfende Nachricht überbracht. Wie konnte er wissen, dass er etwas taugte, wenn niemand es ihm bestätigte? Und jetzt wusste er es, es stimmte tatsächlich, und er war dankbar.“ (S. 207) 
Der Coup gelingt, doch indem sie eine leidenschaftliche Affäre mit dem vielversprechenden Autor beginnt, setzt sie einiges aufs Spiel …
Ian McEwan („Abbitte“) hat die interessante Zeit des Kalten Krieges, in der sowohl der demokratische Westen als auch der kommunistische Osten nichts unversucht ließen, die Überlegenheit ihrer Ideologien zu propagieren, als Szenario für eine außergewöhnliche Love- und Agentenstory gewählt und dabei weniger das Spionieren an sich als vielmehr die emotionalen Verquickungen ins Zentrum seines Romans „Honig“ gestellt. Fachkundig bekommt der Leser zwar einen wunderbar unterhaltsam geschilderten Einblick in die politischen Machenschaften und undurchsichtigen Geheimdienst-Praktiken der damaligen Zeit, aber dem britischen Meistererzähler geht es wie immer vor allem darum, wie sich seine Protagonisten in ihrem jeweiligen Umfeld bewegen und was sie zu ihrem Tun antreibt. Mit Serena Frome beschreibt er eine durchweg sympathische Heldin mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die sie durchaus gewinnbringend einzusetzen versteht.
Was „Honig“ dabei auszeichnet, ist nicht nur die sprachliche Geschliffenheit, mit der McEwan minutiös Geschehen und Befindlichkeiten beschreibt, sondern die elegante Verquickung von Realität und Fiktion, wie sie vor allem in den Zusammenfassungen von Haleys Erzählungen und Serenas Interpretationen und Übertragungen auf den Autor zum Ausdruck kommen. Aber auch die fein gesponnene Symbiose aus Spionage-Roman und Liebes-Drama, der immer wieder durchblitzende feine Humor und die überraschenden Wendungen machen „Honig“ zu einem kurzweiligen, tiefsinnigen und amüsanten Lesegenuss.
Leseprobe Ian McEwan - "Honig"

Philippe Djian – „Wie die wilden Tiere“

Samstag, 2. November 2013

(Diogenes, 227 S., HC)
Als der bildende Künstler Marc in einer Metro ein völlig betrunkenes und vollgekotztes Mädchen aufliest und mit nach Hause in seine am Strand liegende Villa nimmt, füllt er damit nicht nur den geräumigen Wohnsitz, sondern auch die Leere, die dort nach dem Aufsehen erregenden Selbstmord seines achtzehnjährigen Sohnes Alexandre und der Trennung von seiner Frau Elisabeth entstanden ist.
Marc versteht selbst nicht, warum er die junge Frau unter seine Fittiche genommen hat, zumal sie am nächsten Tag schon wieder verschwunden ist und sein Haus völlig verwüstet zurückgelassen hat, aber er ahnt wohl, dass ihr gutes Aussehen sicherlich eine Rolle spielte. Kaum taucht Gloria wieder auf, zieht sie bei Marc ein. Er erfährt, dass sie die Alexandres Freundin gewesen ist, und bekommt durch ihre Erzählungen endlich einen Einblick in das Leben seines Sohnes, um den er sich zu wenig gekümmert hat. Marcs beste Freunde Michel und Anne warnen ihn allerdings vor dem Mädchen, von der niemand etwas weiß. Michel ist nicht nur Marcs Agent, mit seiner Frau Anne unterhielt Marc eine leidenschaftliche Affäre, bevor sie mit Michel zusammengekommen ist. Nun sehnt sie sich nach dem großartigen Sex mit Marc zurück, während sich Michel mit Erektionsstörungen herumplagt. Marc fällt es sichtlich schwer, ein besonnenes Verhältnis zu ihnen zu bewahren.
„Ich beobachtete sie einen Moment von draußen, Anne, wie sie Kartons mit dem Cutter aufschnitt, und ihn, wie er sich den Inhalt besah, und beide zusammen, wie sie beeindruckt den Kopf schüttelten, bevor sie sich dem nächsten Foto zuwandten. Michel kauerte auf dem Boden, und Anne ließ eine Hand auf seiner Schulter ruhen. Wenn ich an den Weg zurückdachte, den wir gemeinsam gegangen waren, eine dreißig Jahre lange Reise, erfüllte mich diese Hand mit Zuneigung für die zwei – ich erinnerte mich vor allem daran, wie sie mir geholfen hatten, alle möglichen Schicksalsschläge zu überwinden, wie wir uns stets gegenseitig zur Seite gestanden waren und was für ein phantastisches Bollwerk wir damit um uns aufgebaut hatten. Danach überkam mich ein anderes Gefühl, nämlich, dass diese Dreiecksbeziehung uns erdrückte, lähmte, blind machte – Julia hatte sich trotz ständiger Vorsichtsmaßnahmen immer ausgeschlossen und gekränkt gefühlt -, dass dieses Trio gar nicht so gut funktionierte, wenn man bedachte, wie extrem kräftezehrend unser Verhältnis letztlich war.“ (S. 144) 
Michel und Anne bedrängen Marc zunehmend, Gloria nicht zu nah an sich heranzulassen. Während Michel schon Ermittlungen über sie anstellen will, kann Anne die Vorstellung nicht ertragen, dass Marc mit der jungen Frau vielleicht sogar das Bett teilt. Als Gloria erneut spurlos verschwindet, verdächtigt Marc sogar seinen besten Freund, etwas damit zu tun zu haben …
Seit dem Durchbruch mit seinem dritten Roman „37,2° am Morgen“ (1985) haben es dem französischen Autor Philippe Djian vor allem die Lebenskünstler angetan, die unter Drogen- und Alkoholeinfluss ihre Schreibblockaden, emotionalen Irrungen und Wirrungen und vorwiegend sexuellen Leidenschaften in den Griff zu bekommen versuchen. Daran hat sich auch ein Vierteljahrhundert später nicht viel verändert. Wie in vielen seiner Werke funktioniert auch in Djians „Wie die wilden Tiere“ der Ich-Erzähler Marc nur in der Ausübung seiner Kunst, scheitert aber kläglich auf sozialem Terrain. In dieser Hinsicht bietet „Wie die wilden Tiere“ wenig Neues. Das Setting ist ganz vertraut, die Geschichte geht schon mal merkwürdige, nicht immer nachvollziehbare Wege, der Ton ist von Djian-typischer Deutlichkeit, der Stil unverblümt und rasant. Große psychologische Einsichten in die einzelnen Figuren darf man auf den gut 220 Seiten ebenso wenig erwarten wie überraschende Wendungen und Erkenntnisse. Das ist trotz des hohen Tempos nicht wirklich berauschend, aber ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet auch dieses kleine Buch allemal. Leseprobe Philippe Djian - "Wie die wilden Tiere"