Robert Ludlum, Eric Van Lustbader – “Der Bourne Verrat”

Sonntag, 6. April 2014

(Heyne, 543 S., HC)
Gerade als Jason Bourne im schwedischen Sadelöga von Christien Norén beim Angeln über die Aktivitäten auf den Stand gebracht wird, die seine Pläne mit Don Fernando Herrera betreffen, taucht ein menschlicher Körper aus dem Wasser auf, der sich ähnlich wie Bourne damals an nichts erinnern kann. Wie sich herausstellt, war die Mossad-Agentin Rebekka hinter dem Unbekannten her, der selbst mehrere Agenten-Identitäten in sich zu vereinen scheint.
Währenddessen ist US-Verteidigungsminister Christopher Hendricks einer hochtechnisierten Bedrohung auf der Spur, auf die er das Treadstone-Projekt unter Leitung der beiden Direktoren Peter Marks und Soraya Moore sowie den IT-Experten Dick Richards ansetzt. Richards soll eine fast mythische Figur namens Nicodemo ausfindig machen, der vor zehn Jahren aus dem Nichts aufgetaucht ist und für den multinationalen Konzern Core Energy tätig gewesen ist, das sich zum führenden Unternehmen im boomenden Energiemarkt entwickelte. Norén und Don Fernando vermuten, dass Core Energy kurz vor dem Abschluss eines Deals steht, der dem Unternehmen einen enormen Vorsprung auf dem Markt für neue Energien verschaffen würde. Sie haben bereits mehrere Minen mit seltenen Erden aufgekauft. Während Tom Brick die Gesellschaft in der Öffentlichkeit vertritt, vermutet Don Fernando, dass Brick seine Anweisungen von Nicodemo erhält, der außerhalb des Gesetzes agieren könnte und so zu einer ganz neuen Art von Terroristen zählen würde. Schließlich könnte es sich keine schlagkräftige Armee der Welt leisten, auf Waffen zurückzugreifen, die nicht mit seltenen Erden hergestellt werden. Hier kommen sowohl der Mossad als auch der chinesische Minister Ouyang ins Spiel, die vor dem Abschluss ihres Deals allerdings noch eine Hürde nehmen müssen, nämlich Jason Bourne auszuschalten. An anderer Front sorgt Dick Richards innerhalb der Treadstone-Mauern dafür, seiner Organisation von innen heraus einen schweren Schlag zu versetzen …
„In den Regierungsbehörden konnte man nichts erreichen. Andere ernteten die Lorbeeren für seine Arbeit, die er für ein bescheidenes Gehalt leistete. Der Präsident behandelte ihn wie einen Hund, der gelegentlich gestreichelt, aber ansonsten an der kurzen Leine gehalten wurde. Soraya und zum Teil auch Peter begegneten ihm misstrauisch und herablassend. Ihnen konnte er es nicht einmal verübeln – schließlich war er bei Treadstone, um sie auszuspionieren. Immerhin schienen sie bereit zu sein, seine Arbeit zu würdigen, falls er sich als loyal erwies.“ (S. 389) 
Wer die Agenten-Thriller des 2001 verstorbenen Bestseller-Autors Robert Ludlum kennt, weiß um den turbulenten Start in seinen Romanen ebenso wie um den verschachtelten Aufbau seiner Geschichten. „Der Bourne Verrat“ besticht zwar durch einen furiosen Start, doch braucht der Leser etwas Geduld, um durch die oft nur kurz angerissenen, insgesamt recht komplexen Handlungsstränge durchzusteigen. Ludlum und sein Erbe Van Lustbader machen sich nicht die Mühe, ihre Figuren sorgfältig einzuführen. Oft genug wird der Hintergrund ihrer Tätigkeiten erst im Verlauf der weiteren Handlung erklärt. Wer sich von diesen Defiziten aber nicht abschrecken lässt, bekommt gewohnt solide Agenten-Action geboten, in der die Protagonisten quer über alle Kontinente aktiv sind, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen.
Leseprobe Robert Ludlum/Eric Van Lustbader - "Der Bourne Verrat"

Tomi Ungerer – „Babylon“

Freitag, 4. April 2014

(Diogenes, 112 S., Klappenbroschur im Großformat)
Seit der 1931 in Straßburg geborene Tomi Ungerer Mitte der 50er Jahre in New York den Grundstein für seine Karriere als international gefeierter wie gefürchteter Zeichner, Maler, Schriftsteller und Werbegrafiker legte, ist ein umfangreiches Werk entstanden, das sich ganz unterschiedlichen Themen widmete. Nach dem durchschlagenden Erfolg seines ersten illustrierten Kinderbuchs „The Mellops go flying“ (1957) spielte der von dem Cartoonisten Saul Steinberg und Zeichner James Thurber inspirierte Ungerer mit einer Vielzahl von zeichnerischen Stilen und schockierte die Kunstszene Mitte der 60er Jahre mit den Cartoonbänden „Geheimes Skizzenbuch“ und „The Party“, in denen er auf drastisch-satirische Weise mit der New Yorker Schickeria abrechnete.
Während der Künstler in seinen einfühlsam erzählten Kinderbüchern immer wieder für die Eigenständigkeit, Neugierde und Selbstverwirklichung von Kindern eintrat, stellte er auf der anderen Seite regelmäßig den Potenzwahn und die Gier in der vermeintlich zivilisierten Erwachsenenwelt zur Schau, wobei er vor allem die Mechanisierung sexueller Wünsche in den Vordergrund stellte.
Auch in „Babylon“, dem erstmals 1979 von Diogenes veröffentlichten Band mit Zeichnungen, die so faszinierend wie schockierend zugleich sind, blickt Ungerer tief in die Abgründe der menschlichen Seele und offenbart mit kundigen Strichen die bis ins hohe Alter ungehemmte Sexlust, die bei Ungerer selbst mit dem Tod kokettiert, das Groteske menschlicher Sehnsüchte nach Macht und Anerkennung und Zurschaustellung bürgerlicher Statussymbole.
„Bilder wie Atommüll, Karikaturen einer Welt, die sich selbst karikiert, Karikaturen im Quadrat, Karikaturen hoch zwei. Hieroglyphen des Schreckens: ›Und sieh! Und sieh! An weißer Wand, da kam's hervor wie Menschenhand; und schrieb, und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.‹ Was der Prophet Daniel dem König von Babylon deutete: dessen Zukunft, deutet Ungerer uns: unsere Zukunft. Sie erscheint auf seinen Blättern ... Den Mut, die folgenden Seiten zu betrachten, musst du, lieber Leser und Kunstfreund, nun aufbringen. Auch du bist ein Zeitgenosse. Ich weiß, es macht keinen Spaß. Möglicherweise wirst du ein Kunstfeind dabei. Werde es. Die Kunst hat heute ohnehin zu viele falsche Freunde. Aber die Zeit, bei der einem der Spaß vergeht, ist keine verlorene Zeit. Man kommt vielleicht in ihr drauf, dass Nachdenken eine Beschäftigung ist, die wir als Zeitgenossen unserer selbst und der anderen Ratten dieses Planeten bitter nötig haben“, schreibt Friedrich Dürrenmatt („Der Richter und sein Henker“) in dem Vorwort zu „Babylon“ und warnt den geneigten Betrachter schon mal vor, was ihn erwartet, nämlich alles andere als leicht verdauliche und erbauliche Kost.  
Ungerer erweist sich in „Babylon“ einmal mehr als ein Meister des Abgründigen, als Künstler, der seine fast schon apokalyptischen Visionen mit pointierten wie fein geschwungenen Linien auf den Punkt bringt.

John Grisham – „Die Erbin“

(Heyne, 702 S., HC)
Der schwer an Lungenkrebs erkrankte Unternehmer Seth Hubbard hat sein Ende sorgfältig vorbereitet. Bevor er sich an einem Freitagnachmittag in einem Baum erhängte, setzte der zurückgezogen lebende Hubbard ein handschriftschriftliches Testament auf, mit dem er sein vorangegangen verfasstes und in der Kanzlei Rush in Tupelo hinterlegtes widerruft und seine schwarze Haushälterin Lettie Lang quasi als Alleinerbin über mutmaßlich mehr als zwanzig Millionen Dollar einsetzt.
Als der Kleinstadtanwalt Jack Brigance am folgenden Montag per Post Hubbards letzten Willen zugestellt bekommt und ihn als Nachlassverwalter einsetzt, ahnt er bereits, dass ihm ein langwieriger Prozess bevorsteht. Denn Hubbards Kinder und Enkel, die Zeit ihres Lebens kaum Kontakt zum Toten gepflegt haben, werden das neue Testament natürlich anfechten. Doch Brigance ist nicht nur damit beschäftigt, sich gegen ein Heer von Anwälten zu behaupten, die sich nicht nur um Hubbards Familienangehörige scharen, sondern auch Lettie Lang ihre Dienste anbieten wollen. Sie alle wollen natürlich ein großes Stück vom Kuchen abhaben.
Doch Jake hat noch an einer anderen Front zu kämpfen. 1985 hat er einen spektakulären Prozess gewonnen, bei dem er den Schwarzen Carl Lee Hailey verteidigte, der die beiden Weißen erschoss, die seine Tochter vergewaltigten und zu töten versuchten, und einen Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit erwirkt. Mitglieder des Ku-Klux-Clans brannten während des Verfahrens das Haus der Familie Brigance nieder, doch nur vier der Täter mussten dafür ins Gefängnis. Ihr Anführer Dennis Yawkey wird nun völlig überraschend auf Bewährung freigelassen und hat mit Brigance noch eine Rechnung zu begleichen. Vor Gericht bringen Jake und sein Kontrahent Wade Lanier, der die Hubbard-Kinder vertritt, ihre Geschütze in Stellung. Während Laniers Trupp von Helfershelfern alles daran setzt zu beweisen, dass der Verstorbene nicht testierfähig gewesen ist, forscht Letties Tochter Portia in der Familiengeschichte.
„Es konnte durchaus sein, dass es Zeitverschwendung war, in der Vergangenheit herumzuwühlen, aber es war eine faszinierende Suche. Lucien war besessen von dem Puzzle. Er war fest davon überzeugt, dass es für das, was Seth Hubbard getan hatte, einen Grund gab. Aber der Grund war weder Sex noch Freundschaft. Portia hatte das Gespräch mit ihrer Mutter gesucht und ihr mit allem Respekt und aller Wertschätzung, die sie aufbringen konnte, die entscheidende Frage gestellt. Nein, hatte Lettie geantwortet. Nie. Es sei nie in Erwägung gezogen worden, jedenfalls nicht ihrerseits. Es sei nie darüber gesprochen worden, es sei nie in Frage gekommen. Nie.“ (S. 396f.) 
Tatsächlich tragen Portias Recherchemühen bald Früchte, was einen weiteren, unerwarteten Familienangehörigen auf den Plan bringt und dem Prozess die entscheidende Wendung verleiht.
Niemand vermag Justiz-Thriller so flott und packend zu schreiben wie John Grisham, der sich in seinen Romanen immer wieder auf die Seite der vermeintlich Schwachen schlägt, die sich mit aufopferungsvoll kämpfenden Anwälten ihr Recht auch gegen mächtige Großkonzerne erkämpfen. Dieser Aspekt spielt in Grishams neuen Roman „Die Erbin“ nur eine untergeordnete Rolle. Zwar geht es auch hier um viel Geld, aber im Vordergrund steht eindeutig die Rassenfrage, wo der Autor nahtlos an „Die Jury“ und den Hailey-Prozess anknüpft, der auch hier immer wieder thematisiert wird. Äußerst lebendig beschreibt Grisham, wie all die Anwälte sich bemühen, ihren Teil vom üppigen Kuchen zu bekommen, wie sie Zeugen ausfindig machen und ihre Strategien ausarbeiten. Daneben bringt Grisham immer neue Nebenschauplätze ins Spiel, von denen einige sich irgendwann im Nichts auflösen, andere wiederum prozessentscheidend werden.
So spannend Grisham diesen spektakulären Fall auch erzählt, sind seine Sympathien schnell offenkundig, was ihn selbst dazu verleitet, vor allem Jake und seine Ambitionen im strahlendsten Licht erscheinen zu lassen. Davon abgesehen bietet „Die Erbin“ einfach schnörkellos packenden Thriller-Stoff, den man nicht eher aus der Hand legt, bis die Geschworenen ihr Urteil gesprochen haben.
Leseprobe John Grisham - "Die Erbin"

Richard Laymon – „Die Klinge“

Sonntag, 30. März 2014

(Heyne, 411 S., Tb.)
Sein Date mit Betty hat sich Albert etwas anders vorgestellt. Nachdem er sie zum Kino eingeladen hatte, war er natürlich davon ausgegangen, dass sie ihm auch anderweitig zur Verfügung stehen würde, doch als es zur Sache geht, verlangt das Mädchen zwanzig Dollar, die Albert nach dem Kino nicht mehr hat. Seinen Frust lässt der junge Mann an einem vorüberlaufenden Hund aus, den er brutal ersticht.
Um die zwanzig Dollar für Betty aufzubringen, bricht er bei den Braxtons ein und vergeht sich an der Frau, wobei einmal mehr sein Messer zum Einsatz kommt. So zieht Albert durch die Staaten, nistet sich in verschiedenen Häusern ein, tötet deren Bewohner und verlustiert sich mit den attraktiveren Frauen.
„Sie humpelte langsam durch den Flur, die Treppe hinab und durch den anderen Flur zur Küche. Albert genoss es, ihr beim Laufen zuzusehen. Er hatte schon viele Frauen von hinten beobachtet. Frauen in Röcken, unter denen man die Beine fast bis zum Schritt sehen konnte; Frauen in Hosen, die wie Röcke aussahen, jedoch zwischen den Schenkeln verbunden waren; Frauen in so weiten Shorts, dass man wahrscheinlich alles sehen konnte, wenn man durch die Hosenbeine blickte; Frauen in winzigen Shorts, die sich eng an die Hinterbacken schmiegten und blasse Halbmonde freiließen; Frauen in weiten Cordhosen oder Jeans; andere in Hosen, die so eng waren, dass sich die Unterwäsche darunter abzeichnete – oder eben nicht, was noch besser war. Immer mit offensichtlicher Nacktheit darunter. Immer der Drang, eine Hand unter den Rock oder in den Bund der Hose zu schieben. Immer der Drang, aber nie die Möglichkeit. Bis jetzt.“ (S. 142f.) 
In Kalifornien kommt es bei einer Halloween-Party zum großen Showdown. Hier versammeln sich vor allem Lehrkräfte, die alle ihre eigenen Probleme haben. Während eine Lehrerin eine Affäre mit einem ihrer Schüler unterhält, will die Aushilfskraft Janet einen guten Eindruck hinterlassen, um eine Festanstellung zu bekommen, andere sind miteinander verbandelt und verkracht, so dass hinter all den Masken und Kostümen auch ein gehöriges Maß an Wut, Enttäuschung, Angst, Hoffnung und Begierde schlummert – ideale Voraussetzungen für Albert, um seinen Blutrausch auszuleben …
Der 1999 in den USA veröffentlichte Horror-Thriller „Die Klinge“ zählt zu den letzten Werken des 2001 an einem Herzinfarkt verstorbenen Schriftstellers Richard Laymon, der mit Romanen wie „Rache“, „Die Insel“ und „Die Jagd“ bemerkenswerte Beiträge zum Horror-Genre geleistet hat. In „Die Klinge“ bleibt er seinem charakteristischen Stil treu und lässt einen psychopathischen Mörder in seiner Wut auf das weibliche Geschlecht wild durch das Land metzeln. Dass dabei natürlich nicht nur viel Blut fließt, sondern auch brutale Sexphantasien beflügelt werden, gehört bei Laymon natürlich dazu. Allerdings bleibt dabei die Qualität der Story auf der Strecke. Im Gegensatz zu früheren Werken, in denen von Beginn an ein starker Spannungsbogen aufgebaut wurde, kommt bei „Die Klinge“ durch die vielen Erzählstränge nicht die übliche Nähe zu den Figuren auf.
So bleibt der Roman ein eher durchschnittlicher Gewaltporno, in dem ein einzelnes frustrierendes Sexerlebnis für die psychopathischen Züge der Hauptfigur herhalten muss und sich die vielen Nebenfiguren eher unscheinbar durch die Nöte und Sehnsüchte des Alltags und Liebeslebens quälen.
Leseprobe Richard Laymon - "Die Klinge"

Robin Sloan – „Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra“

Sonntag, 16. März 2014

(Blessing, 351 S., HC)
Auf der Suche nach einem neuen Job hat der Webdesigner Clay Jannon seine Ansprüche mit der Zeit ziemlich heruntergeschraubt und blättert auf seinem Laptop mittlerweile auch die „Aushilfe gesucht“-Anzeigen durch. Dabei stößt er eines Tages auf die etwas kuriose Annonce der durchgehend geöffneten Buchhandlung Penumbra: „Aushilfe gesucht – Spätschicht – Spezielle Anforderungen – Gute Zusatzleistungen“. Als sich Clay in der Buchhandlung vorstellt, wird von ihm vor allem verlangt, sich auf der Leiter geschickt zwischen den ungewöhnlich hohen Regalen bewegen zu können.
In der Nachtschicht von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens kommt sich der junge Mann allerdings eher wie ein Nachtwächter vor als wie ein Verkäufer, denn der Kundenandrang hält sich doch arg in Grenzen. Dabei fällt Clay schnell auf, dass neben den gewöhnlichen Buchhandelskunden ein zweiter Kundenstamm Penumbras Buchhandlung frequentiert, ältere Leute, die Bücher nur ausleihen. Clay hat diesen besonderen Mitgliedern die gewünschten Werke auszuhändigen und muss die Transaktionen genauestens protokollieren, ein Durchblättern oder Lesen der Bücher ist ihm nicht gestattet. Als eines Nachts ein Mann namens Corvina in der Buchhandlung auftaucht, ist Penumbra ganz aus dem Häuschen, schließt kurzerhand den Laden und verschwindet spurlos. Zusammen mit seiner bei Google arbeitenden neuen Freundin Kat, seinem alten Unternehmer-Kumpel Neel und Penumbras Vertrauten einer Geheimgesellschaft namens Der Ungebrochene Buchrücken macht sich Clay an die Lösung eines alten Rätsels, dessen Ursprung in den Anfängen des Buchdrucks liegt.
„Der Ungebrochene Buchrücken. Ungebrochen, das klingt nach einer Gruppe von Attentätern, nicht nach ein paar Buchliebhabern. Was spielt sich in dem Gebäude ab? Gibt es sexuelle Fetische, bei denen Bücher eine Rolle spielen? Bestimmt. Ich versuche mir nicht vorzustellen, wie das vonstattenginge. Müssen die Ungebrochenen einen Mitgliedsbeitrag zahlen? Wahrscheinlich sogar einen hohen. Wahrscheinlich machen sie teure Kreuzfahrten. Ich mache mir Sorgen um Penumbra. Er steckt so tief da drin, dass ihm gar nicht klar ist, wie seltsam das Ganze ist.“ (S. 157) 
Mit seinem Debütroman „Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra“ hat der in San Francisco lebende Autor Robin Sloan Umberto Ecos Setting des mittelalterlichen „Der Name der Rose“ auf witzige Weise in die Neuzeit verlegt und die Geheimnisse, die das Verfassen, Übersetzen, Drucken und Beherbergen von Buchschätzen seit Beginn der Buchdruck-Ära immer mit sich gebracht haben, mit den grenzenlosen Möglichkeiten weltumspannenden Internets verknüpft.
Bei Sloan trifft sich das vertraute Flair alteingesessener Buchhandlungen mit dem modernen Schick eines dynamisch wachsenden Google- Campus, der mittelalterliche Foliant mit der neuesten E-Book-Reader-Generation, der Hüter alten Wissens mit dem international agierenden Hacker. Wie Sloan seine sympathischen Protagonisten dabei durch die Geschichte des Buchdrucks und die Errungenschaften des Internets jagen lässt, ist ebenso humorvoll wie kurzweilig geschrieben, wartet mit schönen Wendungen auf und mündet in einem herrlich turbulenten Finale. Liebhaber bibliophiler Rätsel dürften an diesem Roman ebenso viel Freude haben wie die moderne E-Book-Generation.
Leseprobe Robin Sloan- "Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra"

Irvine Welsh – „Skagboys“

Mittwoch, 5. März 2014

(Heyne, 832 S., HC)
Mit seinem erfolgreich von Danny Boyle verfilmten Romandebüt „Trainspotting“ (1993) wurde der schottische Schriftsteller Irvine Welsh weltberühmt, konnte aber mit seinen nachfolgenden Werken nicht mehr an den rauen wie authentischen Ton seines Erstlings anknüpfen. Zwar versuchte sich der mittlerweile in Chicago lebende Autor 2002 mit „Porno“ an einem Sequel, doch erst mit dem jetzt erschienenen Prequel „Skagboys“ kehrt Welsh zu alten Qualitäten zurück, wenn er in epischer Länge rekapituliert, wie die Junkies aus „Trainspotting“ zu dem wurden, was sie sind.
Die alten Bekannten Mark "Rents" Renton, Simon "Sick Boy" Williamson, David "Scruffy" Murphy, Francis "Franco" Begbie und weitere Figuren aus ihrem Umfeld beschreiben im Wechsel als Ich-Erzähler ihre verzweifelten Versuche, im sozialen Brachland des Thatcher-Regimes Anfang der 80er irgendwie klarzukommen. Die besten Chancen auf einen sozialen Aufstieg hat Mark Renton mit guten Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluss an der Universität und einer netten Freundin. Doch als sein behinderter kleiner Bruder Davie stirbt, sind die Träume von einer besseren Zukunft nur noch Schall und Rauch. Ebenso wie seine arbeitslosen Kumpels in Leith hangelt sich Rents von einem Trip zum anderen, bis sie durch den Raub einer Spendenbüchse vor die Wahl gestellt werden, in den Knast zu wandern oder an einer Reha-Maßnahme teilzunehmen. „Eigentlich hätte ich jetzt schon einen Uniabschluss und wäre mit einem wunderschönen Mädchen verlobt! Aye, sicher könnte ich die Sucht weiter als Krankheit ansehen und auf der Grundlage des medizinischen Suchtmodells argumentieren, aber nachdem ich die Entgiftung geschafft hab, bin ich nun offiziell nicht mehr physisch abhängig. Das Problem: Im Moment sehne ich mich stärker denn je danach und auch nach der damit einhergehenden sozialen Komponente – der Deal, das Aufkochen, das Spritzen, das Abhängen mit den anderen abgefuckten Gestalten … nachts wie ein untoter Vampir durch die Gegend latschen, hin zu den schmuddligen Wohnungen in den schäbigsten Teilen der Stadt, um dort mit den anderen durchgeknallten Losern, die ihr Leben genauso wenig in den Griff bekommen wie ich, ohne Ende Dünnschiss zu labern“, schreibt Rents in sein Reha-Journal. „Ich weiß, dass das Zeug mein Leben zerstört, aber ich brauche es. Ich bin nicht bereit, aufzuhören.“ (S. 703f.) Irvine Welsh ist ein Meister darin, in der Sprache seiner Skagboys die sozialen Abgründe aufzuzeigen, die der Thatcherismus in den 80ern heraufbeschworen hat, und zeichnet authentisch das Lebensgefühl einer Generation nach, die nie in den Genuss kommen sollten, dass die Versprechen von Arbeit und Wohlstand eingelöst wurden. Dabei nimmt Welsh absolut kein Blatt vor den Mund und entfesselt in unverblümtem Slang kuriose Aktionen wie das Wettkacken am Montag, sexuelle Phantasien und Seitensprünge sowie den Wunsch, all das Elend zu vergessen, das in den Sozialbaugegenden in Edinburgh herrscht. Diese Schilderungen sind manchmal etwas lang geraten, aber voll drastischer Humoreinlagen und tiefer Einsichten in die sozialen Befindlichkeiten der britischen Thatcher-Ära. Lesen Sie im Buch: Welsh, Irvine - Skagboys

Simon Beckett – „Der Hof“

Sonntag, 9. Februar 2014

(Wunderlich, 460 S., HC)
Mit seinen David-Hunter-Romanen „Chemie des Todes“, „Kalte Asche“, „Leichenblässe“ und „Verwesung“ hat der englische Autor Simon Beckett weltweit eine enorme Fangemeinde gewinnen können. Doch bevor die Leser ein neues Abenteuer von dem forensischen Pathologen mit romantischen Neigungen präsentiert bekommen, überrascht Beckett mit einem packenden Psychothriller der etwas anderen Art.
Ein Mann auf der Flucht. Als dem Audi das Benzin auszugehen droht, lenkt er den Wagen in einen Feldweg, entfernt die britischen Nummernschilder und wirft sein Handy ins Feld. Er fährt per Anhalter weiter, es wird französisch gesprochen. Nach einem kleinen Imbiss in der nächsten Kleinstadt wandert der Mann weiter und landet auf einem abgelegenen Hof, wo er um Wasser bittet. Als er im Wald in eine Tierfalle tritt, wird er zurück zum Hof gebracht, der von dem herrischen Arnaud und seiner Tochter Mathilde bewirtschaftet wird. Der Mann namens Sean wird gesundgepflegt, dann bekommt er das Angebot, auf dem Hof auszuhelfen, bis er den Drang verspürt weiterzuziehen. Sean nimmt den Job, Ausbesserungsarbeiten an einem Gebäude zu übernehmen an, weil er sich hier sicher vor der Polizei wähnt. Doch die Art, wie Arnaud, Mathilde und ihre kokette Tochter Gretchen miteinander umgehen, wie die Stadtbewohner auf Arnaud reagieren, macht Sean neugierig. Je länger er auf dem Hof bleibt, desto unheimlicher erscheinen ihm die Geschichten, die ihm zugetragen werden. Und was hat es mit dem Vater von Mathildes Sohn auf sich, der zuletzt in Lyon gesehen worden ist und seitdem als vermisst gilt?
„… ich bin inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass dieser Hof unliebsame Ereignisse einfach absorbiert und sich darüber schließt wie das Wasser um die Steine, die ich in den See werfe. Ein paar Wellen breiten sich kreisförmig aus, danach ist alles wieder ruhig.“ (S. 223) 
Von Beginn an versteht es Simon Beckett, mit seinem neuen Roman einen unheimlichen Sog der Spannung zu erzeugen. Was sich zunächst auf Seans Geschichte bezieht, die nach und nach in einzelnen Kapiteln aufgerollt wird, die die vorangegangenen Geschehnisse in London rekapitulieren, weitet sich schließlich auf das Geschehen auf dem Hof im ländlichen Frankreich aus. Geschickt spielt Beckett hier mit dem geheimnisvollen Figurenensemble, dessen Beziehungsgeflecht nie ganz zu durchschauen ist. Interessant ist dabei vor allem die erotische Spannung herausgearbeitet, die sich zwischen Sean und der aufdringlichen Gretchen einerseits und Sean und der zurückhaltenden, ganz um das Wohl der Familie besorgten Mathilde entwickelt. Die psychologische Feinsinnigkeit, mit der Beckett hier unterwegs ist, reicht allein schon aus, „Der Hof“ zu einer äußerst spannenden Lektüre zu machen, aber die zu lösenden Rätsel und das Auffinden verschwundener Personen sorgen darüber hinaus für den Thriller-Nervenkitzel, für den der Bestseller-Autor berühmt ist.
Mit sprachlicher Virtuosität und einer komplexen Anordnung psychologischer Profile ist mit „Der Hof“ ein Pageturner entstanden, der lange nachwirkt.
Leseprobe Simon Beckett - "Der Hof"