John Niven – „Straight White Male“

Samstag, 31. Mai 2014

(Heyne, 384 S., Pb.)
Der gefeierte irische Roman- und Drehbuchautor Kennedy Marr bekommt immer wieder Schwierigkeiten, weil der in Hollywood zwischen den Reichen und Schönen lebende Mittvierziger seinen Schwanz nicht in der Hose lassen kann. Das hat ihn bereits zwei Ehen gekostet und ihm nun ein paar Therapiesitzungen bei Dr. Brendle eingebrockt, weil er sich im Powerhouse mit dem Freund seinem gerade auserkorenen Opfer prügeln musste. Auch sonst sieht es bei dem erfolgsverwöhnten Schwerenöter nicht besonders rosig aus, weil er mehr Geld ausgibt, als durch seine Drehbücher und Überarbeitungen hereinkommt.
Als die Bundessteuerbehörde auf die Zahlung von 1,4 Millionen Dollar pocht, hecken Kennedys Agenten einen Plan aus, der nicht nur auf die Reduzierung seiner immensen Ausgaben abzielt, sondern auch die Erledigung etlicher Aufträge vorsieht, mit denen Kennedy arg im Verzug ist. Da kommt die Nachricht, dass Kennedy in London für den F. W. Bingham Award nominiert ist, wie ein Segen. Allerdings erhält er die steuerfreien 500.000 Pfund nur, wenn er ein Semester lang einen Kurs in „Kreatives Schreiben“ unterrichtet, was der Universität von Deeping wiederum eine bessere Reputation verschaffen soll. Allerdings unterrichtet dort auch Kennedys Ex-Frau Millie, die dort mit der gemeinsamen Tochter Robin lebt. Doch schon auf dem Flug nach England verwickelt sich Kennedy in eine schlagzeilenträchtige Schlägerei und jagt an seiner neuen Wirkungsstätte weiterhin jedem Rock nach, strapaziert über Gebühr seine Leber und legt sich mit der Crew an, die gerade Teile des Films in England dreht, zu dem Kennedy das Drehbuch verfasst hat. Gerade von Millie wird er auf seinen unsteten Lebenswandel angesprochen, der ihn von seiner ganzen Familie entfremdet hat.
„Auf dem Papier, dachte er zum zigsten Mal, sollte doch eigentlich alles gut sein. Eigentlich müsste doch alles prima für ihn laufen. Viel Geld, ein interessanter, glamouröser Job und haufenweise begehrenswerte Frauen, die sich zu ihm hingezogen fühlten. Und dennoch schien er in einer sehr überzeugenden Reproduktion der Hölle gelandet zu sein. Offenbar hatte er ein ausgeprägtes Interesse daran, ja, er befand sich auf einer regelrecht fanatischen Mission, sein Leben so schwierig wie irgend möglich zu gestalten. Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass man zu Sex auch Nein sagen kann? Kennedy dachte ernsthaft über diese Frage nach. Hatte er tatsächlich jemals einen Fick abgelehnt? Irgendwann musste er das doch sicher mal getan haben? O ja, damals … obwohl … eine Chance verstreichen zu lassen, weil sich dadurch eine bessere ergab, zählte vermutlich nicht.“ (S. 274f.) 
Als gelegentlicher Drehbuchautor (u.a. zur Verfilmung seines eigenen Bestsellers „Kill Your Friends“) hat der britische Autor John Niven sicher eine mehr als ungefähre Vorstellung davon, wie es im Filmbusiness läuft. In seinem neuen Roman „Straight White Male“ lässt Niven seinen Protagonisten alle Höhen und Tiefen des Starruhms durchleben.
Kennedy Marr ist mit wenigen Bestsellern und Drehbüchern ein schwerreicher Mann geworden, der nicht nur sein Geld für teure Klamotten, exklusives Essen und Partys herausschleudert, sondern auch Verachtung für fast jeden empfindet, der meint, seine Drehbücher bedürfen einer Überarbeitung. Wie Kennedy sich durch die aufgeblasene Hollywood-Szene flucht, säuft und bumst, macht einfach höllisch Spaß. Er teilt mächtig aus, muss aber wenig einstecken. Erst als sein ruinöser finanzieller Zustand einen längeren Aufenthalt in seiner alten Heimat erfordert, muss sich der gefeierte Autor den Dämonen seiner Vergangenheit stellen und sich mit seiner Familie aussöhnen, die ganz alltägliche Probleme zu bewältigen hat.
Obwohl „Straight White Male“ vor Testosteron nur so übersprüht und ungemein witzig geschrieben ist, machen sich vor allem im letzten Drittel auch nachdenkliche und tiefsinnige Töne breit, die den Roman auf ein neues Level heben. Am Ende macht Nivens Anti-Held eine bemerkenswerte Wandlung durch, die keinen Leser unberührt lassen dürfte.
Leseprobe John Niven "Straight White Male"

Jack Ketchum – „Lebendig“

Montag, 26. Mai 2014

(Heyne, 224 S., Tb.)
Auf dem Weg zur einzigen noch auf der West Side von New York übrig gebliebenen Abtreibungsklinik wird die schwangere Sara von den Abtreibungsgegnern Stephen und Kath direkt vor der Klinik entführt, während ihr Geliebter Greg noch einen Parkplatz sucht. Als Sara aufwacht, befindet sie sich in einer sargähnlichen Kiste, doch das bedeutet erst den Anfang ihres Martyriums.
Wie Stephen und Kath ihr mitteilen, gehören sie der einflussreichen „Organisation“ an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, todgeweihte Kinder davor zu retten, von gottlosen Müttern abgetrieben zu werden. Das kinderlose Paar droht Sara damit, dass die Organisation ihre gesamt Familie zu Schaden kommen lässt, sollte sie einen Fluchtversuch unternehmen. Vor allem Stephen scheint daran Gefallen zu finden, die Gefangene nicht nur auszupeitschen, sondern sich immer neue Arten einfallen zu lassen, Sara zu quälen. Neben den üblichen sexuellen Demütigungen erfindet er immer neue Techniken und Instrumente, ihr unvorstellbare Qualen zuzufügen.
„Sie würde hier alt werden. Das Baby dagegen wuchs allmählich heran. Ihr süßes kleines Mädchen. Das sie hatte umbringen wollen. Nein, verdammt noch mal, das war seine Masche. Eine Abtreibung war der Beweis dafür, dass sie, Sara Foster, Herrin über ihren Körper war. Mit ihrem freien Willen eine Entscheidung über ihr Schicksal treffen konnte. Dieser allumfassende, aufgezwungene Kontrollverlust dagegen, der so weit reichte, dass sie nicht mal mehr pinkeln konnte, ohne sich selbst dabei zu beschmutzen, und nur mit seiner Erlaubnis essen oder trinken durfte – das kam einem Mord schon viel näher. Man konnte eine Persönlichkeit, eine Identität ebenso töten wie einen menschlichen Körper.“ (S. 117f.) 
Mit gerade mal 180 Seiten stellt die ursprünglich 1998 veröffentlichte Geschichte „Right to Life“ eine der kürzesten Werke aus dem Schaffen des amerikanischen Autors Dallas Mayr alias Jack Ketchum dar, weshalb der Heyne Verlag in der deutschen Erstausgabe als Bonus noch die beiden Kurzgeschichten „Tapferes Mädchen“ und „Rückkehr“ (beide von 2002) und ein Werkverzeichnis der bislang bei Heyne erschienenen Romane des kompromisslosen Horror-Schriftstellers angehängt hat.
Während die beiden Kurzgeschichten längst nicht Ketchums eigentliche Stärken ausspielen, nämlich die packend-raffinierte Beschreibung von Extremsituationen, in denen seine ProtagonistInnen geraten, schildert „Lebendig“ zunächst ein recht konventionelles Entführungs- und Folter-Szenario mit Ketchum-typischer Drastik, bevor es psychologisch interessant wird, und zwar nicht wie erwartet auf der Opfer-Täter-Ebene, sondern vor allem in der Beziehung des Täterpaars zueinander. Natürlich beschreibt Ketchum das Foltern in einer expliziten Deutlichkeit, die Horror-Fans anspricht, aber faszinierend ist „Lebendig“ vor allem durch die psychologische Dimension, die sich zwischen den Beteiligten entwickelt.
Leseprobe Jack Ketchum "Lebendig"

David Guterson – „Der Andere“

Freitag, 23. Mai 2014

(Hoffmann und Campe, 352 S., HC)
Der 16-jährige Neil Countryman aus Seattle besucht 1972 die Roosevelt Highschool im Norden der Stadt und hat sich in der Nische der 800-Meter-Läufer eingerichtet, wo man weder schnell sein noch die Ausdauer eines Langstreckenläufers besitzen muss. Bei einem Wettkampf gegen die Eliteschule Lakeside lernt er John William Barry kennen und freundet sich mit ihm an. Obwohl sie aus verschiedenen Welten stammen, entdecken sie schnell Gemeinsamkeiten. Sie fischen Münzen aus dem Brunnenam Pacific Science Center, rauchen Dope und wandern in die Berge, wobei sie über Literatur und Philosophie diskutieren.
Aus diesen oft mehrtägigen Exkursionen wird bald mehr, zumindest für John. Während Neil als junger Erwachsener eine Karriere als Englischlehrer verfolgt und eine Familie gründet, wendet sich John von der Welt ab und zieht ins Tal des South Fork Hoh, wo er sich eine Höhle einrichtet und wie ein Eremit zu leben beginnt. Neil Countryman besucht ihn regelmäßig, versorgt seinen Freund mit Konserven und Toilettenpapier.
„In meiner Erinnerung sehe ich John William in seinem Gartenstuhl sitzen, barfuß, mit Bart, die Haare im Gesicht und vorsichtig neues Feuerholz nachlegend. Und ich erinnere mich, dass wir unsere Joints in eine Haarnadel klemmten, die ein früherer Bewohner dieser modrigen Bruchbude im Teppichflor verloren und die John William gefunden und aufbewahrt hatte. Ein College-Student, der aussteigt und barfuß in einem Wohnmobil lebt, ein vom Schicksal Begünstigter, der die Einfachheit sucht.“ (S. 154 f.) 
David Guterson, der gleich mit seinem erfolgreich verfilmten Debütroman „Schnee, der auf Zedern fällt“ international berühmt wurde, schildert in seinem neuen Roman die außergewöhnliche Freundschaft zwischen zwei ganz unterschiedlichen jungen Männern, die nicht nur aus verschiedenen Gesellschaftsschichten stammen, sondern auch ihre eigenen Lebensentwürfe verfolgen, die recht wenig gemein haben. Aber wie Guterson seinen Ich-Erzähler Neil einmal sagen lässt: „In einer Freundschaft ändert man weniger eigenständig die Bedingungen, als dass man dabei zusieht, wie die Bedingungen sich ändern.“
„Der Andere“ liest sich deshalb so faszinierend, weil die Freundschaft unter diesen starken Veränderungen, die die Männer durchleben, so unerschütterlich bleibt und bis zum Schluss immer neue Facetten der Persönlichkeiten hervorbringt. Vor allem der lange Monolog von Johns Vater zum Ende hin bringt noch einmal richtig Farbe in das zurückliegende Leben des letztlich berühmten „Einsiedlers von Hoh“. Dazu gibt es etliche literarische Exkurse und Einblicke in die Lehren der Gnosis, selbst ein kriminalistisches Element fehlt nicht, als es um die Frage geht, ob Neil Countryman den Tod seines Blutsbruders mit zu verantworten hat.

J. R. Moehringer – „Knapp am Herz vorbei“

Sonntag, 4. Mai 2014

(S. Fischer, 444 S., HC)
Nach siebzehn Jahren im Gefängnis kommt der berühmte Bankräuber Willie Sutton an Weihnachten 1969 aus dem Gefängnis frei. Vor den Gefängnistoren tauschen Dutzende von Journalisten Fakten und Geschichten aus der vier Jahrzehnte umfassenden Karriere des Volkshelden aus, der bei seinen Überfällen nie einen Schuss abgab und seine Verbrechen mit der Leidenschaft eines Künstlers ausführte. Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen und spielte Katz und Maus mit Polizisten und FBI-Agenten. Sutton war für seine elegante Kleidung, seine Leidenschaft für gute Bücher und sein schelmisches Lächeln bekannt.
Ungeklärt blieb nur die Frage, ob der für seine Gewaltlosigkeit bekannte Willie the Actor an dem brutalen Mord an Arnold Schuster beteiligt gewesen ist, nachdem sich der meistgesuchte Mann Amerikas und der vierundzwanzigjährige Küstenwachenveteran drei Wochen zuvor in der U-Bahn begegnet waren. Bevor Sutton seine Freiheit so richtig genießen kann, hat er allerdings eine Verpflichtung zu erledigen. Mit dem Flugzeug reist er von Attica nach New York, wo einen Tag lang einen Journalisten und einen Fotografen exklusiv an entscheidende Wegpunkte seines Lebens führt. Schreiber und Knipser sind natürlich vor allem an Suttons möglicher Beteiligung an dem Schuster-Mord interessiert, doch Sutton hat seine eigene Karte mit Punkten skizziert, die es vorher zu besuchen gilt. In der Gold Street in Brooklyn beginnend, wo Sutton am 30. Juni 1901 zur Welt gekommen ist, begleiten die beiden Zeitungsleute Sutton zur Schule, wo er seine beiden Freunde Happy Johnston und Edward Buster Wilson kennenlernte, mit denen er 1919 bzw. 1923 verhaftet worden ist, zu Banken und Geschäften, die er ausgeraubt hat, und zur Promenade auf Coney Island, wo er schließlich seiner großen Liebe Bess begegnete.
„Willie betrachtet Bess. Ihre Augen – Teiche aus Blau und Gold. Er spürt, wie sich die Erde zum Mond neigt. Er beugt sich vor, küsst sie sanft auf die Lippen. Seine Haut kitzelt, sein Blut fängt Feuer. In dieser Sekunde, das weiß er, in diesem unvorhergesehenen Geschenk von einem Augenblick wird seine Zukunft neu geschrieben. Das hier war nicht vorgesehen. Aber es geschieht. Ist wirklich.“ (S. 104) 
Wie schon in seinem gefeierten Debütroman „Tender Bar“ hat Pulitzer-Preisträger J. R. Moehringer auch in seinem zweiten Roman eine wahre Begebenheit als Ausgangspunkt für eine packende Geschichte genommen, deren Lücken er fantasievoll mit Leben gefüllt hat. Während Willie the Actor den beiden namenlosen Zeitungsfritzen seine Lebensgeschichte erzählt, wird die Erzählung immer wieder von Willies Erinnerungen an die rekapitulierte Zeit durchbrochen und ergänzt, so dass Seite für Seite das Portrait eines faszinierenden Mannes entsteht, dessen Dasein letztlich ganz auf die unerfüllte Liebe zu Bess ausgerichtet war.
Suttons Erzählungen wirken dabei so lebendig, dass weder Schreiber noch der Leser an der Wahrheit dessen zweifeln, was Sutton zum Besten gibt. Erst zum Ende hin, als es um den ungeklärten Mord an Arnold Schuster geht, fängt diese Gewissheit zu bröckeln an. Doch ungeachtet dessen, was an dieser farbenfrohen Geschichte wahr oder erfunden sein mag, gefällt „Knapp am Herz vorbei“ vor allem durch die sympathische Hauptfigur, der man leicht abnimmt, dass sie eine Art moderner Robin Hood gewesen ist, vor allem aber ein verzweifelt Liebender, der stets ein großes Faible für die große Literatur hegte.  
Moehringers „Knapp am Herz vorbei“ erweist sich als ein eindringlich geschriebenes Biopic mit toller Beobachtung für die damalige Zeit und feinem Gespür für die sympathischen Figuren.
Leseprobe J. R. Moehringer - „Knapp am Herz vorbei“

Tess Gerritsen - (Rizzoli & Isles: 9) „Grabesstille“

Freitag, 18. April 2014

(Limes, 446 S., HC)
Bei einer Stadtführung durch Bostons Chinatown, in der Billy Foo seinem jungen Publikum schaurig-schöne Gruselgeschichten erzählt, finden die Kinder im Rinnstein eine abgeschlagene Hand. Die Mordkommission unter Leitung von Detective Jane Rizzoli entdeckt in der Nähe nicht nur eine Heckler-&-Koch-Automatikpistole mit Schalldämpfer, sondern auf dem Dach eines Nachbarhauses auch die dazugehörige Leiche einer Frau. Ein am Tatort liegender Autoschlüssel führt zu einem Navigationsgerät, in dem genau zwei Adressen gespeichert sind – die eine führt zu einer Kampfsportschule in Chinatown unter der Führung einer gewissen Iris Fang, die zweite zum pensionierten Polizisten Lou Ingersoll.
Wie die weiteren Ermittlungen ergeben, hat Ingersoll vor fast zwanzig Jahren in einem legendären Amoklauf ermittelt, bei dem der Koch Wu Weimin eines Restaurants mehrere Gäste und dann sich selbst erschoss. Eines der Opfer war der Ehemann von Iris Fang. Der Fall wurde zwar schnell zu den Akten gelegt, doch ungeklärt blieb das Verschwinden von zwei Töchtern der Opfer. Als Jane den Fall mit ihrem Partner Frost und der Unterstützung von Gerichtsmedizinerin Maura Isles wieder aufrollt, tauchen aber neue Spuren am damaligen Tatort auf sowie die Spur zu weiteren verschwundenen Mädchen. Offensichtlich haben sich die Dinge längst nicht so zugtragen, wie der damalige Polizeibericht festgehalten hatte.
„Jane dachte an die Waffe, die in Wu Weimins Hand gefunden worden war, eine Glock mit Gewindelauf. Der Mörder hatte einen Schalldämpfer benutzt, um das Geräusch der ersten acht Schüsse zu unterdrücken. Erst nachdem seine Opfer alle tot waren, schraubte er den Schalldämpfer ab, legte die Waffe in Wu Weimins leblose Hand und feuerte die letzte Kugel ab, um sicherzustellen, dass an der Haut des Toten Schmauchspuren gefunden wurden. Ein perfektes Verbrechen, dachte Jane. Bis auf die Tatsache, dass es eine Zeugin gab.“ (S. 371) 
Ermittlerin Jane Rizzoli und Gerichtsmedizinerin Maura Isles sind ein eingespieltes Team. „Grabesstille“ ist bereits der neunte Fall, an dem die beiden Freundinnen zusammen arbeiten, allerdings kreuzen sich ihre Wege hier selten. Das liegt vor allem daran, dass Maura zu Beginn bei einer Gerichtsverhandlung mit ihrer Aussage dafür sorgt, dass ein Cop, der einen gewalttätigen Gefangenen getötet hatte, ins Gefängnis muss, und deshalb beim Boston PD keine guten Karten mehr hat. Allerdings bringt Maura nach ihrer Durchsicht der Ermittlungsakten zum „Red Phoenix“-Massaker vor zwanzig Jahren Jane und ihre Kollegen dazu, den Tatort noch einmal zu untersuchen. Tess Gerritsen hat in „Grabesstille“ erstmals die Mythen und Märchen aufgegriffen, die ihr einst von ihrer chinesischen Großmutter erzählt wurden. Das bringt auf jeden Fall ein fantastisches Element in die ohnehin spannende Handlung mit ein, in der wieder viele Spuren zu verfolgen sind, aber nur wenige offensichtliche Verdächtige auszumachen sind. Die Ermittlungen laufen so in verschiedene Richtungen, dass nur wenig Raum bleibt, um die privaten Angelegenheiten der Hauptfiguren zu thematisieren. Janes Mann, FBI-Ermittler Gabriel Dean, taucht nur einmal kurz unangemeldet in der Gerichtsmedizin auf, während Maura für ein paar Tage Besuch von Julian „Rat“ Perkins bekommt, einem Teenager, der allzu lange in den Wäldern von Wyoming herumstreifen musste und Maura das Leben gerettet hatte. Abgesehen von diesen kurzen Exkursen in das Privatleben von Rizzoli und Isles bietet „Grabesstille“ gewohnt spannende Krimi-Lektüre, die durch den Einfluss chinesischer Mythen durchaus an Farbigkeit gewinnt. 

Anthony McCarten – „funny girl“

Freitag, 11. April 2014

(Diogenes, 375 S., HC)
Die zwanzigjährige Azime Gevaș lebt bei ihren Eltern im Londoner Stadtteil Green Lanes, die zwar aus dem kurdischen Teil der Türkei stammen, sich aber für echte Briten halten. Statt weiterhin für einen spärlichen Lohn im Möbelladen zu arbeiten, den ihr Vater Aristot unterhält, und sich von einem Heiratsvermittler, den ihre Mutter Sabite engagiert hat, verheiraten zu lassen, träumt Azime von einem selbstbestimmten Leben und einer Karriere als Komikerin. Den Weg dazu ebnet ihr einziger männlicher Freund Deniz, dessen unbekümmerte wie hemmungslose Lebensweise sie bewundert.
Ob sie in ihn verliebt ist, kann sie nicht so recht bestätigen. Aber sie fängt an, ihn zu den Comedy-Kursen zu begleiten, die er besucht, und schließlich wird auch Azime von der Kursleiterin Kirsten ermuntert, ihre Witze auf der Bühne zu präsentieren. Mit ihrer Show begeistert sie zwar auch einen Journalisten vom „Guardian“, doch nach den Selbstmordattentaten in verschiedenen Londoner U-Bahn-Stationen bekommt Azimes auch explizite Morddrohungen zugeschickt. Doch Azime muss nicht nur im Spannungsfeld familiärer Traditionen und Erwartungen einerseits und eigenen Lebensverwirklichungsstrategien ihren Weg finden, sie versucht auch, die Hintergründe des Todes einer ihrer Freundinnen aufzudecken.
Da das Mädchen in einen italienischen Jungen verliebt gewesen ist und vom Balkon der elterlichen Wohnung im achten Stock gestürzt ist, geht Azime davon aus, dass der Vater für die Tat verantwortlich ist. Schließlich schlägt Azimes große Stunde. Bei einer Comedy-Show soll sie vor 15000 Leuten auftreten!
„Schon früher war es eine Qual für sie gewesen, sich Material für ihre Auftritte auszudenken, doch jetzt musste sie sich an den irren Gedanken gewöhnen, dass ihre Witze Tausende zum Lachen bringen sollten. Als sie nicht weiterkam, sagte sie ihrer Mutter, sie gehe spazieren, und setzte sich in ein Café, ein wenig abseits, versuchte erneut zu arbeiten, ließ sich von Leuten, die kamen und gingen, inspirieren. Die bunte Vielfalt ihres Viertels brachte neue Ideen in ihr hervor und weckte Erinnerungen, an Deniz, Banu, Döndü, auch an das tote Mädchen und ihren Vater Omo. Sie musste an etwas denken, was Kirsten ihr beigebracht hatte: ‚Das Publikum, für das du schreibst, besteht nur aus einer einzigen Person, dir selbst. Mach es persönlicher und damit unverwechselbar. Red über Dinge, über die du – und nur du – reden kannst, Sachen, über die sonst keiner etwas weiß, über die keiner außer dir glaubwürdig reden kann.‘“ (S. 331) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten hat bereits mit seinem Bestseller „Englischer Harem“ eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass er ebenso humorvoll wie tiefsinnig den Clash of Cultures mit einer originellen Geschichte thematisieren kann. Mit der ganz konkreten Geschichte einer jungen Muslimin, die mit ihrer Familie in London lebt, macht McCarten auf höchst amüsante Weise deutlich, wie problematisch das Leben zwischen Tradition und Moderne, zwischen Fremdbestimmung und Selbstverwirklichung sein kann. Natürlich spitzt McCarten diesen Spagat zu, indem er seine sympathische wie eigensinnige Protagonistin einen überaus unkonventionellen Berufswunsch nachgehen lässt, aber gerade durch die pointierten Witze, die Azime ihrem Publikum präsentiert, werden die großen Themen, mit denen sich junge Muslime beschäftigen, besonders deutlich herausgearbeitet.
Neben Azimes wirklich komischen Auftritten, die die muslimische Kultur in einem ganz ungewohnten Licht erscheinen lässt, bewahrt sich McCarten aber auch einen nachdenklichen Ton, wenn es vor allem darum geht, wie muslimische Frauen von ihren Männern behandelt werden. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die wundervolle, Mut machende Geschichte einer jungen Frau, die ihre Stellung in ihrer Familie ebenso überdenkt wie ihre ersten romantischen Gefühle und die Gestaltung ihrer Zukunft.
Leseprobe Anthony McCarten - "funny girl"

Fabio Volo – „Lust auf dich“

Dienstag, 8. April 2014

(Diogenes, 301 S., Pb.)
Eigentlich hat Elena alles, was sich eine Frau nur wünschen kann: Nach dem Studium hat sie sich in einer Mailander Firma zur Leiterin der Marketingabteilung hochgearbeitet und mit Paolo einen Mann geheiratet, den sie bis zum Ende ihres Lebens lieben könnte, wie sie glaubte. Doch als sie bei einer Präsentation die Blicke eines attraktiven Mannes auf sich spürt und diesen in London näher kennenlernt, beginnt sie ihre Ehe zu hinterfragen und lernt eine ganz andere Frau in sich kennen.
Je mehr sie sich diesem Fremden hingibt, mit dem sie sich ausschließlich in dessen Wohnung trifft, je mehr sie die Lust und Leidenschaft zu schätzen weiß, die diese Affäre ihr bereitet, desto mehr ist sie sich dem öden Eheleben bewusst, in das sich die einst so intensive Liebe verwandelt hat. Elena hasst die Fahrten zu ihrer Schwiegermutter, die ihren Sohn immer noch so verhätschelt, als sei er ein Kind, und Elena mit mehr oder weniger versteckten Vorwürfen attackiert. Noch mehr aber hasst sie das, was die Ehe aus ihr selbst gemacht hat. Sie stört sich an dem fehlenden Interesse, das ihr Paolo entgegenbringt, der nach der Arbeit nur noch müde aufs Sofa fällt und vor der Glotze abhängt, während er Elenas Wünsche nach Gesprächen nicht ernst nimmt. Gespräche sind nicht unbedingt das, was Elena mit ihrer Affäre verbindet, aber aus dem sinnlichen, zärtlichen, leidenschaftlichen und experimentellen Sex, den sie nun erlebt, erwächst ein ganz neues Selbstvertrauen.
„Ich denke, dass meine Lust bei ihm so intensiv und tief ist, weil mein Körper in seinen Händen zum ersten Mal erhört wird. Er beherrscht das Spiel und weiß, wie er meine Lust immer mehr steigern kann, so dass ich mich so stark fühle wie er. Wenn wir miteinander schlafen, sind wir eins, und ich habe nie das Gefühl, passiv zu sein, auch wenn mir bewusst ist, dass er die treibende Kraft ist. Ich habe gelernt, dass es Teil eines Spiels ist, das auch ich lenke. Meine Unterwerfung ist ein Geschenk, das ich ihm bereite, keine Niederlage. Mit ihm zu schlafen ist eine geheimnisvolle Reise. Er führt mich, er reißt mich mit, geleitet mich an Orte, die ich nicht kenne und nie besucht habe.“ (S. 122) 
Allerdings scheint sich Elenas Ekstase in eine Verliebtheit zu wandeln, die die ungeschriebenen Grenzen ihrer Beziehung überschreitet. Das Objekt ihrer Begierde ist von Elenas Drang, immer mehr Kontrolle über das zu übernehmen, was sie miteinander verbindet, gar nicht begeistert …
Der italienische Schriftsteller, Schauspieler, Fernseh- und Radio-Moderator Fabio Volo, der sowohl in Mailand als auch in Rom, Paris und New York zuhause ist, hat in seinen bisherigen Romanen „Einfach losfahren“, „Noch ein Tag und eine Nacht“ sowie „Zeit für mich und Zeit für dich“ stets die Lebens- und Liebesgeschichten von jungen Männern beschrieben. In „Lust auf dich“ nimmt er erstmals die Perspektive einer Frau ein, die sich nicht nur durch Tagebuchaufzeichnungen vorstellt, sondern auch die darüber hinaus erwähnenswerten Ereignisse und Gedanken aus der Ich-Perspektive schildert. Sukzessive beschreibt Volo die Metamorphose einer Frau, die sich durch eine aufregende Affäre zu spiegeln beginnt, wie sich die Ehe mit Paolo gestaltet und welch neue Seiten die Beziehung zu einem neuen Mann in ihr zum Vorschein bringt.
Der Titel „Lust auf dich“ deutet schon an, dass Volo dabei recht freizügig zu Werke geht, doch lässt er dem Leser durchaus genügend Spielraum, die erotischen Szenen mit eigenen Phantasien aufzufüllen. Letztlich dient der Sex wie so oft nur als Mittel zum Zweck, als Schlüssel zu einer Tür, hinter der Elena ganz neue Seiten ihrer Persönlichkeit zu entdecken beginnt, die in ihrer Ehe nie zum Vorschein gekommen sind. Auf seine typisch leichte, doch packende Art beschreibt Volo die vielschichtigen Konsequenzen, die die Begegnung zweier Menschen nach sich ziehen kann – in positiver wie negativer Hinsicht.
Leseprobe Fabio Volo - "Lust auf dich"