Stewart O’Nan – „Die Chance“

Donnerstag, 24. Juli 2014

(Rowohlt, 224 S., HC)
Die letzten Tage ihrer Ehe wollen Art und Marion Fowler so verbringen, wie sie sie begonnen haben, als sie vor fast dreißig Jahren ihre Flitterwochen in Niagara Falls verbrachten. Während sie ihrer Tochter Emma diesen Trip als zweite Hochzeitsreise verkaufen, treten die Noch-Eheleute die Reise mit unterschiedlichen Erwartungen an. Art hofft fernab der alltäglichen Routine eine wiederbelebende Rückkehr zu den guten Zeiten und so auf eine neue Chance für ihre Ehe, Marion will das Ganze nur mit Würde überstehen.
Allerdings stehen sie nach dem Verlust ihrer Jobs kurz vor der Privatinsolvenz und wollen mit ihren letzten Barreserven im Casino versuchen zu retten, was zu retten ist, nachdem sie über ein Jahr vergeblich versucht haben, ihr Haus zu verkaufen. Außerdem wurde ihre Ehe durch Affären von beiden Seiten belastet. Trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen gönnen sie sich zu dem günstigen Preis von 249 Dollar inklusive Busfahrt, Mahlzeiten und einen Gutschein über 50 Euro für einen der Spieltische und für einen Aufpreis von 75 Dollar pro Nacht eine der Hochzeitssuiten im Obergeschoss mit Blick auf den Wasserfall. Beide sind bemüht, es dem anderen irgendwie recht zu machen und etwas zu erleben. Dazu gehört nicht nur ein Konzert der Rockband Heart, bei dem sich die beiden mit allerlei Rauschmitteln versorgen, sondern natürlich auch der allabendliche Besuch im Casino, wo Art und Marion mit der Martingale-Methode hoffen, beim Roulette ihre Schulden tilgen zu können.
„Seiner Gewissheit, die sich anscheinend nur auf Annahmen stützte, traute sie nicht. Er konnte voll Zuversicht behaupten, dass es statistisch gesehen unwahrscheinlich war, fünfmal hintereinander zu verlieren, aber was wusste er schon über das Glücksspiel? Ehepaare sollten sich theoretisch bis zum Tod lieben und ehren, doch auch das klappte nicht immer. Flugzeuge stürzten ab, Banken gingen pleite, ganze Länder zerfielen.“ (S. 210). 
Stewart O’Nan hat sich all seinen Werken als großer amerikanischer Erzähler erwiesen, der ein feines Gespür für die Befindlichkeiten seiner sympathischen Mittelschichtsfiguren besitzt. In seinem neuen Werk begleitet er ein nicht mehr ganz so frisches Ehepaar auf eine schwierige Reise. Unschlüssig, wie sie mit ihren Schulden umgehen, wie sie ihren Kindern die bevorstehende Trennung und den Verlust des Hauses, in dem sie aufgewachsen sind, erklären sollen, haben Art und Marion jeweils ihre eigenen Methoden, mit der Situation umzugehen und dabei immer wieder in vertraute Verhaltensmuster zurückfallen, die dem Partner aber nicht wirklich mehr etwas ausmachen. O’Nans Kunstfertigkeit besteht darin, diese von so unglückseligen Voraussetzungen geprägte Reise mit ebenso viel Ernsthaftigkeit wie Humor zu erzählen, was sich bereits in den Kapitelüberschriften niederschlägt, die mit verschiedenen Wahrscheinlichkeitserwartungen bezeichnet sind (z.B. Wahrscheinlichkeit, dass ein Ehepaar seinen 25. Hochzeitstag erreicht: 1:6). Dieses Spiel mit den Wahrscheinlichkeiten lässt sich immer wieder auf sein Ehepaar runterbrechen, aber eben so, dass sie entgegen der prognostizierten schlechten Quote meist einen guten Schnitt machen. Das macht Hoffnung auf ihre Beziehung, und wie Art und Marion aufeinander Rücksicht nehmen und sich dabei immer wieder Gutes tun, beschreibt O’Nan mit einer herzerwärmenden Leichtigkeit, die großen Lesespaß garantiert.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Die Chance"

Ryan David Jahn – „Die zweite Haut“

Sonntag, 20. Juli 2014

(Heyne, 319 S., Tb.)
Der 34-jährige Büroangestellte Simon Johnson fristet ein ziemlich ödes Dasein in Los Angeles. Er weiß so wenig mit seinem Leben anzufangen, dass er sonntags sogar lieber ins Lohnabrechnungsbüro fahren würde, um nicht überlegen zu müssen, wie er seine Zeit verbringen kann. Doch eines Tages dringt ein Einbrecher in seine Wohnung ein, in der es nichts zu holen gibt außer seiner Plattensammlung, und trachtet Simon sogar nach dem Leben. Nach einem heftigen Kampf ringt Simon den Fremden nieder und schlägt so lange mit einer Taschenlampe auf den Eindringling ein, bis dieser tot zusammenbricht.
Als er endlich dazu kommt, den Toten genauer zu betrachten, erschrickt Simon, dass er seinem Ebenbild ins Gesicht blickt. Zunächst lagert er die Leiche mit Eis in der Badewanne und versucht, den Umständen auf den Grund zu gehen. Die Papiere weisen den Toten als Jeremy Shackleford aus, und nach einigen Überlegungen beschließt Simon, nicht nur Jeremys Identität anzunehmen, sondern auch sein Leben zu leben. Wie sich nämlich herausstellt, lebte der Tote mit einer schönen Künstlerin namens Samantha in einer komfortablen Wohnung zusammen und arbeitete als Mathematikdozent an einer Kunstschule. Doch die Übernahme des anderen Lebens verläuft nicht ohne Zwischenfälle. Offensichtlich unterhielt Jeremy an der Schule eine Affäre mit der 18-jährigen Studentin Kate Wilhelm und besuchte mit Dr. Zurasky denselben Psychiater wie er selbst. Und schließlich wird Jeremy/Simon von einem Privatdetektiv beschattet. Je mehr Simon zu ergründen versucht, warum Jeremy ihn umbringen wollte, desto mehr gerät er in ein Netz aus Täuschungen, seltsamen Erinnerungen und unerklärlichen Déjà vus, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen.
„Simon Johnson hatte ein ruhiges Leben geführt – aber als Jeremy Shackleford in sein Apartment eingebrochen war, hatte sich alles verändert. Simon hatte ihn versehentlich getötet, aber dennoch hatte es ihn verändert, oder? Die Kälte, mit der er reagierte, entsprach der Kälte, die sein ganzes Leben prägte – aber jetzt war dieses heiße Verlangen nach mehr entbrannt und glühte in ihm wie heiße Kohlen. Und er war zu einem Monster geworden – er war Jeremy Shackleford geworden, oder? Oder er wurde langsam zu Jeremy Shackleford – der Verwandlungsprozess hatte eingesetzt. All diese Dinge, die so tief unter der Oberfläche seines Lebens verborgen gelegen hatten, dass sie größtenteils nur formlose Schatten waren – all diese tentakelbewehrten Kreaturen schossen hervor, all diese Bestien aus seinem Innenleben brachen sich Bahn an die Oberfläche, und sie waren hässlich und schrecklich.“ (S. 286) 
Bereits mit seinen ersten beiden bei Heyne Hardcore veröffentlichten Romanen „Ein Akt der Gewalt“ und „Der Cop“ erwies sich der amerikanische Drehbuch- und Romanautor Ryan David Jahn als Meister des psychologischen Thrillers, der tief in die Abgründe der Seele seiner Figuren zu blicken versteht.
Sein in den USA bereits 2010 unter dem Titel „Low Life“ veröffentlichtes Werk „Die zweite Haut“ erweist sich zunächst als klassischer Krimi, in dem ein Einbruchsopfer zu ergründen versucht, warum eine Art Doppelgänger nach seinem Leben trachten wollte. Doch seit diesem Überfall streut Jahn immer wieder geschickt Hinweise ein, die dem Geschehen eine mysteriöse Note verleihen. In der zweiten Hälfte des Romans weiß nicht mal mehr der Leser, ob Simon/Jeremy an einer starken Paranoia leidet oder ob die geschilderten Ereignisse tatsächlich übernatürlichen Ursprungs sind.
All dies beschreibt Jahn in einer kühlen wie pointierten Sprache, die die Spannung bis zur Zielgeraden aufrechterhält.
Leseprobe Ryan David Jahn - "Die zweite Haut"

Benjamin Lebert – „Im Winter dein Herz“

Sonntag, 13. Juli 2014

(Hoffmann und Campe, 160 S., HC)
In der therapeutischen Einrichtung Waldesruh gehört der Winterschlaf vom 02. Januar bis zum 5. März ebenso zum Programm wie in allen Teilen der Republik. Schließlich verringert der Winterschlaf den Energie- und Rohstoffverbrauch, belastet die Umwelt weniger, reduziert die Probleme der Überbevölkerung, da man während des Winterschlafs zwar sterben, aber nicht vögeln kann. Doch Robert, Kudowski und Annina nehmen an der Schlafmedikation nicht teil und machen sich mit einem schwarzen Suzuki Samurai, der Ritchie Blackmore genannt wird, auf den unbestimmten Weg in den Süden.
Der Frauenheld Robert witzelt damit herum, im regen Kontakt mit diversen Hollywood-Schönheiten zu stehen, während zu den Höhepunkten in Kudowskis Leben der Besuch der Polizeischule zählt. Eine Winter-App auf Kudowskis iPhone führt die Crew zu noch geöffneten Raststätten und Tankstellen, während der Fahrt erinnern sich die Reisenden an „Momente der Geborgenheit“. Robert empfindet solche Momente immer dann, wenn er sich am Meer oder an einem anderen Gewässer befindet, Annina erinnert sich gern daran, wie ihr Onkel sie mit ins Bergwerk genommen hat, wo er nach dem Rechten schaute und die Umkleideräume säuberte. Indem sie sich Geschichten aus ihrem Leben erzählen, kommen sich die drei so unterschiedlichen Unbekannten allmählich näher.
„Sie blickten auf die Fahrbahn, die, von ihren Füßen ausgehend, abfallend und aufsteigend und sich weich schlängelnd dem Horizont entgegeneilte. Nicht weit entfernt sahen sie den schwarzen Fleck, der Ritchie Blackmore war. Plötzlich kam es Robert so vor, als strichen weiche, schneeige Finger über sein Herz – ihn überkam eine große Freude. Und er empfand den anderen beiden gegenüber Dankbarkeit. Dafür, dass sie gemeinsam diese Reise angetreten hatten. Er hätte Annina in diesem Moment gern für einen Moment lang in einer Geste der Dankbarkeit sacht die Hand auf die Schulter gelegt. Und dasselbe sogar bei Kudowski getan.“ (S. 42f.) 
In einem Ambiente, das einen leichten Science-Fiction-Touch verströmt, lässt der junge Hamburger Autor Benjamin Lebert („Crazy“, „Flug der Pelikane“) drei gesellschaftliche Außenseiter gemeinsam einen unvergesslichen Road-Trip erleben. Dabei folgt Lebert weniger dem konventionellen Road-Movie-Szenario, sondern lässt seinen drei Figuren die Fahrt dazu nutzen, durch Erinnerungen ihr Leben zu reflektieren und die besonderen Momente darin herauszukristallisieren.
Dadurch leidet zwar der Erzählfluss in dieser ohnehin sehr kurzen Geschichte, aber dafür werden die jeweiligen Befindlichkeiten der drei Außenseiter umso deutlicher herausgearbeitet. Indem sie sich einander anvertrauen, werden sie schließlich zu Freunden, die durch die winterliche Reise auf wundersame Weise verwandelt werden. Lebert gelingt es, diese Transformation mit oft sehr poetischen Worten zu beschreiben und so den Leser auf magische Weise in dieses außergewöhnliche Szenario einzubinden.
Lesen Sie im Buch: Benjamin Lebert - Im Winter dein Herz

Toby Barlow – „Baba Jaga“

Sonntag, 6. Juli 2014

(Atlantik, 543 S., HC)
Der liebenswürdige Amerikaner Will Van Wyck arbeitet seit Jahren für eine Pariser Werbefirma, die in den 50er Jahren als Briefkastenfirma für die CIA fungiert. In seinen monatlichen Berichten fasst er für seinen Vorgesetzten Brandon Erkenntnisse über die Firmen zusammen, die der 31-Jährige ausspioniert, harte Fakten, die Rohstoffpreise, geschätzte Produktionszyklen und Einblicke in die Expansion eines Mischkonzerns dokumentieren. Doch als bei einem Auftrag die gesammelten Informationen in die falschen Hände gelangen, scheint Wills Karriere nicht nur in der Werbebranche den Bach hinunterzugehen.
Ablenkung verschafft ihm die hübsche Zoja, die sich zusammen mit der russischen Hexe Elga seit Jahrhunderten darauf spezialisiert hat, wohlhabende Männer für sich einzunehmen und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Nachdem sie ihren letzten Liebhaber etwas ungeschickt ins Jenseits geschickt und damit den Zorn ihrer Herrin auf sich gezogen hat, verwandelt sie den engagierten Polizisten Charles Vidot in einen Floh, als er den beiden Hexen auf die Schliche zu kommen schien, und taucht unter. Zoja, die seit Jahrhunderten nicht um einen Tag gealtert ist, verliebt sich in Will, vertraut aber zunächst auf die bewährten Zauber, um ihn an sich zu binden. Derweil versucht Vidot, als Floh über die Runden zu kommen.
„Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Er spürte die leise Berührung des Winds an seinem Körper und hörte das ferne Wiehern eines Pferdes. Als er zu sich kam, stellte er zu seinem Schrecken fest, dass sein winziger Körper im Begriff war, von Wills Kopf zu fallen, da die Haarsträhne, an der er nur locker hing, jetzt wild im Fahrtwind flatterte, der durch ein offenes Autofenster drang. Vidot zog mit aller Kraft und schaffte es, das Tau aus braunem Haar hinaufzuklettern und die Sicherheit der Kopfhaut zu erreichen. Als er sich wieder gesammelt hatte, registrierte er zu seiner Verärgerung, dass er noch immer in die Enge dieses Flohkörpers gefangen war, doch seine kurze Rückkehr ins Menschsein hatte seine Hoffnungen erheblich bestärkt, da er nun wusste, dass er im Wesentlichen, der Seele und dem Geist nach, nach wie vor ein Mann war. Alles Übrige war nur ein Taschenspielertrick.“ (S. 437) 
Da Will auf so leidenschaftliche und romantische Weise mit Zoja verbunden ist, hofft Vidot, dass der gegen ihn erwirkte Zauber wieder rückgängig gemacht wird und er in die Arme seiner Frau Adele zurückkehren kann, die sich derweil anderweitig vergnügt.
Überhaupt geht es in „Baba Jaga“ sehr turbulent zu. CIA und Hexenzauberei, romantische Liebe und purer Sex, Werbestrategien und verdeckte Polizeiermittlungen, Verwandlungen und Verwünschungen – all dies vermengt der in Detroit und New York lebende Toby Barlow mit großer Fabulierkunst zu einer fantasievollen, Magie-geschwängerten Tour de Force.
Lesen Sie im Buch: Tony Barlow - Baba Jaga

David Guterson – „Zwischen Menschen“

Montag, 9. Juni 2014

(Hoffmann und Campe, 208 S., HC)
Bereits in seinem gleich zum internationalen Bestseller avancierten und erfolgreich verfilmten Romandebüt „Schnee, der auf Zedern fällt“ hat der in Seattle lebende Schriftsteller David Guterson seine Fähigkeit demonstriert, die Psychologie zwischenmenschlicher Beziehungen auszuloten. Diese Stärke kommt auch in seinem neuen Erzählungsband „Zwischen Menschen“ zum Tragen, in dem Guterson sechs bereist in verschiedenen Zeitungen erschienene und vier bislang unveröffentlichte Geschichten zusammenfasst, in denen es jeweils um ganz konkrete menschliche Schicksale und ihre Beziehungen zu ihrer menschlichen Umwelt geht.
So macht sich in der Eröffnungsgeschichte „Mieterin“ ein Wohnungsbesitzer Gedanken über die neue Mieterin, Lydia Williams mit Namen und wegen ihrer Referenzen und des herausragenden Bonitätsratings erste Wahl des Maklers. Für den Vermieter ist Lydia Williams eine „geheimnisvolle Nichtexistenz, bislang ungreifbar, weil er sie noch nie gesehen hatte, aber Garantin, so hoffte er, beständiger Mieteinnahmen“. Er beginnt, diese Nichtexistenz mit Vorstellungen zu füllen, doch das fällt ihm so schwer, dass er sich dazu entschließt, per Email Kontakt zu ihr aufzunehmen und sie schließlich unter dem Vorwand, ein Ventil überprüfen zu wollen, in ihrer Wohnung zu besuchen. Das Zusammentreffen desillusioniert den Mann, schließlich stammen er und sie aus unterschiedlichen Generationen und Kulturen.
Diese Unterschiede zwischen den Menschen prägen auch die folgenden Geschichten. In „Paradise“ treffen sich zwei Menschen, die sich über Match.com kennengelernt haben, eine Soziologin, die an der Seattle University über soziale Netzwerke forscht, und ein Handelsrechtler, der auf Wertpapierbetrug spezialisiert ist. Doch nach einigen Dates wird sie immer noch von Erinnerungen an ihren Exfreund Clifton heimgesucht, der auf tragische Weise ums Leben kam.
In „Still“ bietet sich eine junge Frau namens Vivian Lee dem alternden Lou Calhoun als Hundesitterin an und übernimmt auch bald einige Besorgungen für ihn, bis er in ein Hospiz muss, während „Foto“ die Geschichte des Ehepaars Hutchinson erzählt, das ihren Sohn an Bord der „Fearless“ verloren hat und nun Besuch vom Kapitän des Schiffes bekommt, der den Hutchinsons die näheren Umstände des Unglücks erzählt.
Schließlich spielt „Krasawize“ in Berlin und handelt von einem alten Mann, der ein Dreivierteljahrhundert nach seiner Geburt als jüdisches Kind mit seinem Sohn nach Berlin zurückkehrt und sich dort von der hübschen Erika Wolf die Sehenswürdigkeiten zeigen lässt.
David Guterson begleitet in seinen zehn Geschichten seine meist älteren Protagonisten, die bereits einiges erlebt, oft schon persönlich mit dem Tod zu tun gehabt und ihre ganz eigene Sicht auf die Welt haben, in ganz konkreten Situationen, in denen Erfahrungen, Vorurteile und Missverständnisse die geschilderten Ereignisse prägen und selten ein versöhnliches Ende nehmen. Guterson schlägt dabei einen lakonischen, oft melancholischen Ton an, der im Gegensatz zu der distanzierten Sachlichkeit steht, mit dem der Autor seinen Figuren über die Schulter blickt. Für Guterson-Fans und Freunde der gepflegten amerikanischen Short Story ist „Zwischen Menschen“ ein Muss!
Leseprobe David Guterson – „Zwischen Menschen“

John Niven – „Straight White Male“

Samstag, 31. Mai 2014

(Heyne, 384 S., Pb.)
Der gefeierte irische Roman- und Drehbuchautor Kennedy Marr bekommt immer wieder Schwierigkeiten, weil der in Hollywood zwischen den Reichen und Schönen lebende Mittvierziger seinen Schwanz nicht in der Hose lassen kann. Das hat ihn bereits zwei Ehen gekostet und ihm nun ein paar Therapiesitzungen bei Dr. Brendle eingebrockt, weil er sich im Powerhouse mit dem Freund seinem gerade auserkorenen Opfer prügeln musste. Auch sonst sieht es bei dem erfolgsverwöhnten Schwerenöter nicht besonders rosig aus, weil er mehr Geld ausgibt, als durch seine Drehbücher und Überarbeitungen hereinkommt.
Als die Bundessteuerbehörde auf die Zahlung von 1,4 Millionen Dollar pocht, hecken Kennedys Agenten einen Plan aus, der nicht nur auf die Reduzierung seiner immensen Ausgaben abzielt, sondern auch die Erledigung etlicher Aufträge vorsieht, mit denen Kennedy arg im Verzug ist. Da kommt die Nachricht, dass Kennedy in London für den F. W. Bingham Award nominiert ist, wie ein Segen. Allerdings erhält er die steuerfreien 500.000 Pfund nur, wenn er ein Semester lang einen Kurs in „Kreatives Schreiben“ unterrichtet, was der Universität von Deeping wiederum eine bessere Reputation verschaffen soll. Allerdings unterrichtet dort auch Kennedys Ex-Frau Millie, die dort mit der gemeinsamen Tochter Robin lebt. Doch schon auf dem Flug nach England verwickelt sich Kennedy in eine schlagzeilenträchtige Schlägerei und jagt an seiner neuen Wirkungsstätte weiterhin jedem Rock nach, strapaziert über Gebühr seine Leber und legt sich mit der Crew an, die gerade Teile des Films in England dreht, zu dem Kennedy das Drehbuch verfasst hat. Gerade von Millie wird er auf seinen unsteten Lebenswandel angesprochen, der ihn von seiner ganzen Familie entfremdet hat.
„Auf dem Papier, dachte er zum zigsten Mal, sollte doch eigentlich alles gut sein. Eigentlich müsste doch alles prima für ihn laufen. Viel Geld, ein interessanter, glamouröser Job und haufenweise begehrenswerte Frauen, die sich zu ihm hingezogen fühlten. Und dennoch schien er in einer sehr überzeugenden Reproduktion der Hölle gelandet zu sein. Offenbar hatte er ein ausgeprägtes Interesse daran, ja, er befand sich auf einer regelrecht fanatischen Mission, sein Leben so schwierig wie irgend möglich zu gestalten. Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass man zu Sex auch Nein sagen kann? Kennedy dachte ernsthaft über diese Frage nach. Hatte er tatsächlich jemals einen Fick abgelehnt? Irgendwann musste er das doch sicher mal getan haben? O ja, damals … obwohl … eine Chance verstreichen zu lassen, weil sich dadurch eine bessere ergab, zählte vermutlich nicht.“ (S. 274f.) 
Als gelegentlicher Drehbuchautor (u.a. zur Verfilmung seines eigenen Bestsellers „Kill Your Friends“) hat der britische Autor John Niven sicher eine mehr als ungefähre Vorstellung davon, wie es im Filmbusiness läuft. In seinem neuen Roman „Straight White Male“ lässt Niven seinen Protagonisten alle Höhen und Tiefen des Starruhms durchleben.
Kennedy Marr ist mit wenigen Bestsellern und Drehbüchern ein schwerreicher Mann geworden, der nicht nur sein Geld für teure Klamotten, exklusives Essen und Partys herausschleudert, sondern auch Verachtung für fast jeden empfindet, der meint, seine Drehbücher bedürfen einer Überarbeitung. Wie Kennedy sich durch die aufgeblasene Hollywood-Szene flucht, säuft und bumst, macht einfach höllisch Spaß. Er teilt mächtig aus, muss aber wenig einstecken. Erst als sein ruinöser finanzieller Zustand einen längeren Aufenthalt in seiner alten Heimat erfordert, muss sich der gefeierte Autor den Dämonen seiner Vergangenheit stellen und sich mit seiner Familie aussöhnen, die ganz alltägliche Probleme zu bewältigen hat.
Obwohl „Straight White Male“ vor Testosteron nur so übersprüht und ungemein witzig geschrieben ist, machen sich vor allem im letzten Drittel auch nachdenkliche und tiefsinnige Töne breit, die den Roman auf ein neues Level heben. Am Ende macht Nivens Anti-Held eine bemerkenswerte Wandlung durch, die keinen Leser unberührt lassen dürfte.
Leseprobe John Niven "Straight White Male"

Jack Ketchum – „Lebendig“

Montag, 26. Mai 2014

(Heyne, 224 S., Tb.)
Auf dem Weg zur einzigen noch auf der West Side von New York übrig gebliebenen Abtreibungsklinik wird die schwangere Sara von den Abtreibungsgegnern Stephen und Kath direkt vor der Klinik entführt, während ihr Geliebter Greg noch einen Parkplatz sucht. Als Sara aufwacht, befindet sie sich in einer sargähnlichen Kiste, doch das bedeutet erst den Anfang ihres Martyriums.
Wie Stephen und Kath ihr mitteilen, gehören sie der einflussreichen „Organisation“ an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, todgeweihte Kinder davor zu retten, von gottlosen Müttern abgetrieben zu werden. Das kinderlose Paar droht Sara damit, dass die Organisation ihre gesamt Familie zu Schaden kommen lässt, sollte sie einen Fluchtversuch unternehmen. Vor allem Stephen scheint daran Gefallen zu finden, die Gefangene nicht nur auszupeitschen, sondern sich immer neue Arten einfallen zu lassen, Sara zu quälen. Neben den üblichen sexuellen Demütigungen erfindet er immer neue Techniken und Instrumente, ihr unvorstellbare Qualen zuzufügen.
„Sie würde hier alt werden. Das Baby dagegen wuchs allmählich heran. Ihr süßes kleines Mädchen. Das sie hatte umbringen wollen. Nein, verdammt noch mal, das war seine Masche. Eine Abtreibung war der Beweis dafür, dass sie, Sara Foster, Herrin über ihren Körper war. Mit ihrem freien Willen eine Entscheidung über ihr Schicksal treffen konnte. Dieser allumfassende, aufgezwungene Kontrollverlust dagegen, der so weit reichte, dass sie nicht mal mehr pinkeln konnte, ohne sich selbst dabei zu beschmutzen, und nur mit seiner Erlaubnis essen oder trinken durfte – das kam einem Mord schon viel näher. Man konnte eine Persönlichkeit, eine Identität ebenso töten wie einen menschlichen Körper.“ (S. 117f.) 
Mit gerade mal 180 Seiten stellt die ursprünglich 1998 veröffentlichte Geschichte „Right to Life“ eine der kürzesten Werke aus dem Schaffen des amerikanischen Autors Dallas Mayr alias Jack Ketchum dar, weshalb der Heyne Verlag in der deutschen Erstausgabe als Bonus noch die beiden Kurzgeschichten „Tapferes Mädchen“ und „Rückkehr“ (beide von 2002) und ein Werkverzeichnis der bislang bei Heyne erschienenen Romane des kompromisslosen Horror-Schriftstellers angehängt hat.
Während die beiden Kurzgeschichten längst nicht Ketchums eigentliche Stärken ausspielen, nämlich die packend-raffinierte Beschreibung von Extremsituationen, in denen seine ProtagonistInnen geraten, schildert „Lebendig“ zunächst ein recht konventionelles Entführungs- und Folter-Szenario mit Ketchum-typischer Drastik, bevor es psychologisch interessant wird, und zwar nicht wie erwartet auf der Opfer-Täter-Ebene, sondern vor allem in der Beziehung des Täterpaars zueinander. Natürlich beschreibt Ketchum das Foltern in einer expliziten Deutlichkeit, die Horror-Fans anspricht, aber faszinierend ist „Lebendig“ vor allem durch die psychologische Dimension, die sich zwischen den Beteiligten entwickelt.
Leseprobe Jack Ketchum "Lebendig"