Jess Walter – „Die finanziellen Abenteuer des talentierten Poeten“

Montag, 18. August 2014

(Blessing, 383 S., HC)
Der amerikanische Traum ist für Matt Prior schnell ausgeträumt. Als er noch ein halbwegs erfolgreicher Wirtschaftsjournalist war, konnte er sich mit seiner hübschen Frau Lisa und den beiden Jungs Franklin und Teddy ein nettes Häuschen in einer Vorortsiedlung leisten, doch als der verhinderte Poet seinen Job an den Nagel gehängt hatte, um eine Website für Poesie und Geldanlagen ins Leben zu rufen, kam das Unglück so richtig ins Rollen.
Da Matt mit der Website keine nennenswerten Einnahmen erzielte, musste er seinen alten Job wieder aufnehmen, nur um vor acht Wochen wieder gekündigt zu werden. Durch den Einbruch des Immobilienmarktes drohen den Priors der Verlust des Hauses und des Autos. Ganze sieben Tage bleiben Matt, seine Altersvorsorge aufzulösen und 31.000 Dollar Restzahlung an die Bank zu leisten. Vor diesem desaströsen Hintergrund erscheint es Matt eine gute Idee, beim Milchholen im Supermarkt um die Ecke, auf das Angebot zweier Kiffer einzugehen, mit ihnen auf eine Party zu gehen und mal wieder richtig schön einen durchzuziehen. Dabei kommt ihm die Idee, seine Rücklagen über 9400 Dollar in gutes Gras zu investieren, um es gewinnbringend weiterzuverkaufen. Als Matt erfährt, dass seine Frau mit einem gewissen Chuck eine Affäre zu haben scheint, gerät seine Welt allerdings immer mehr ins Wanken.
„Es ist beinahe, als bekämen Lisa und ich bloß, was wir verdienen. Zumindest bilden wir uns das ein. Irgendwie scheint das ganze Land davon überzeugt zu sein, wir alle hätten etwas getan, das diese Katastrophe rechtfertigt, diese globale Erwärmung, diesen ewigen Krieg, diesen Haufen Scheiße, in dem wir uns befinden. Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, unsere Zukunft verprasst, Ressourcen geplündert, in einer Luftblase gelebt.“ (S. 210)
Matts Versuch, durch den Handel mit Gras zumindest seine finanziellen Sorgen vorübergehend in den Griff zu bekommen, scheitert allerdings schon im Frühstadium, als zwei Beamte einer Sondereinheit auftauchen und Matt zur Zusammenarbeit zwingen …
Wer „Breaking Bad“ kennt, wird das literarische Pendant von Jess Walter lieben. Ebenso wie Walter White angesichts seiner Lungenkrebserkrankung aus Sorge vor der finanziellen Absicherung seiner Familie beginnt, in den Handel mit Methamphetamin einzusteigen, sieht auch Jess Walters Protagonist im Drogengeschäft die besten Möglichkeiten, kurzfristig große Gewinne einzufahren.
Mit einer gelungen Mischung aus geballtem Sprachwitz und durchaus tiefsinnigen Einsichten in die Befindlichkeiten der amerikanischen Mittelschicht, die durch die Immobilien- und Bankenkrise ihrer Fundamente beraubt worden ist, beschreibt der Pulitzer-Preis-Träger die verzweifelten Versuche eines Durchschnittamerikaners, nicht nur sein Eigenheim, sondern auch seine Ehe zu retten und seinen Kindern ein guter Vater zu sein. Neben treffenden Statements zu den wirtschaftlichen Zusammenhängen der Krise und den Auswirkungen auf die amerikanische Mittelschicht bezaubert der kurzweilige Roman durch seinen warmherzigen Humor und den wunderbar lakonischen Ton, mit dem Matt immer wieder seine ausweglose Lage beschreibt, ohne die Hoffnung zu verlieren.
Leseprobe Jess Walter - Die finanziellen Abenteuer des talentierten Poeten

Paul Auster – „Sunset Park“

Sonntag, 10. August 2014

(Rowohlt, 317 S., HC)
Ähnlich wie die terroristischen Anschläge vom 9/11 hat die ab 2008 grassierende Finanzkrise die amerikanische Seele stark erschüttert und die kulturelle Produktion beeinflusst. Der vielfach international prämierte New Yorker Schriftsteller Paul Auster hat die Folgen der Wirtschaftskrise als Ausgangspunkt für seinen Roman „Sunset Park“ genommen, um ganz verschiedene Figuren in einem heruntergekommenen Haus in Sunset Park zusammenzuführen und ihre Geschichten zu erzählen.
Seit der achtundzwanzigjährige Miles Heller vor siebeneinhalb Jahren das College verlassen hat, schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Seit einem Jahr arbeitet er mit drei Kollegen für die Immobiliengesellschaft Dunbar in Florida und ist für die Entrümpelung der Häuser zuständig, die von ihren Eigentümern aufgegeben werden mussten. Während seine Kollegen sich immer wieder an den zurückgelassenen Dingen bereichern, beschränkt sich Miles darauf, sie zu fotografieren. Der Zufall oder das Schicksal will es, dass Miles eines Tages in einem Park in Miami der siebzehnjährigen Pilar begegnet, die wie er gerade in F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ liest. Sie lieben sich, ziehen verbotenerweise zusammen, und um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, kehrt Miles nach New York zurück, wo er bei seinem Jugendfreund Bing Nathan Unterschlupf findet. Bing betreibt nicht nur eine „Klinik für kaputte Dinge“, sondern besetzt mit zwei jungen Frauen ein verlassenes Haus im Brooklyner Viertel Sunset Park. Ellen Brice möchte eigentlich Malerin sein, schlägt sich aber stattdessen erfolglos als Immobilienmaklerin durch, die einer verflossenen Liebe nachtrauert, während Alice Bergstrom ihre Doktorarbeit verzweifelt zu beenden versucht und im Büro des PEN arbeitet. Miles komplettiert diese desillusionierte Wohngemeinschaft, in der nur wenige Regeln zu befolgen sind, wie Bing ihm erklärt.
„Jeder Bewohner hat eine Aufgabe zu erfüllen, aber von der Verantwortung für diese Aufgabe abgesehen, kann jeder kommen und gehen, wie es ihm beliebt. Er ist Hausmeister, Ellen ist Putzfrau, Alice kauft ein und kocht auch meistens. Vielleicht wolle Miles sich den Job mit Alice teilen und sich beim Einkaufen und Kochen mit ihr abwechseln. Miles hat keine Einwände. Er koche gern, sagt er, er habe im Laufe der Jahre ein Händchen dafür entwickelt, das wäre also kein Problem. Bing erklärt, Frühstück und Abendessen nähmen sie meistens gemeinsam ein, da sie alle knapp bei Kasse seien und so wenig wie möglich auszugeben versuchten. Dass sie ihre Mittel zusammenlegen, hat ihnen bisher schon gut geholfen, und jetzt mit Miles als neuem Mitbewohner werden die Kosten pro Nase noch weiter sinken.“ (S. 131) 
Miles nimmt nach Jahren, in denen er kein Wort von sich hören ließ, wieder Kontakt zu seinen Eltern auf. Morris Heller unterhält einen einst renommierten Kleinverlag, der nun aber kurz vor dem Bankrott steht – ebenso wie seine zweite Ehe mit der Schauspielerin Mary-Lee Swann. Die familiäre Wiedervereinigung verläuft schwierig. Während Vater und Sohn die unglücklichen Schicksale berühmter Baseball-Spieler Revue passieren lassen, ist es nur eine Frage der Zeit, die das Haus in Sunset Park von ihren Besetzern geräumt werden muss.
Es ist alles andere als ein hoffnungsvolles Bild, das Auster in seinem Roman zeichnet. Im Mittelpunkt seines episodenhaft an den einzelnen Figuren aufgehängten Dramas stehen Personen, die abgesehen von der Generation, die durch Miles Hellers Eltern personifiziert werden, nie Fuß gefasst haben in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Durch die Wirtschaftskrise hat die Mittelschicht nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Zukunft verloren. Die vier Bewohner von Sunset Park haben kaum Aussicht auf einen gut bezahlten Job und müssen sich auf die elementarsten Bedürfnisse beschränken.  
Auster wechselt häufig die Erzählperspektive, lässt nicht nur die vier jungen Erwachsenen zu Wort kommen, die eine aus der Not geborene Wohngemeinschaft bilden, sondern auch Morris Heller, der vor den Trümmern seines mühselig aufgebauten Verlags und seiner Ehe steht. Immer wieder wird den Figuren ein Spiegel vorgehalten, sei es durch „Der große Gatsby“, durch den Film „Die besten Jahre unseres Lebens“, den Alice in ihrer Doktorarbeit thematisiert, oder die traurigen Schicksale berühmter Sportler, über die sich Miles und Morris meistens unterhalten.
„Sunset Park“ präsentiert ein glänzend geschriebenes und tiefsinnig beobachtbares Psychogramm einer verlorenen Generation, die ohne Heimat und Hoffnung erscheint und nicht die Möglichkeiten besitzt, ihre Träume und Leidenschaften auszuleben. Dass der Roman ohne Happy End auskommen muss, ist da nur konsequent.

Stewart O’Nan – „Die Chance“

Donnerstag, 24. Juli 2014

(Rowohlt, 224 S., HC)
Die letzten Tage ihrer Ehe wollen Art und Marion Fowler so verbringen, wie sie sie begonnen haben, als sie vor fast dreißig Jahren ihre Flitterwochen in Niagara Falls verbrachten. Während sie ihrer Tochter Emma diesen Trip als zweite Hochzeitsreise verkaufen, treten die Noch-Eheleute die Reise mit unterschiedlichen Erwartungen an. Art hofft fernab der alltäglichen Routine eine wiederbelebende Rückkehr zu den guten Zeiten und so auf eine neue Chance für ihre Ehe, Marion will das Ganze nur mit Würde überstehen.
Allerdings stehen sie nach dem Verlust ihrer Jobs kurz vor der Privatinsolvenz und wollen mit ihren letzten Barreserven im Casino versuchen zu retten, was zu retten ist, nachdem sie über ein Jahr vergeblich versucht haben, ihr Haus zu verkaufen. Außerdem wurde ihre Ehe durch Affären von beiden Seiten belastet. Trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen gönnen sie sich zu dem günstigen Preis von 249 Dollar inklusive Busfahrt, Mahlzeiten und einen Gutschein über 50 Euro für einen der Spieltische und für einen Aufpreis von 75 Dollar pro Nacht eine der Hochzeitssuiten im Obergeschoss mit Blick auf den Wasserfall. Beide sind bemüht, es dem anderen irgendwie recht zu machen und etwas zu erleben. Dazu gehört nicht nur ein Konzert der Rockband Heart, bei dem sich die beiden mit allerlei Rauschmitteln versorgen, sondern natürlich auch der allabendliche Besuch im Casino, wo Art und Marion mit der Martingale-Methode hoffen, beim Roulette ihre Schulden tilgen zu können.
„Seiner Gewissheit, die sich anscheinend nur auf Annahmen stützte, traute sie nicht. Er konnte voll Zuversicht behaupten, dass es statistisch gesehen unwahrscheinlich war, fünfmal hintereinander zu verlieren, aber was wusste er schon über das Glücksspiel? Ehepaare sollten sich theoretisch bis zum Tod lieben und ehren, doch auch das klappte nicht immer. Flugzeuge stürzten ab, Banken gingen pleite, ganze Länder zerfielen.“ (S. 210). 
Stewart O’Nan hat sich all seinen Werken als großer amerikanischer Erzähler erwiesen, der ein feines Gespür für die Befindlichkeiten seiner sympathischen Mittelschichtsfiguren besitzt. In seinem neuen Werk begleitet er ein nicht mehr ganz so frisches Ehepaar auf eine schwierige Reise. Unschlüssig, wie sie mit ihren Schulden umgehen, wie sie ihren Kindern die bevorstehende Trennung und den Verlust des Hauses, in dem sie aufgewachsen sind, erklären sollen, haben Art und Marion jeweils ihre eigenen Methoden, mit der Situation umzugehen und dabei immer wieder in vertraute Verhaltensmuster zurückfallen, die dem Partner aber nicht wirklich mehr etwas ausmachen. O’Nans Kunstfertigkeit besteht darin, diese von so unglückseligen Voraussetzungen geprägte Reise mit ebenso viel Ernsthaftigkeit wie Humor zu erzählen, was sich bereits in den Kapitelüberschriften niederschlägt, die mit verschiedenen Wahrscheinlichkeitserwartungen bezeichnet sind (z.B. Wahrscheinlichkeit, dass ein Ehepaar seinen 25. Hochzeitstag erreicht: 1:6). Dieses Spiel mit den Wahrscheinlichkeiten lässt sich immer wieder auf sein Ehepaar runterbrechen, aber eben so, dass sie entgegen der prognostizierten schlechten Quote meist einen guten Schnitt machen. Das macht Hoffnung auf ihre Beziehung, und wie Art und Marion aufeinander Rücksicht nehmen und sich dabei immer wieder Gutes tun, beschreibt O’Nan mit einer herzerwärmenden Leichtigkeit, die großen Lesespaß garantiert.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Die Chance"

Ryan David Jahn – „Die zweite Haut“

Sonntag, 20. Juli 2014

(Heyne, 319 S., Tb.)
Der 34-jährige Büroangestellte Simon Johnson fristet ein ziemlich ödes Dasein in Los Angeles. Er weiß so wenig mit seinem Leben anzufangen, dass er sonntags sogar lieber ins Lohnabrechnungsbüro fahren würde, um nicht überlegen zu müssen, wie er seine Zeit verbringen kann. Doch eines Tages dringt ein Einbrecher in seine Wohnung ein, in der es nichts zu holen gibt außer seiner Plattensammlung, und trachtet Simon sogar nach dem Leben. Nach einem heftigen Kampf ringt Simon den Fremden nieder und schlägt so lange mit einer Taschenlampe auf den Eindringling ein, bis dieser tot zusammenbricht.
Als er endlich dazu kommt, den Toten genauer zu betrachten, erschrickt Simon, dass er seinem Ebenbild ins Gesicht blickt. Zunächst lagert er die Leiche mit Eis in der Badewanne und versucht, den Umständen auf den Grund zu gehen. Die Papiere weisen den Toten als Jeremy Shackleford aus, und nach einigen Überlegungen beschließt Simon, nicht nur Jeremys Identität anzunehmen, sondern auch sein Leben zu leben. Wie sich nämlich herausstellt, lebte der Tote mit einer schönen Künstlerin namens Samantha in einer komfortablen Wohnung zusammen und arbeitete als Mathematikdozent an einer Kunstschule. Doch die Übernahme des anderen Lebens verläuft nicht ohne Zwischenfälle. Offensichtlich unterhielt Jeremy an der Schule eine Affäre mit der 18-jährigen Studentin Kate Wilhelm und besuchte mit Dr. Zurasky denselben Psychiater wie er selbst. Und schließlich wird Jeremy/Simon von einem Privatdetektiv beschattet. Je mehr Simon zu ergründen versucht, warum Jeremy ihn umbringen wollte, desto mehr gerät er in ein Netz aus Täuschungen, seltsamen Erinnerungen und unerklärlichen Déjà vus, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen.
„Simon Johnson hatte ein ruhiges Leben geführt – aber als Jeremy Shackleford in sein Apartment eingebrochen war, hatte sich alles verändert. Simon hatte ihn versehentlich getötet, aber dennoch hatte es ihn verändert, oder? Die Kälte, mit der er reagierte, entsprach der Kälte, die sein ganzes Leben prägte – aber jetzt war dieses heiße Verlangen nach mehr entbrannt und glühte in ihm wie heiße Kohlen. Und er war zu einem Monster geworden – er war Jeremy Shackleford geworden, oder? Oder er wurde langsam zu Jeremy Shackleford – der Verwandlungsprozess hatte eingesetzt. All diese Dinge, die so tief unter der Oberfläche seines Lebens verborgen gelegen hatten, dass sie größtenteils nur formlose Schatten waren – all diese tentakelbewehrten Kreaturen schossen hervor, all diese Bestien aus seinem Innenleben brachen sich Bahn an die Oberfläche, und sie waren hässlich und schrecklich.“ (S. 286) 
Bereits mit seinen ersten beiden bei Heyne Hardcore veröffentlichten Romanen „Ein Akt der Gewalt“ und „Der Cop“ erwies sich der amerikanische Drehbuch- und Romanautor Ryan David Jahn als Meister des psychologischen Thrillers, der tief in die Abgründe der Seele seiner Figuren zu blicken versteht.
Sein in den USA bereits 2010 unter dem Titel „Low Life“ veröffentlichtes Werk „Die zweite Haut“ erweist sich zunächst als klassischer Krimi, in dem ein Einbruchsopfer zu ergründen versucht, warum eine Art Doppelgänger nach seinem Leben trachten wollte. Doch seit diesem Überfall streut Jahn immer wieder geschickt Hinweise ein, die dem Geschehen eine mysteriöse Note verleihen. In der zweiten Hälfte des Romans weiß nicht mal mehr der Leser, ob Simon/Jeremy an einer starken Paranoia leidet oder ob die geschilderten Ereignisse tatsächlich übernatürlichen Ursprungs sind.
All dies beschreibt Jahn in einer kühlen wie pointierten Sprache, die die Spannung bis zur Zielgeraden aufrechterhält.
Leseprobe Ryan David Jahn - "Die zweite Haut"

Benjamin Lebert – „Im Winter dein Herz“

Sonntag, 13. Juli 2014

(Hoffmann und Campe, 160 S., HC)
In der therapeutischen Einrichtung Waldesruh gehört der Winterschlaf vom 02. Januar bis zum 5. März ebenso zum Programm wie in allen Teilen der Republik. Schließlich verringert der Winterschlaf den Energie- und Rohstoffverbrauch, belastet die Umwelt weniger, reduziert die Probleme der Überbevölkerung, da man während des Winterschlafs zwar sterben, aber nicht vögeln kann. Doch Robert, Kudowski und Annina nehmen an der Schlafmedikation nicht teil und machen sich mit einem schwarzen Suzuki Samurai, der Ritchie Blackmore genannt wird, auf den unbestimmten Weg in den Süden.
Der Frauenheld Robert witzelt damit herum, im regen Kontakt mit diversen Hollywood-Schönheiten zu stehen, während zu den Höhepunkten in Kudowskis Leben der Besuch der Polizeischule zählt. Eine Winter-App auf Kudowskis iPhone führt die Crew zu noch geöffneten Raststätten und Tankstellen, während der Fahrt erinnern sich die Reisenden an „Momente der Geborgenheit“. Robert empfindet solche Momente immer dann, wenn er sich am Meer oder an einem anderen Gewässer befindet, Annina erinnert sich gern daran, wie ihr Onkel sie mit ins Bergwerk genommen hat, wo er nach dem Rechten schaute und die Umkleideräume säuberte. Indem sie sich Geschichten aus ihrem Leben erzählen, kommen sich die drei so unterschiedlichen Unbekannten allmählich näher.
„Sie blickten auf die Fahrbahn, die, von ihren Füßen ausgehend, abfallend und aufsteigend und sich weich schlängelnd dem Horizont entgegeneilte. Nicht weit entfernt sahen sie den schwarzen Fleck, der Ritchie Blackmore war. Plötzlich kam es Robert so vor, als strichen weiche, schneeige Finger über sein Herz – ihn überkam eine große Freude. Und er empfand den anderen beiden gegenüber Dankbarkeit. Dafür, dass sie gemeinsam diese Reise angetreten hatten. Er hätte Annina in diesem Moment gern für einen Moment lang in einer Geste der Dankbarkeit sacht die Hand auf die Schulter gelegt. Und dasselbe sogar bei Kudowski getan.“ (S. 42f.) 
In einem Ambiente, das einen leichten Science-Fiction-Touch verströmt, lässt der junge Hamburger Autor Benjamin Lebert („Crazy“, „Flug der Pelikane“) drei gesellschaftliche Außenseiter gemeinsam einen unvergesslichen Road-Trip erleben. Dabei folgt Lebert weniger dem konventionellen Road-Movie-Szenario, sondern lässt seinen drei Figuren die Fahrt dazu nutzen, durch Erinnerungen ihr Leben zu reflektieren und die besonderen Momente darin herauszukristallisieren.
Dadurch leidet zwar der Erzählfluss in dieser ohnehin sehr kurzen Geschichte, aber dafür werden die jeweiligen Befindlichkeiten der drei Außenseiter umso deutlicher herausgearbeitet. Indem sie sich einander anvertrauen, werden sie schließlich zu Freunden, die durch die winterliche Reise auf wundersame Weise verwandelt werden. Lebert gelingt es, diese Transformation mit oft sehr poetischen Worten zu beschreiben und so den Leser auf magische Weise in dieses außergewöhnliche Szenario einzubinden.
Lesen Sie im Buch: Benjamin Lebert - Im Winter dein Herz

Toby Barlow – „Baba Jaga“

Sonntag, 6. Juli 2014

(Atlantik, 543 S., HC)
Der liebenswürdige Amerikaner Will Van Wyck arbeitet seit Jahren für eine Pariser Werbefirma, die in den 50er Jahren als Briefkastenfirma für die CIA fungiert. In seinen monatlichen Berichten fasst er für seinen Vorgesetzten Brandon Erkenntnisse über die Firmen zusammen, die der 31-Jährige ausspioniert, harte Fakten, die Rohstoffpreise, geschätzte Produktionszyklen und Einblicke in die Expansion eines Mischkonzerns dokumentieren. Doch als bei einem Auftrag die gesammelten Informationen in die falschen Hände gelangen, scheint Wills Karriere nicht nur in der Werbebranche den Bach hinunterzugehen.
Ablenkung verschafft ihm die hübsche Zoja, die sich zusammen mit der russischen Hexe Elga seit Jahrhunderten darauf spezialisiert hat, wohlhabende Männer für sich einzunehmen und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Nachdem sie ihren letzten Liebhaber etwas ungeschickt ins Jenseits geschickt und damit den Zorn ihrer Herrin auf sich gezogen hat, verwandelt sie den engagierten Polizisten Charles Vidot in einen Floh, als er den beiden Hexen auf die Schliche zu kommen schien, und taucht unter. Zoja, die seit Jahrhunderten nicht um einen Tag gealtert ist, verliebt sich in Will, vertraut aber zunächst auf die bewährten Zauber, um ihn an sich zu binden. Derweil versucht Vidot, als Floh über die Runden zu kommen.
„Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Er spürte die leise Berührung des Winds an seinem Körper und hörte das ferne Wiehern eines Pferdes. Als er zu sich kam, stellte er zu seinem Schrecken fest, dass sein winziger Körper im Begriff war, von Wills Kopf zu fallen, da die Haarsträhne, an der er nur locker hing, jetzt wild im Fahrtwind flatterte, der durch ein offenes Autofenster drang. Vidot zog mit aller Kraft und schaffte es, das Tau aus braunem Haar hinaufzuklettern und die Sicherheit der Kopfhaut zu erreichen. Als er sich wieder gesammelt hatte, registrierte er zu seiner Verärgerung, dass er noch immer in die Enge dieses Flohkörpers gefangen war, doch seine kurze Rückkehr ins Menschsein hatte seine Hoffnungen erheblich bestärkt, da er nun wusste, dass er im Wesentlichen, der Seele und dem Geist nach, nach wie vor ein Mann war. Alles Übrige war nur ein Taschenspielertrick.“ (S. 437) 
Da Will auf so leidenschaftliche und romantische Weise mit Zoja verbunden ist, hofft Vidot, dass der gegen ihn erwirkte Zauber wieder rückgängig gemacht wird und er in die Arme seiner Frau Adele zurückkehren kann, die sich derweil anderweitig vergnügt.
Überhaupt geht es in „Baba Jaga“ sehr turbulent zu. CIA und Hexenzauberei, romantische Liebe und purer Sex, Werbestrategien und verdeckte Polizeiermittlungen, Verwandlungen und Verwünschungen – all dies vermengt der in Detroit und New York lebende Toby Barlow mit großer Fabulierkunst zu einer fantasievollen, Magie-geschwängerten Tour de Force.
Lesen Sie im Buch: Tony Barlow - Baba Jaga

David Guterson – „Zwischen Menschen“

Montag, 9. Juni 2014

(Hoffmann und Campe, 208 S., HC)
Bereits in seinem gleich zum internationalen Bestseller avancierten und erfolgreich verfilmten Romandebüt „Schnee, der auf Zedern fällt“ hat der in Seattle lebende Schriftsteller David Guterson seine Fähigkeit demonstriert, die Psychologie zwischenmenschlicher Beziehungen auszuloten. Diese Stärke kommt auch in seinem neuen Erzählungsband „Zwischen Menschen“ zum Tragen, in dem Guterson sechs bereist in verschiedenen Zeitungen erschienene und vier bislang unveröffentlichte Geschichten zusammenfasst, in denen es jeweils um ganz konkrete menschliche Schicksale und ihre Beziehungen zu ihrer menschlichen Umwelt geht.
So macht sich in der Eröffnungsgeschichte „Mieterin“ ein Wohnungsbesitzer Gedanken über die neue Mieterin, Lydia Williams mit Namen und wegen ihrer Referenzen und des herausragenden Bonitätsratings erste Wahl des Maklers. Für den Vermieter ist Lydia Williams eine „geheimnisvolle Nichtexistenz, bislang ungreifbar, weil er sie noch nie gesehen hatte, aber Garantin, so hoffte er, beständiger Mieteinnahmen“. Er beginnt, diese Nichtexistenz mit Vorstellungen zu füllen, doch das fällt ihm so schwer, dass er sich dazu entschließt, per Email Kontakt zu ihr aufzunehmen und sie schließlich unter dem Vorwand, ein Ventil überprüfen zu wollen, in ihrer Wohnung zu besuchen. Das Zusammentreffen desillusioniert den Mann, schließlich stammen er und sie aus unterschiedlichen Generationen und Kulturen.
Diese Unterschiede zwischen den Menschen prägen auch die folgenden Geschichten. In „Paradise“ treffen sich zwei Menschen, die sich über Match.com kennengelernt haben, eine Soziologin, die an der Seattle University über soziale Netzwerke forscht, und ein Handelsrechtler, der auf Wertpapierbetrug spezialisiert ist. Doch nach einigen Dates wird sie immer noch von Erinnerungen an ihren Exfreund Clifton heimgesucht, der auf tragische Weise ums Leben kam.
In „Still“ bietet sich eine junge Frau namens Vivian Lee dem alternden Lou Calhoun als Hundesitterin an und übernimmt auch bald einige Besorgungen für ihn, bis er in ein Hospiz muss, während „Foto“ die Geschichte des Ehepaars Hutchinson erzählt, das ihren Sohn an Bord der „Fearless“ verloren hat und nun Besuch vom Kapitän des Schiffes bekommt, der den Hutchinsons die näheren Umstände des Unglücks erzählt.
Schließlich spielt „Krasawize“ in Berlin und handelt von einem alten Mann, der ein Dreivierteljahrhundert nach seiner Geburt als jüdisches Kind mit seinem Sohn nach Berlin zurückkehrt und sich dort von der hübschen Erika Wolf die Sehenswürdigkeiten zeigen lässt.
David Guterson begleitet in seinen zehn Geschichten seine meist älteren Protagonisten, die bereits einiges erlebt, oft schon persönlich mit dem Tod zu tun gehabt und ihre ganz eigene Sicht auf die Welt haben, in ganz konkreten Situationen, in denen Erfahrungen, Vorurteile und Missverständnisse die geschilderten Ereignisse prägen und selten ein versöhnliches Ende nehmen. Guterson schlägt dabei einen lakonischen, oft melancholischen Ton an, der im Gegensatz zu der distanzierten Sachlichkeit steht, mit dem der Autor seinen Figuren über die Schulter blickt. Für Guterson-Fans und Freunde der gepflegten amerikanischen Short Story ist „Zwischen Menschen“ ein Muss!
Leseprobe David Guterson – „Zwischen Menschen“

John Niven – „Straight White Male“

Samstag, 31. Mai 2014

(Heyne, 384 S., Pb.)
Der gefeierte irische Roman- und Drehbuchautor Kennedy Marr bekommt immer wieder Schwierigkeiten, weil der in Hollywood zwischen den Reichen und Schönen lebende Mittvierziger seinen Schwanz nicht in der Hose lassen kann. Das hat ihn bereits zwei Ehen gekostet und ihm nun ein paar Therapiesitzungen bei Dr. Brendle eingebrockt, weil er sich im Powerhouse mit dem Freund seinem gerade auserkorenen Opfer prügeln musste. Auch sonst sieht es bei dem erfolgsverwöhnten Schwerenöter nicht besonders rosig aus, weil er mehr Geld ausgibt, als durch seine Drehbücher und Überarbeitungen hereinkommt.
Als die Bundessteuerbehörde auf die Zahlung von 1,4 Millionen Dollar pocht, hecken Kennedys Agenten einen Plan aus, der nicht nur auf die Reduzierung seiner immensen Ausgaben abzielt, sondern auch die Erledigung etlicher Aufträge vorsieht, mit denen Kennedy arg im Verzug ist. Da kommt die Nachricht, dass Kennedy in London für den F. W. Bingham Award nominiert ist, wie ein Segen. Allerdings erhält er die steuerfreien 500.000 Pfund nur, wenn er ein Semester lang einen Kurs in „Kreatives Schreiben“ unterrichtet, was der Universität von Deeping wiederum eine bessere Reputation verschaffen soll. Allerdings unterrichtet dort auch Kennedys Ex-Frau Millie, die dort mit der gemeinsamen Tochter Robin lebt. Doch schon auf dem Flug nach England verwickelt sich Kennedy in eine schlagzeilenträchtige Schlägerei und jagt an seiner neuen Wirkungsstätte weiterhin jedem Rock nach, strapaziert über Gebühr seine Leber und legt sich mit der Crew an, die gerade Teile des Films in England dreht, zu dem Kennedy das Drehbuch verfasst hat. Gerade von Millie wird er auf seinen unsteten Lebenswandel angesprochen, der ihn von seiner ganzen Familie entfremdet hat.
„Auf dem Papier, dachte er zum zigsten Mal, sollte doch eigentlich alles gut sein. Eigentlich müsste doch alles prima für ihn laufen. Viel Geld, ein interessanter, glamouröser Job und haufenweise begehrenswerte Frauen, die sich zu ihm hingezogen fühlten. Und dennoch schien er in einer sehr überzeugenden Reproduktion der Hölle gelandet zu sein. Offenbar hatte er ein ausgeprägtes Interesse daran, ja, er befand sich auf einer regelrecht fanatischen Mission, sein Leben so schwierig wie irgend möglich zu gestalten. Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass man zu Sex auch Nein sagen kann? Kennedy dachte ernsthaft über diese Frage nach. Hatte er tatsächlich jemals einen Fick abgelehnt? Irgendwann musste er das doch sicher mal getan haben? O ja, damals … obwohl … eine Chance verstreichen zu lassen, weil sich dadurch eine bessere ergab, zählte vermutlich nicht.“ (S. 274f.) 
Als gelegentlicher Drehbuchautor (u.a. zur Verfilmung seines eigenen Bestsellers „Kill Your Friends“) hat der britische Autor John Niven sicher eine mehr als ungefähre Vorstellung davon, wie es im Filmbusiness läuft. In seinem neuen Roman „Straight White Male“ lässt Niven seinen Protagonisten alle Höhen und Tiefen des Starruhms durchleben.
Kennedy Marr ist mit wenigen Bestsellern und Drehbüchern ein schwerreicher Mann geworden, der nicht nur sein Geld für teure Klamotten, exklusives Essen und Partys herausschleudert, sondern auch Verachtung für fast jeden empfindet, der meint, seine Drehbücher bedürfen einer Überarbeitung. Wie Kennedy sich durch die aufgeblasene Hollywood-Szene flucht, säuft und bumst, macht einfach höllisch Spaß. Er teilt mächtig aus, muss aber wenig einstecken. Erst als sein ruinöser finanzieller Zustand einen längeren Aufenthalt in seiner alten Heimat erfordert, muss sich der gefeierte Autor den Dämonen seiner Vergangenheit stellen und sich mit seiner Familie aussöhnen, die ganz alltägliche Probleme zu bewältigen hat.
Obwohl „Straight White Male“ vor Testosteron nur so übersprüht und ungemein witzig geschrieben ist, machen sich vor allem im letzten Drittel auch nachdenkliche und tiefsinnige Töne breit, die den Roman auf ein neues Level heben. Am Ende macht Nivens Anti-Held eine bemerkenswerte Wandlung durch, die keinen Leser unberührt lassen dürfte.
Leseprobe John Niven "Straight White Male"

Jack Ketchum – „Lebendig“

Montag, 26. Mai 2014

(Heyne, 224 S., Tb.)
Auf dem Weg zur einzigen noch auf der West Side von New York übrig gebliebenen Abtreibungsklinik wird die schwangere Sara von den Abtreibungsgegnern Stephen und Kath direkt vor der Klinik entführt, während ihr Geliebter Greg noch einen Parkplatz sucht. Als Sara aufwacht, befindet sie sich in einer sargähnlichen Kiste, doch das bedeutet erst den Anfang ihres Martyriums.
Wie Stephen und Kath ihr mitteilen, gehören sie der einflussreichen „Organisation“ an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, todgeweihte Kinder davor zu retten, von gottlosen Müttern abgetrieben zu werden. Das kinderlose Paar droht Sara damit, dass die Organisation ihre gesamt Familie zu Schaden kommen lässt, sollte sie einen Fluchtversuch unternehmen. Vor allem Stephen scheint daran Gefallen zu finden, die Gefangene nicht nur auszupeitschen, sondern sich immer neue Arten einfallen zu lassen, Sara zu quälen. Neben den üblichen sexuellen Demütigungen erfindet er immer neue Techniken und Instrumente, ihr unvorstellbare Qualen zuzufügen.
„Sie würde hier alt werden. Das Baby dagegen wuchs allmählich heran. Ihr süßes kleines Mädchen. Das sie hatte umbringen wollen. Nein, verdammt noch mal, das war seine Masche. Eine Abtreibung war der Beweis dafür, dass sie, Sara Foster, Herrin über ihren Körper war. Mit ihrem freien Willen eine Entscheidung über ihr Schicksal treffen konnte. Dieser allumfassende, aufgezwungene Kontrollverlust dagegen, der so weit reichte, dass sie nicht mal mehr pinkeln konnte, ohne sich selbst dabei zu beschmutzen, und nur mit seiner Erlaubnis essen oder trinken durfte – das kam einem Mord schon viel näher. Man konnte eine Persönlichkeit, eine Identität ebenso töten wie einen menschlichen Körper.“ (S. 117f.) 
Mit gerade mal 180 Seiten stellt die ursprünglich 1998 veröffentlichte Geschichte „Right to Life“ eine der kürzesten Werke aus dem Schaffen des amerikanischen Autors Dallas Mayr alias Jack Ketchum dar, weshalb der Heyne Verlag in der deutschen Erstausgabe als Bonus noch die beiden Kurzgeschichten „Tapferes Mädchen“ und „Rückkehr“ (beide von 2002) und ein Werkverzeichnis der bislang bei Heyne erschienenen Romane des kompromisslosen Horror-Schriftstellers angehängt hat.
Während die beiden Kurzgeschichten längst nicht Ketchums eigentliche Stärken ausspielen, nämlich die packend-raffinierte Beschreibung von Extremsituationen, in denen seine ProtagonistInnen geraten, schildert „Lebendig“ zunächst ein recht konventionelles Entführungs- und Folter-Szenario mit Ketchum-typischer Drastik, bevor es psychologisch interessant wird, und zwar nicht wie erwartet auf der Opfer-Täter-Ebene, sondern vor allem in der Beziehung des Täterpaars zueinander. Natürlich beschreibt Ketchum das Foltern in einer expliziten Deutlichkeit, die Horror-Fans anspricht, aber faszinierend ist „Lebendig“ vor allem durch die psychologische Dimension, die sich zwischen den Beteiligten entwickelt.
Leseprobe Jack Ketchum "Lebendig"

David Guterson – „Der Andere“

Freitag, 23. Mai 2014

(Hoffmann und Campe, 352 S., HC)
Der 16-jährige Neil Countryman aus Seattle besucht 1972 die Roosevelt Highschool im Norden der Stadt und hat sich in der Nische der 800-Meter-Läufer eingerichtet, wo man weder schnell sein noch die Ausdauer eines Langstreckenläufers besitzen muss. Bei einem Wettkampf gegen die Eliteschule Lakeside lernt er John William Barry kennen und freundet sich mit ihm an. Obwohl sie aus verschiedenen Welten stammen, entdecken sie schnell Gemeinsamkeiten. Sie fischen Münzen aus dem Brunnenam Pacific Science Center, rauchen Dope und wandern in die Berge, wobei sie über Literatur und Philosophie diskutieren.
Aus diesen oft mehrtägigen Exkursionen wird bald mehr, zumindest für John. Während Neil als junger Erwachsener eine Karriere als Englischlehrer verfolgt und eine Familie gründet, wendet sich John von der Welt ab und zieht ins Tal des South Fork Hoh, wo er sich eine Höhle einrichtet und wie ein Eremit zu leben beginnt. Neil Countryman besucht ihn regelmäßig, versorgt seinen Freund mit Konserven und Toilettenpapier.
„In meiner Erinnerung sehe ich John William in seinem Gartenstuhl sitzen, barfuß, mit Bart, die Haare im Gesicht und vorsichtig neues Feuerholz nachlegend. Und ich erinnere mich, dass wir unsere Joints in eine Haarnadel klemmten, die ein früherer Bewohner dieser modrigen Bruchbude im Teppichflor verloren und die John William gefunden und aufbewahrt hatte. Ein College-Student, der aussteigt und barfuß in einem Wohnmobil lebt, ein vom Schicksal Begünstigter, der die Einfachheit sucht.“ (S. 154 f.) 
David Guterson, der gleich mit seinem erfolgreich verfilmten Debütroman „Schnee, der auf Zedern fällt“ international berühmt wurde, schildert in seinem neuen Roman die außergewöhnliche Freundschaft zwischen zwei ganz unterschiedlichen jungen Männern, die nicht nur aus verschiedenen Gesellschaftsschichten stammen, sondern auch ihre eigenen Lebensentwürfe verfolgen, die recht wenig gemein haben. Aber wie Guterson seinen Ich-Erzähler Neil einmal sagen lässt: „In einer Freundschaft ändert man weniger eigenständig die Bedingungen, als dass man dabei zusieht, wie die Bedingungen sich ändern.“
„Der Andere“ liest sich deshalb so faszinierend, weil die Freundschaft unter diesen starken Veränderungen, die die Männer durchleben, so unerschütterlich bleibt und bis zum Schluss immer neue Facetten der Persönlichkeiten hervorbringt. Vor allem der lange Monolog von Johns Vater zum Ende hin bringt noch einmal richtig Farbe in das zurückliegende Leben des letztlich berühmten „Einsiedlers von Hoh“. Dazu gibt es etliche literarische Exkurse und Einblicke in die Lehren der Gnosis, selbst ein kriminalistisches Element fehlt nicht, als es um die Frage geht, ob Neil Countryman den Tod seines Blutsbruders mit zu verantworten hat.

J. R. Moehringer – „Knapp am Herz vorbei“

Sonntag, 4. Mai 2014

(S. Fischer, 444 S., HC)
Nach siebzehn Jahren im Gefängnis kommt der berühmte Bankräuber Willie Sutton an Weihnachten 1969 aus dem Gefängnis frei. Vor den Gefängnistoren tauschen Dutzende von Journalisten Fakten und Geschichten aus der vier Jahrzehnte umfassenden Karriere des Volkshelden aus, der bei seinen Überfällen nie einen Schuss abgab und seine Verbrechen mit der Leidenschaft eines Künstlers ausführte. Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen und spielte Katz und Maus mit Polizisten und FBI-Agenten. Sutton war für seine elegante Kleidung, seine Leidenschaft für gute Bücher und sein schelmisches Lächeln bekannt.
Ungeklärt blieb nur die Frage, ob der für seine Gewaltlosigkeit bekannte Willie the Actor an dem brutalen Mord an Arnold Schuster beteiligt gewesen ist, nachdem sich der meistgesuchte Mann Amerikas und der vierundzwanzigjährige Küstenwachenveteran drei Wochen zuvor in der U-Bahn begegnet waren. Bevor Sutton seine Freiheit so richtig genießen kann, hat er allerdings eine Verpflichtung zu erledigen. Mit dem Flugzeug reist er von Attica nach New York, wo einen Tag lang einen Journalisten und einen Fotografen exklusiv an entscheidende Wegpunkte seines Lebens führt. Schreiber und Knipser sind natürlich vor allem an Suttons möglicher Beteiligung an dem Schuster-Mord interessiert, doch Sutton hat seine eigene Karte mit Punkten skizziert, die es vorher zu besuchen gilt. In der Gold Street in Brooklyn beginnend, wo Sutton am 30. Juni 1901 zur Welt gekommen ist, begleiten die beiden Zeitungsleute Sutton zur Schule, wo er seine beiden Freunde Happy Johnston und Edward Buster Wilson kennenlernte, mit denen er 1919 bzw. 1923 verhaftet worden ist, zu Banken und Geschäften, die er ausgeraubt hat, und zur Promenade auf Coney Island, wo er schließlich seiner großen Liebe Bess begegnete.
„Willie betrachtet Bess. Ihre Augen – Teiche aus Blau und Gold. Er spürt, wie sich die Erde zum Mond neigt. Er beugt sich vor, küsst sie sanft auf die Lippen. Seine Haut kitzelt, sein Blut fängt Feuer. In dieser Sekunde, das weiß er, in diesem unvorhergesehenen Geschenk von einem Augenblick wird seine Zukunft neu geschrieben. Das hier war nicht vorgesehen. Aber es geschieht. Ist wirklich.“ (S. 104) 
Wie schon in seinem gefeierten Debütroman „Tender Bar“ hat Pulitzer-Preisträger J. R. Moehringer auch in seinem zweiten Roman eine wahre Begebenheit als Ausgangspunkt für eine packende Geschichte genommen, deren Lücken er fantasievoll mit Leben gefüllt hat. Während Willie the Actor den beiden namenlosen Zeitungsfritzen seine Lebensgeschichte erzählt, wird die Erzählung immer wieder von Willies Erinnerungen an die rekapitulierte Zeit durchbrochen und ergänzt, so dass Seite für Seite das Portrait eines faszinierenden Mannes entsteht, dessen Dasein letztlich ganz auf die unerfüllte Liebe zu Bess ausgerichtet war.
Suttons Erzählungen wirken dabei so lebendig, dass weder Schreiber noch der Leser an der Wahrheit dessen zweifeln, was Sutton zum Besten gibt. Erst zum Ende hin, als es um den ungeklärten Mord an Arnold Schuster geht, fängt diese Gewissheit zu bröckeln an. Doch ungeachtet dessen, was an dieser farbenfrohen Geschichte wahr oder erfunden sein mag, gefällt „Knapp am Herz vorbei“ vor allem durch die sympathische Hauptfigur, der man leicht abnimmt, dass sie eine Art moderner Robin Hood gewesen ist, vor allem aber ein verzweifelt Liebender, der stets ein großes Faible für die große Literatur hegte.  
Moehringers „Knapp am Herz vorbei“ erweist sich als ein eindringlich geschriebenes Biopic mit toller Beobachtung für die damalige Zeit und feinem Gespür für die sympathischen Figuren.
Leseprobe J. R. Moehringer - „Knapp am Herz vorbei“

Tess Gerritsen - (Rizzoli & Isles: 9) „Grabesstille“

Freitag, 18. April 2014

(Limes, 446 S., HC)
Bei einer Stadtführung durch Bostons Chinatown, in der Billy Foo seinem jungen Publikum schaurig-schöne Gruselgeschichten erzählt, finden die Kinder im Rinnstein eine abgeschlagene Hand. Die Mordkommission unter Leitung von Detective Jane Rizzoli entdeckt in der Nähe nicht nur eine Heckler-&-Koch-Automatikpistole mit Schalldämpfer, sondern auf dem Dach eines Nachbarhauses auch die dazugehörige Leiche einer Frau. Ein am Tatort liegender Autoschlüssel führt zu einem Navigationsgerät, in dem genau zwei Adressen gespeichert sind – die eine führt zu einer Kampfsportschule in Chinatown unter der Führung einer gewissen Iris Fang, die zweite zum pensionierten Polizisten Lou Ingersoll.
Wie die weiteren Ermittlungen ergeben, hat Ingersoll vor fast zwanzig Jahren in einem legendären Amoklauf ermittelt, bei dem der Koch Wu Weimin eines Restaurants mehrere Gäste und dann sich selbst erschoss. Eines der Opfer war der Ehemann von Iris Fang. Der Fall wurde zwar schnell zu den Akten gelegt, doch ungeklärt blieb das Verschwinden von zwei Töchtern der Opfer. Als Jane den Fall mit ihrem Partner Frost und der Unterstützung von Gerichtsmedizinerin Maura Isles wieder aufrollt, tauchen aber neue Spuren am damaligen Tatort auf sowie die Spur zu weiteren verschwundenen Mädchen. Offensichtlich haben sich die Dinge längst nicht so zugtragen, wie der damalige Polizeibericht festgehalten hatte.
„Jane dachte an die Waffe, die in Wu Weimins Hand gefunden worden war, eine Glock mit Gewindelauf. Der Mörder hatte einen Schalldämpfer benutzt, um das Geräusch der ersten acht Schüsse zu unterdrücken. Erst nachdem seine Opfer alle tot waren, schraubte er den Schalldämpfer ab, legte die Waffe in Wu Weimins leblose Hand und feuerte die letzte Kugel ab, um sicherzustellen, dass an der Haut des Toten Schmauchspuren gefunden wurden. Ein perfektes Verbrechen, dachte Jane. Bis auf die Tatsache, dass es eine Zeugin gab.“ (S. 371) 
Ermittlerin Jane Rizzoli und Gerichtsmedizinerin Maura Isles sind ein eingespieltes Team. „Grabesstille“ ist bereits der neunte Fall, an dem die beiden Freundinnen zusammen arbeiten, allerdings kreuzen sich ihre Wege hier selten. Das liegt vor allem daran, dass Maura zu Beginn bei einer Gerichtsverhandlung mit ihrer Aussage dafür sorgt, dass ein Cop, der einen gewalttätigen Gefangenen getötet hatte, ins Gefängnis muss, und deshalb beim Boston PD keine guten Karten mehr hat. Allerdings bringt Maura nach ihrer Durchsicht der Ermittlungsakten zum „Red Phoenix“-Massaker vor zwanzig Jahren Jane und ihre Kollegen dazu, den Tatort noch einmal zu untersuchen. Tess Gerritsen hat in „Grabesstille“ erstmals die Mythen und Märchen aufgegriffen, die ihr einst von ihrer chinesischen Großmutter erzählt wurden. Das bringt auf jeden Fall ein fantastisches Element in die ohnehin spannende Handlung mit ein, in der wieder viele Spuren zu verfolgen sind, aber nur wenige offensichtliche Verdächtige auszumachen sind. Die Ermittlungen laufen so in verschiedene Richtungen, dass nur wenig Raum bleibt, um die privaten Angelegenheiten der Hauptfiguren zu thematisieren. Janes Mann, FBI-Ermittler Gabriel Dean, taucht nur einmal kurz unangemeldet in der Gerichtsmedizin auf, während Maura für ein paar Tage Besuch von Julian „Rat“ Perkins bekommt, einem Teenager, der allzu lange in den Wäldern von Wyoming herumstreifen musste und Maura das Leben gerettet hatte. Abgesehen von diesen kurzen Exkursen in das Privatleben von Rizzoli und Isles bietet „Grabesstille“ gewohnt spannende Krimi-Lektüre, die durch den Einfluss chinesischer Mythen durchaus an Farbigkeit gewinnt. 

Anthony McCarten – „funny girl“

Freitag, 11. April 2014

(Diogenes, 375 S., HC)
Die zwanzigjährige Azime Gevaș lebt bei ihren Eltern im Londoner Stadtteil Green Lanes, die zwar aus dem kurdischen Teil der Türkei stammen, sich aber für echte Briten halten. Statt weiterhin für einen spärlichen Lohn im Möbelladen zu arbeiten, den ihr Vater Aristot unterhält, und sich von einem Heiratsvermittler, den ihre Mutter Sabite engagiert hat, verheiraten zu lassen, träumt Azime von einem selbstbestimmten Leben und einer Karriere als Komikerin. Den Weg dazu ebnet ihr einziger männlicher Freund Deniz, dessen unbekümmerte wie hemmungslose Lebensweise sie bewundert.
Ob sie in ihn verliebt ist, kann sie nicht so recht bestätigen. Aber sie fängt an, ihn zu den Comedy-Kursen zu begleiten, die er besucht, und schließlich wird auch Azime von der Kursleiterin Kirsten ermuntert, ihre Witze auf der Bühne zu präsentieren. Mit ihrer Show begeistert sie zwar auch einen Journalisten vom „Guardian“, doch nach den Selbstmordattentaten in verschiedenen Londoner U-Bahn-Stationen bekommt Azimes auch explizite Morddrohungen zugeschickt. Doch Azime muss nicht nur im Spannungsfeld familiärer Traditionen und Erwartungen einerseits und eigenen Lebensverwirklichungsstrategien ihren Weg finden, sie versucht auch, die Hintergründe des Todes einer ihrer Freundinnen aufzudecken.
Da das Mädchen in einen italienischen Jungen verliebt gewesen ist und vom Balkon der elterlichen Wohnung im achten Stock gestürzt ist, geht Azime davon aus, dass der Vater für die Tat verantwortlich ist. Schließlich schlägt Azimes große Stunde. Bei einer Comedy-Show soll sie vor 15000 Leuten auftreten!
„Schon früher war es eine Qual für sie gewesen, sich Material für ihre Auftritte auszudenken, doch jetzt musste sie sich an den irren Gedanken gewöhnen, dass ihre Witze Tausende zum Lachen bringen sollten. Als sie nicht weiterkam, sagte sie ihrer Mutter, sie gehe spazieren, und setzte sich in ein Café, ein wenig abseits, versuchte erneut zu arbeiten, ließ sich von Leuten, die kamen und gingen, inspirieren. Die bunte Vielfalt ihres Viertels brachte neue Ideen in ihr hervor und weckte Erinnerungen, an Deniz, Banu, Döndü, auch an das tote Mädchen und ihren Vater Omo. Sie musste an etwas denken, was Kirsten ihr beigebracht hatte: ‚Das Publikum, für das du schreibst, besteht nur aus einer einzigen Person, dir selbst. Mach es persönlicher und damit unverwechselbar. Red über Dinge, über die du – und nur du – reden kannst, Sachen, über die sonst keiner etwas weiß, über die keiner außer dir glaubwürdig reden kann.‘“ (S. 331) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten hat bereits mit seinem Bestseller „Englischer Harem“ eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass er ebenso humorvoll wie tiefsinnig den Clash of Cultures mit einer originellen Geschichte thematisieren kann. Mit der ganz konkreten Geschichte einer jungen Muslimin, die mit ihrer Familie in London lebt, macht McCarten auf höchst amüsante Weise deutlich, wie problematisch das Leben zwischen Tradition und Moderne, zwischen Fremdbestimmung und Selbstverwirklichung sein kann. Natürlich spitzt McCarten diesen Spagat zu, indem er seine sympathische wie eigensinnige Protagonistin einen überaus unkonventionellen Berufswunsch nachgehen lässt, aber gerade durch die pointierten Witze, die Azime ihrem Publikum präsentiert, werden die großen Themen, mit denen sich junge Muslime beschäftigen, besonders deutlich herausgearbeitet.
Neben Azimes wirklich komischen Auftritten, die die muslimische Kultur in einem ganz ungewohnten Licht erscheinen lässt, bewahrt sich McCarten aber auch einen nachdenklichen Ton, wenn es vor allem darum geht, wie muslimische Frauen von ihren Männern behandelt werden. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die wundervolle, Mut machende Geschichte einer jungen Frau, die ihre Stellung in ihrer Familie ebenso überdenkt wie ihre ersten romantischen Gefühle und die Gestaltung ihrer Zukunft.
Leseprobe Anthony McCarten - "funny girl"

Fabio Volo – „Lust auf dich“

Dienstag, 8. April 2014

(Diogenes, 301 S., Pb.)
Eigentlich hat Elena alles, was sich eine Frau nur wünschen kann: Nach dem Studium hat sie sich in einer Mailander Firma zur Leiterin der Marketingabteilung hochgearbeitet und mit Paolo einen Mann geheiratet, den sie bis zum Ende ihres Lebens lieben könnte, wie sie glaubte. Doch als sie bei einer Präsentation die Blicke eines attraktiven Mannes auf sich spürt und diesen in London näher kennenlernt, beginnt sie ihre Ehe zu hinterfragen und lernt eine ganz andere Frau in sich kennen.
Je mehr sie sich diesem Fremden hingibt, mit dem sie sich ausschließlich in dessen Wohnung trifft, je mehr sie die Lust und Leidenschaft zu schätzen weiß, die diese Affäre ihr bereitet, desto mehr ist sie sich dem öden Eheleben bewusst, in das sich die einst so intensive Liebe verwandelt hat. Elena hasst die Fahrten zu ihrer Schwiegermutter, die ihren Sohn immer noch so verhätschelt, als sei er ein Kind, und Elena mit mehr oder weniger versteckten Vorwürfen attackiert. Noch mehr aber hasst sie das, was die Ehe aus ihr selbst gemacht hat. Sie stört sich an dem fehlenden Interesse, das ihr Paolo entgegenbringt, der nach der Arbeit nur noch müde aufs Sofa fällt und vor der Glotze abhängt, während er Elenas Wünsche nach Gesprächen nicht ernst nimmt. Gespräche sind nicht unbedingt das, was Elena mit ihrer Affäre verbindet, aber aus dem sinnlichen, zärtlichen, leidenschaftlichen und experimentellen Sex, den sie nun erlebt, erwächst ein ganz neues Selbstvertrauen.
„Ich denke, dass meine Lust bei ihm so intensiv und tief ist, weil mein Körper in seinen Händen zum ersten Mal erhört wird. Er beherrscht das Spiel und weiß, wie er meine Lust immer mehr steigern kann, so dass ich mich so stark fühle wie er. Wenn wir miteinander schlafen, sind wir eins, und ich habe nie das Gefühl, passiv zu sein, auch wenn mir bewusst ist, dass er die treibende Kraft ist. Ich habe gelernt, dass es Teil eines Spiels ist, das auch ich lenke. Meine Unterwerfung ist ein Geschenk, das ich ihm bereite, keine Niederlage. Mit ihm zu schlafen ist eine geheimnisvolle Reise. Er führt mich, er reißt mich mit, geleitet mich an Orte, die ich nicht kenne und nie besucht habe.“ (S. 122) 
Allerdings scheint sich Elenas Ekstase in eine Verliebtheit zu wandeln, die die ungeschriebenen Grenzen ihrer Beziehung überschreitet. Das Objekt ihrer Begierde ist von Elenas Drang, immer mehr Kontrolle über das zu übernehmen, was sie miteinander verbindet, gar nicht begeistert …
Der italienische Schriftsteller, Schauspieler, Fernseh- und Radio-Moderator Fabio Volo, der sowohl in Mailand als auch in Rom, Paris und New York zuhause ist, hat in seinen bisherigen Romanen „Einfach losfahren“, „Noch ein Tag und eine Nacht“ sowie „Zeit für mich und Zeit für dich“ stets die Lebens- und Liebesgeschichten von jungen Männern beschrieben. In „Lust auf dich“ nimmt er erstmals die Perspektive einer Frau ein, die sich nicht nur durch Tagebuchaufzeichnungen vorstellt, sondern auch die darüber hinaus erwähnenswerten Ereignisse und Gedanken aus der Ich-Perspektive schildert. Sukzessive beschreibt Volo die Metamorphose einer Frau, die sich durch eine aufregende Affäre zu spiegeln beginnt, wie sich die Ehe mit Paolo gestaltet und welch neue Seiten die Beziehung zu einem neuen Mann in ihr zum Vorschein bringt.
Der Titel „Lust auf dich“ deutet schon an, dass Volo dabei recht freizügig zu Werke geht, doch lässt er dem Leser durchaus genügend Spielraum, die erotischen Szenen mit eigenen Phantasien aufzufüllen. Letztlich dient der Sex wie so oft nur als Mittel zum Zweck, als Schlüssel zu einer Tür, hinter der Elena ganz neue Seiten ihrer Persönlichkeit zu entdecken beginnt, die in ihrer Ehe nie zum Vorschein gekommen sind. Auf seine typisch leichte, doch packende Art beschreibt Volo die vielschichtigen Konsequenzen, die die Begegnung zweier Menschen nach sich ziehen kann – in positiver wie negativer Hinsicht.
Leseprobe Fabio Volo - "Lust auf dich"

Robert Ludlum, Eric Van Lustbader – “Der Bourne Verrat”

Sonntag, 6. April 2014

(Heyne, 543 S., HC)
Gerade als Jason Bourne im schwedischen Sadelöga von Christien Norén beim Angeln über die Aktivitäten auf den Stand gebracht wird, die seine Pläne mit Don Fernando Herrera betreffen, taucht ein menschlicher Körper aus dem Wasser auf, der sich ähnlich wie Bourne damals an nichts erinnern kann. Wie sich herausstellt, war die Mossad-Agentin Rebekka hinter dem Unbekannten her, der selbst mehrere Agenten-Identitäten in sich zu vereinen scheint.
Währenddessen ist US-Verteidigungsminister Christopher Hendricks einer hochtechnisierten Bedrohung auf der Spur, auf die er das Treadstone-Projekt unter Leitung der beiden Direktoren Peter Marks und Soraya Moore sowie den IT-Experten Dick Richards ansetzt. Richards soll eine fast mythische Figur namens Nicodemo ausfindig machen, der vor zehn Jahren aus dem Nichts aufgetaucht ist und für den multinationalen Konzern Core Energy tätig gewesen ist, das sich zum führenden Unternehmen im boomenden Energiemarkt entwickelte. Norén und Don Fernando vermuten, dass Core Energy kurz vor dem Abschluss eines Deals steht, der dem Unternehmen einen enormen Vorsprung auf dem Markt für neue Energien verschaffen würde. Sie haben bereits mehrere Minen mit seltenen Erden aufgekauft. Während Tom Brick die Gesellschaft in der Öffentlichkeit vertritt, vermutet Don Fernando, dass Brick seine Anweisungen von Nicodemo erhält, der außerhalb des Gesetzes agieren könnte und so zu einer ganz neuen Art von Terroristen zählen würde. Schließlich könnte es sich keine schlagkräftige Armee der Welt leisten, auf Waffen zurückzugreifen, die nicht mit seltenen Erden hergestellt werden. Hier kommen sowohl der Mossad als auch der chinesische Minister Ouyang ins Spiel, die vor dem Abschluss ihres Deals allerdings noch eine Hürde nehmen müssen, nämlich Jason Bourne auszuschalten. An anderer Front sorgt Dick Richards innerhalb der Treadstone-Mauern dafür, seiner Organisation von innen heraus einen schweren Schlag zu versetzen …
„In den Regierungsbehörden konnte man nichts erreichen. Andere ernteten die Lorbeeren für seine Arbeit, die er für ein bescheidenes Gehalt leistete. Der Präsident behandelte ihn wie einen Hund, der gelegentlich gestreichelt, aber ansonsten an der kurzen Leine gehalten wurde. Soraya und zum Teil auch Peter begegneten ihm misstrauisch und herablassend. Ihnen konnte er es nicht einmal verübeln – schließlich war er bei Treadstone, um sie auszuspionieren. Immerhin schienen sie bereit zu sein, seine Arbeit zu würdigen, falls er sich als loyal erwies.“ (S. 389) 
Wer die Agenten-Thriller des 2001 verstorbenen Bestseller-Autors Robert Ludlum kennt, weiß um den turbulenten Start in seinen Romanen ebenso wie um den verschachtelten Aufbau seiner Geschichten. „Der Bourne Verrat“ besticht zwar durch einen furiosen Start, doch braucht der Leser etwas Geduld, um durch die oft nur kurz angerissenen, insgesamt recht komplexen Handlungsstränge durchzusteigen. Ludlum und sein Erbe Van Lustbader machen sich nicht die Mühe, ihre Figuren sorgfältig einzuführen. Oft genug wird der Hintergrund ihrer Tätigkeiten erst im Verlauf der weiteren Handlung erklärt. Wer sich von diesen Defiziten aber nicht abschrecken lässt, bekommt gewohnt solide Agenten-Action geboten, in der die Protagonisten quer über alle Kontinente aktiv sind, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen.
Leseprobe Robert Ludlum/Eric Van Lustbader - "Der Bourne Verrat"

Tomi Ungerer – „Babylon“

Freitag, 4. April 2014

(Diogenes, 112 S., Klappenbroschur im Großformat)
Seit der 1931 in Straßburg geborene Tomi Ungerer Mitte der 50er Jahre in New York den Grundstein für seine Karriere als international gefeierter wie gefürchteter Zeichner, Maler, Schriftsteller und Werbegrafiker legte, ist ein umfangreiches Werk entstanden, das sich ganz unterschiedlichen Themen widmete. Nach dem durchschlagenden Erfolg seines ersten illustrierten Kinderbuchs „The Mellops go flying“ (1957) spielte der von dem Cartoonisten Saul Steinberg und Zeichner James Thurber inspirierte Ungerer mit einer Vielzahl von zeichnerischen Stilen und schockierte die Kunstszene Mitte der 60er Jahre mit den Cartoonbänden „Geheimes Skizzenbuch“ und „The Party“, in denen er auf drastisch-satirische Weise mit der New Yorker Schickeria abrechnete.
Während der Künstler in seinen einfühlsam erzählten Kinderbüchern immer wieder für die Eigenständigkeit, Neugierde und Selbstverwirklichung von Kindern eintrat, stellte er auf der anderen Seite regelmäßig den Potenzwahn und die Gier in der vermeintlich zivilisierten Erwachsenenwelt zur Schau, wobei er vor allem die Mechanisierung sexueller Wünsche in den Vordergrund stellte.
Auch in „Babylon“, dem erstmals 1979 von Diogenes veröffentlichten Band mit Zeichnungen, die so faszinierend wie schockierend zugleich sind, blickt Ungerer tief in die Abgründe der menschlichen Seele und offenbart mit kundigen Strichen die bis ins hohe Alter ungehemmte Sexlust, die bei Ungerer selbst mit dem Tod kokettiert, das Groteske menschlicher Sehnsüchte nach Macht und Anerkennung und Zurschaustellung bürgerlicher Statussymbole.
„Bilder wie Atommüll, Karikaturen einer Welt, die sich selbst karikiert, Karikaturen im Quadrat, Karikaturen hoch zwei. Hieroglyphen des Schreckens: ›Und sieh! Und sieh! An weißer Wand, da kam's hervor wie Menschenhand; und schrieb, und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.‹ Was der Prophet Daniel dem König von Babylon deutete: dessen Zukunft, deutet Ungerer uns: unsere Zukunft. Sie erscheint auf seinen Blättern ... Den Mut, die folgenden Seiten zu betrachten, musst du, lieber Leser und Kunstfreund, nun aufbringen. Auch du bist ein Zeitgenosse. Ich weiß, es macht keinen Spaß. Möglicherweise wirst du ein Kunstfeind dabei. Werde es. Die Kunst hat heute ohnehin zu viele falsche Freunde. Aber die Zeit, bei der einem der Spaß vergeht, ist keine verlorene Zeit. Man kommt vielleicht in ihr drauf, dass Nachdenken eine Beschäftigung ist, die wir als Zeitgenossen unserer selbst und der anderen Ratten dieses Planeten bitter nötig haben“, schreibt Friedrich Dürrenmatt („Der Richter und sein Henker“) in dem Vorwort zu „Babylon“ und warnt den geneigten Betrachter schon mal vor, was ihn erwartet, nämlich alles andere als leicht verdauliche und erbauliche Kost.  
Ungerer erweist sich in „Babylon“ einmal mehr als ein Meister des Abgründigen, als Künstler, der seine fast schon apokalyptischen Visionen mit pointierten wie fein geschwungenen Linien auf den Punkt bringt.

John Grisham – „Die Erbin“

(Heyne, 702 S., HC)
Der schwer an Lungenkrebs erkrankte Unternehmer Seth Hubbard hat sein Ende sorgfältig vorbereitet. Bevor er sich an einem Freitagnachmittag in einem Baum erhängte, setzte der zurückgezogen lebende Hubbard ein handschriftschriftliches Testament auf, mit dem er sein vorangegangen verfasstes und in der Kanzlei Rush in Tupelo hinterlegtes widerruft und seine schwarze Haushälterin Lettie Lang quasi als Alleinerbin über mutmaßlich mehr als zwanzig Millionen Dollar einsetzt.
Als der Kleinstadtanwalt Jack Brigance am folgenden Montag per Post Hubbards letzten Willen zugestellt bekommt und ihn als Nachlassverwalter einsetzt, ahnt er bereits, dass ihm ein langwieriger Prozess bevorsteht. Denn Hubbards Kinder und Enkel, die Zeit ihres Lebens kaum Kontakt zum Toten gepflegt haben, werden das neue Testament natürlich anfechten. Doch Brigance ist nicht nur damit beschäftigt, sich gegen ein Heer von Anwälten zu behaupten, die sich nicht nur um Hubbards Familienangehörige scharen, sondern auch Lettie Lang ihre Dienste anbieten wollen. Sie alle wollen natürlich ein großes Stück vom Kuchen abhaben.
Doch Jake hat noch an einer anderen Front zu kämpfen. 1985 hat er einen spektakulären Prozess gewonnen, bei dem er den Schwarzen Carl Lee Hailey verteidigte, der die beiden Weißen erschoss, die seine Tochter vergewaltigten und zu töten versuchten, und einen Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit erwirkt. Mitglieder des Ku-Klux-Clans brannten während des Verfahrens das Haus der Familie Brigance nieder, doch nur vier der Täter mussten dafür ins Gefängnis. Ihr Anführer Dennis Yawkey wird nun völlig überraschend auf Bewährung freigelassen und hat mit Brigance noch eine Rechnung zu begleichen. Vor Gericht bringen Jake und sein Kontrahent Wade Lanier, der die Hubbard-Kinder vertritt, ihre Geschütze in Stellung. Während Laniers Trupp von Helfershelfern alles daran setzt zu beweisen, dass der Verstorbene nicht testierfähig gewesen ist, forscht Letties Tochter Portia in der Familiengeschichte.
„Es konnte durchaus sein, dass es Zeitverschwendung war, in der Vergangenheit herumzuwühlen, aber es war eine faszinierende Suche. Lucien war besessen von dem Puzzle. Er war fest davon überzeugt, dass es für das, was Seth Hubbard getan hatte, einen Grund gab. Aber der Grund war weder Sex noch Freundschaft. Portia hatte das Gespräch mit ihrer Mutter gesucht und ihr mit allem Respekt und aller Wertschätzung, die sie aufbringen konnte, die entscheidende Frage gestellt. Nein, hatte Lettie geantwortet. Nie. Es sei nie in Erwägung gezogen worden, jedenfalls nicht ihrerseits. Es sei nie darüber gesprochen worden, es sei nie in Frage gekommen. Nie.“ (S. 396f.) 
Tatsächlich tragen Portias Recherchemühen bald Früchte, was einen weiteren, unerwarteten Familienangehörigen auf den Plan bringt und dem Prozess die entscheidende Wendung verleiht.
Niemand vermag Justiz-Thriller so flott und packend zu schreiben wie John Grisham, der sich in seinen Romanen immer wieder auf die Seite der vermeintlich Schwachen schlägt, die sich mit aufopferungsvoll kämpfenden Anwälten ihr Recht auch gegen mächtige Großkonzerne erkämpfen. Dieser Aspekt spielt in Grishams neuen Roman „Die Erbin“ nur eine untergeordnete Rolle. Zwar geht es auch hier um viel Geld, aber im Vordergrund steht eindeutig die Rassenfrage, wo der Autor nahtlos an „Die Jury“ und den Hailey-Prozess anknüpft, der auch hier immer wieder thematisiert wird. Äußerst lebendig beschreibt Grisham, wie all die Anwälte sich bemühen, ihren Teil vom üppigen Kuchen zu bekommen, wie sie Zeugen ausfindig machen und ihre Strategien ausarbeiten. Daneben bringt Grisham immer neue Nebenschauplätze ins Spiel, von denen einige sich irgendwann im Nichts auflösen, andere wiederum prozessentscheidend werden.
So spannend Grisham diesen spektakulären Fall auch erzählt, sind seine Sympathien schnell offenkundig, was ihn selbst dazu verleitet, vor allem Jake und seine Ambitionen im strahlendsten Licht erscheinen zu lassen. Davon abgesehen bietet „Die Erbin“ einfach schnörkellos packenden Thriller-Stoff, den man nicht eher aus der Hand legt, bis die Geschworenen ihr Urteil gesprochen haben.
Leseprobe John Grisham - "Die Erbin"

Richard Laymon – „Die Klinge“

Sonntag, 30. März 2014

(Heyne, 411 S., Tb.)
Sein Date mit Betty hat sich Albert etwas anders vorgestellt. Nachdem er sie zum Kino eingeladen hatte, war er natürlich davon ausgegangen, dass sie ihm auch anderweitig zur Verfügung stehen würde, doch als es zur Sache geht, verlangt das Mädchen zwanzig Dollar, die Albert nach dem Kino nicht mehr hat. Seinen Frust lässt der junge Mann an einem vorüberlaufenden Hund aus, den er brutal ersticht.
Um die zwanzig Dollar für Betty aufzubringen, bricht er bei den Braxtons ein und vergeht sich an der Frau, wobei einmal mehr sein Messer zum Einsatz kommt. So zieht Albert durch die Staaten, nistet sich in verschiedenen Häusern ein, tötet deren Bewohner und verlustiert sich mit den attraktiveren Frauen.
„Sie humpelte langsam durch den Flur, die Treppe hinab und durch den anderen Flur zur Küche. Albert genoss es, ihr beim Laufen zuzusehen. Er hatte schon viele Frauen von hinten beobachtet. Frauen in Röcken, unter denen man die Beine fast bis zum Schritt sehen konnte; Frauen in Hosen, die wie Röcke aussahen, jedoch zwischen den Schenkeln verbunden waren; Frauen in so weiten Shorts, dass man wahrscheinlich alles sehen konnte, wenn man durch die Hosenbeine blickte; Frauen in winzigen Shorts, die sich eng an die Hinterbacken schmiegten und blasse Halbmonde freiließen; Frauen in weiten Cordhosen oder Jeans; andere in Hosen, die so eng waren, dass sich die Unterwäsche darunter abzeichnete – oder eben nicht, was noch besser war. Immer mit offensichtlicher Nacktheit darunter. Immer der Drang, eine Hand unter den Rock oder in den Bund der Hose zu schieben. Immer der Drang, aber nie die Möglichkeit. Bis jetzt.“ (S. 142f.) 
In Kalifornien kommt es bei einer Halloween-Party zum großen Showdown. Hier versammeln sich vor allem Lehrkräfte, die alle ihre eigenen Probleme haben. Während eine Lehrerin eine Affäre mit einem ihrer Schüler unterhält, will die Aushilfskraft Janet einen guten Eindruck hinterlassen, um eine Festanstellung zu bekommen, andere sind miteinander verbandelt und verkracht, so dass hinter all den Masken und Kostümen auch ein gehöriges Maß an Wut, Enttäuschung, Angst, Hoffnung und Begierde schlummert – ideale Voraussetzungen für Albert, um seinen Blutrausch auszuleben …
Der 1999 in den USA veröffentlichte Horror-Thriller „Die Klinge“ zählt zu den letzten Werken des 2001 an einem Herzinfarkt verstorbenen Schriftstellers Richard Laymon, der mit Romanen wie „Rache“, „Die Insel“ und „Die Jagd“ bemerkenswerte Beiträge zum Horror-Genre geleistet hat. In „Die Klinge“ bleibt er seinem charakteristischen Stil treu und lässt einen psychopathischen Mörder in seiner Wut auf das weibliche Geschlecht wild durch das Land metzeln. Dass dabei natürlich nicht nur viel Blut fließt, sondern auch brutale Sexphantasien beflügelt werden, gehört bei Laymon natürlich dazu. Allerdings bleibt dabei die Qualität der Story auf der Strecke. Im Gegensatz zu früheren Werken, in denen von Beginn an ein starker Spannungsbogen aufgebaut wurde, kommt bei „Die Klinge“ durch die vielen Erzählstränge nicht die übliche Nähe zu den Figuren auf.
So bleibt der Roman ein eher durchschnittlicher Gewaltporno, in dem ein einzelnes frustrierendes Sexerlebnis für die psychopathischen Züge der Hauptfigur herhalten muss und sich die vielen Nebenfiguren eher unscheinbar durch die Nöte und Sehnsüchte des Alltags und Liebeslebens quälen.
Leseprobe Richard Laymon - "Die Klinge"

Robin Sloan – „Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra“

Sonntag, 16. März 2014

(Blessing, 351 S., HC)
Auf der Suche nach einem neuen Job hat der Webdesigner Clay Jannon seine Ansprüche mit der Zeit ziemlich heruntergeschraubt und blättert auf seinem Laptop mittlerweile auch die „Aushilfe gesucht“-Anzeigen durch. Dabei stößt er eines Tages auf die etwas kuriose Annonce der durchgehend geöffneten Buchhandlung Penumbra: „Aushilfe gesucht – Spätschicht – Spezielle Anforderungen – Gute Zusatzleistungen“. Als sich Clay in der Buchhandlung vorstellt, wird von ihm vor allem verlangt, sich auf der Leiter geschickt zwischen den ungewöhnlich hohen Regalen bewegen zu können.
In der Nachtschicht von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens kommt sich der junge Mann allerdings eher wie ein Nachtwächter vor als wie ein Verkäufer, denn der Kundenandrang hält sich doch arg in Grenzen. Dabei fällt Clay schnell auf, dass neben den gewöhnlichen Buchhandelskunden ein zweiter Kundenstamm Penumbras Buchhandlung frequentiert, ältere Leute, die Bücher nur ausleihen. Clay hat diesen besonderen Mitgliedern die gewünschten Werke auszuhändigen und muss die Transaktionen genauestens protokollieren, ein Durchblättern oder Lesen der Bücher ist ihm nicht gestattet. Als eines Nachts ein Mann namens Corvina in der Buchhandlung auftaucht, ist Penumbra ganz aus dem Häuschen, schließt kurzerhand den Laden und verschwindet spurlos. Zusammen mit seiner bei Google arbeitenden neuen Freundin Kat, seinem alten Unternehmer-Kumpel Neel und Penumbras Vertrauten einer Geheimgesellschaft namens Der Ungebrochene Buchrücken macht sich Clay an die Lösung eines alten Rätsels, dessen Ursprung in den Anfängen des Buchdrucks liegt.
„Der Ungebrochene Buchrücken. Ungebrochen, das klingt nach einer Gruppe von Attentätern, nicht nach ein paar Buchliebhabern. Was spielt sich in dem Gebäude ab? Gibt es sexuelle Fetische, bei denen Bücher eine Rolle spielen? Bestimmt. Ich versuche mir nicht vorzustellen, wie das vonstattenginge. Müssen die Ungebrochenen einen Mitgliedsbeitrag zahlen? Wahrscheinlich sogar einen hohen. Wahrscheinlich machen sie teure Kreuzfahrten. Ich mache mir Sorgen um Penumbra. Er steckt so tief da drin, dass ihm gar nicht klar ist, wie seltsam das Ganze ist.“ (S. 157) 
Mit seinem Debütroman „Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra“ hat der in San Francisco lebende Autor Robin Sloan Umberto Ecos Setting des mittelalterlichen „Der Name der Rose“ auf witzige Weise in die Neuzeit verlegt und die Geheimnisse, die das Verfassen, Übersetzen, Drucken und Beherbergen von Buchschätzen seit Beginn der Buchdruck-Ära immer mit sich gebracht haben, mit den grenzenlosen Möglichkeiten weltumspannenden Internets verknüpft.
Bei Sloan trifft sich das vertraute Flair alteingesessener Buchhandlungen mit dem modernen Schick eines dynamisch wachsenden Google- Campus, der mittelalterliche Foliant mit der neuesten E-Book-Reader-Generation, der Hüter alten Wissens mit dem international agierenden Hacker. Wie Sloan seine sympathischen Protagonisten dabei durch die Geschichte des Buchdrucks und die Errungenschaften des Internets jagen lässt, ist ebenso humorvoll wie kurzweilig geschrieben, wartet mit schönen Wendungen auf und mündet in einem herrlich turbulenten Finale. Liebhaber bibliophiler Rätsel dürften an diesem Roman ebenso viel Freude haben wie die moderne E-Book-Generation.
Leseprobe Robin Sloan- "Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra"

Irvine Welsh – „Skagboys“

Mittwoch, 5. März 2014

(Heyne, 832 S., HC)
Mit seinem erfolgreich von Danny Boyle verfilmten Romandebüt „Trainspotting“ (1993) wurde der schottische Schriftsteller Irvine Welsh weltberühmt, konnte aber mit seinen nachfolgenden Werken nicht mehr an den rauen wie authentischen Ton seines Erstlings anknüpfen. Zwar versuchte sich der mittlerweile in Chicago lebende Autor 2002 mit „Porno“ an einem Sequel, doch erst mit dem jetzt erschienenen Prequel „Skagboys“ kehrt Welsh zu alten Qualitäten zurück, wenn er in epischer Länge rekapituliert, wie die Junkies aus „Trainspotting“ zu dem wurden, was sie sind.
Die alten Bekannten Mark "Rents" Renton, Simon "Sick Boy" Williamson, David "Scruffy" Murphy, Francis "Franco" Begbie und weitere Figuren aus ihrem Umfeld beschreiben im Wechsel als Ich-Erzähler ihre verzweifelten Versuche, im sozialen Brachland des Thatcher-Regimes Anfang der 80er irgendwie klarzukommen. Die besten Chancen auf einen sozialen Aufstieg hat Mark Renton mit guten Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluss an der Universität und einer netten Freundin. Doch als sein behinderter kleiner Bruder Davie stirbt, sind die Träume von einer besseren Zukunft nur noch Schall und Rauch. Ebenso wie seine arbeitslosen Kumpels in Leith hangelt sich Rents von einem Trip zum anderen, bis sie durch den Raub einer Spendenbüchse vor die Wahl gestellt werden, in den Knast zu wandern oder an einer Reha-Maßnahme teilzunehmen. „Eigentlich hätte ich jetzt schon einen Uniabschluss und wäre mit einem wunderschönen Mädchen verlobt! Aye, sicher könnte ich die Sucht weiter als Krankheit ansehen und auf der Grundlage des medizinischen Suchtmodells argumentieren, aber nachdem ich die Entgiftung geschafft hab, bin ich nun offiziell nicht mehr physisch abhängig. Das Problem: Im Moment sehne ich mich stärker denn je danach und auch nach der damit einhergehenden sozialen Komponente – der Deal, das Aufkochen, das Spritzen, das Abhängen mit den anderen abgefuckten Gestalten … nachts wie ein untoter Vampir durch die Gegend latschen, hin zu den schmuddligen Wohnungen in den schäbigsten Teilen der Stadt, um dort mit den anderen durchgeknallten Losern, die ihr Leben genauso wenig in den Griff bekommen wie ich, ohne Ende Dünnschiss zu labern“, schreibt Rents in sein Reha-Journal. „Ich weiß, dass das Zeug mein Leben zerstört, aber ich brauche es. Ich bin nicht bereit, aufzuhören.“ (S. 703f.) Irvine Welsh ist ein Meister darin, in der Sprache seiner Skagboys die sozialen Abgründe aufzuzeigen, die der Thatcherismus in den 80ern heraufbeschworen hat, und zeichnet authentisch das Lebensgefühl einer Generation nach, die nie in den Genuss kommen sollten, dass die Versprechen von Arbeit und Wohlstand eingelöst wurden. Dabei nimmt Welsh absolut kein Blatt vor den Mund und entfesselt in unverblümtem Slang kuriose Aktionen wie das Wettkacken am Montag, sexuelle Phantasien und Seitensprünge sowie den Wunsch, all das Elend zu vergessen, das in den Sozialbaugegenden in Edinburgh herrscht. Diese Schilderungen sind manchmal etwas lang geraten, aber voll drastischer Humoreinlagen und tiefer Einsichten in die sozialen Befindlichkeiten der britischen Thatcher-Ära. Lesen Sie im Buch: Welsh, Irvine - Skagboys