Stewart O’Nan – „Alle, alle lieben dich“

Freitag, 29. August 2014

(Rowohlt, 413 S., HC)
Im Juli 2005 bereiten sich die drei Freundinnen Kim, Nina und Elise im beschaulichen Kleinstädtchen Kingsville darauf vor, im Herbst aufs College zu gehen. Bis dahin jobben Nina und Kim noch jeden Abend im Laden der Conoco-Tankstelle und hängen ihren Träumen und Hoffnungen nach, die mit dem Weggehen aus Kingsville verbunden sind. Doch eines Abends tritt Kim ihre Schicht im Conoco nicht an, nachdem sie kurz zuvor noch mit ihrem Freund J.P. und Nina ausgelassen am Fluss herumgealbert hat. Es dauert nicht lange, da alarmiert Kims Mutter die Polizei.
Suchtrupps werden zusammengestellt, Befragungen von Freunden und Verwandten durchgeführt, doch erst nach Tagen wird Kims Wagen aufgefunden, von ihr selbst fehlt jede Spur. Die nächsten Tage, Wochen und Monate dreht sich das Leben der Larsens ganz um das Auffinden von Kim. Die Polizei ist keine große Hilfe, also organisiert vor allem Fran mit Flugblättern und einem Online-Auftritt die Suche, während ihr Mann Ed Tag für Tag neue Gebiete nach seiner Tochter absucht und in Motels übernachtet. Die verzweifelte Suche nach ihrer Tochter verändert die Beziehung zwischen den Eheleuten.
„Plötzlich stellten sie sich persönliche Fragen. Wie sie schlafe. Ob die Pillen wirkten. Ober er auch welche haben wolle. Was er heute gegessen habe. Was sie morgen vorhabe. So hatten sie seit ihren ersten Verabredungen nicht mehr miteinander gesprochen, und das Mädchen in ihr hätte das gern romantisch gefunden, sie und er vom Schicksal getrennt, umhüllt von Nacht, zwei Stimmen verbunden durch unsichtbare Wellen, die zwischen weit auseinanderliegenden Türmen durch die kalte Luft gleiten – ein heimliches, unverdientes Band, das sich bei dem Gedanken, dass Kim allein irgendwo dort draußen war, in Luft auflöste.“ (S. 176). 
Stewart O’Nan zeichnet einmal mehr das diffizile Psychogramm einer amerikanischen Mittelschichtsfamilie, die durch das Verschwinden der ältesten Tochter auf eine harte Probe gestellt wird. Dabei beschreibt O’Nan nicht nur die Verzweiflung der Eltern, die sich zunächst auf ganz unterschiedliche Weise mit der traumatischen Situation auseinandersetzen.
Während Ed gern das Weite sucht und den Kummer in sich hineinfrisst, setzt Fran alle Hebel in Bewegung, um ja nichts unversucht zu lassen, die geliebte Tochter wieder in den Schoß der Familie zu führen. Auch Kims jüngere Schwester und die Befindlichkeiten von Kims Clique seziert O’Nan mit der ihm eigenen Gründlichkeit. Der Kriminalfall dient ihm nicht als Plot für einen Thriller um ein vermisstes Mädchen, sondern als Grundlage für ein Drama, das sich vor allem innerhalb der Familie abspielt. Das ist zwar nicht unbedingt etwas für Krimi-Fans, aber spannend ist die Art, wie stückchenweise auch dunkle Geheimnisse thematisiert werden, allemal.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Alle, alle lieben dich"

Jess Walter – „Die finanziellen Abenteuer des talentierten Poeten“

Montag, 18. August 2014

(Blessing, 383 S., HC)
Der amerikanische Traum ist für Matt Prior schnell ausgeträumt. Als er noch ein halbwegs erfolgreicher Wirtschaftsjournalist war, konnte er sich mit seiner hübschen Frau Lisa und den beiden Jungs Franklin und Teddy ein nettes Häuschen in einer Vorortsiedlung leisten, doch als der verhinderte Poet seinen Job an den Nagel gehängt hatte, um eine Website für Poesie und Geldanlagen ins Leben zu rufen, kam das Unglück so richtig ins Rollen.
Da Matt mit der Website keine nennenswerten Einnahmen erzielte, musste er seinen alten Job wieder aufnehmen, nur um vor acht Wochen wieder gekündigt zu werden. Durch den Einbruch des Immobilienmarktes drohen den Priors der Verlust des Hauses und des Autos. Ganze sieben Tage bleiben Matt, seine Altersvorsorge aufzulösen und 31.000 Dollar Restzahlung an die Bank zu leisten. Vor diesem desaströsen Hintergrund erscheint es Matt eine gute Idee, beim Milchholen im Supermarkt um die Ecke, auf das Angebot zweier Kiffer einzugehen, mit ihnen auf eine Party zu gehen und mal wieder richtig schön einen durchzuziehen. Dabei kommt ihm die Idee, seine Rücklagen über 9400 Dollar in gutes Gras zu investieren, um es gewinnbringend weiterzuverkaufen. Als Matt erfährt, dass seine Frau mit einem gewissen Chuck eine Affäre zu haben scheint, gerät seine Welt allerdings immer mehr ins Wanken.
„Es ist beinahe, als bekämen Lisa und ich bloß, was wir verdienen. Zumindest bilden wir uns das ein. Irgendwie scheint das ganze Land davon überzeugt zu sein, wir alle hätten etwas getan, das diese Katastrophe rechtfertigt, diese globale Erwärmung, diesen ewigen Krieg, diesen Haufen Scheiße, in dem wir uns befinden. Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, unsere Zukunft verprasst, Ressourcen geplündert, in einer Luftblase gelebt.“ (S. 210)
Matts Versuch, durch den Handel mit Gras zumindest seine finanziellen Sorgen vorübergehend in den Griff zu bekommen, scheitert allerdings schon im Frühstadium, als zwei Beamte einer Sondereinheit auftauchen und Matt zur Zusammenarbeit zwingen …
Wer „Breaking Bad“ kennt, wird das literarische Pendant von Jess Walter lieben. Ebenso wie Walter White angesichts seiner Lungenkrebserkrankung aus Sorge vor der finanziellen Absicherung seiner Familie beginnt, in den Handel mit Methamphetamin einzusteigen, sieht auch Jess Walters Protagonist im Drogengeschäft die besten Möglichkeiten, kurzfristig große Gewinne einzufahren.
Mit einer gelungen Mischung aus geballtem Sprachwitz und durchaus tiefsinnigen Einsichten in die Befindlichkeiten der amerikanischen Mittelschicht, die durch die Immobilien- und Bankenkrise ihrer Fundamente beraubt worden ist, beschreibt der Pulitzer-Preis-Träger die verzweifelten Versuche eines Durchschnittamerikaners, nicht nur sein Eigenheim, sondern auch seine Ehe zu retten und seinen Kindern ein guter Vater zu sein. Neben treffenden Statements zu den wirtschaftlichen Zusammenhängen der Krise und den Auswirkungen auf die amerikanische Mittelschicht bezaubert der kurzweilige Roman durch seinen warmherzigen Humor und den wunderbar lakonischen Ton, mit dem Matt immer wieder seine ausweglose Lage beschreibt, ohne die Hoffnung zu verlieren.
Leseprobe Jess Walter - Die finanziellen Abenteuer des talentierten Poeten

Paul Auster – „Sunset Park“

Sonntag, 10. August 2014

(Rowohlt, 317 S., HC)
Ähnlich wie die terroristischen Anschläge vom 9/11 hat die ab 2008 grassierende Finanzkrise die amerikanische Seele stark erschüttert und die kulturelle Produktion beeinflusst. Der vielfach international prämierte New Yorker Schriftsteller Paul Auster hat die Folgen der Wirtschaftskrise als Ausgangspunkt für seinen Roman „Sunset Park“ genommen, um ganz verschiedene Figuren in einem heruntergekommenen Haus in Sunset Park zusammenzuführen und ihre Geschichten zu erzählen.
Seit der achtundzwanzigjährige Miles Heller vor siebeneinhalb Jahren das College verlassen hat, schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Seit einem Jahr arbeitet er mit drei Kollegen für die Immobiliengesellschaft Dunbar in Florida und ist für die Entrümpelung der Häuser zuständig, die von ihren Eigentümern aufgegeben werden mussten. Während seine Kollegen sich immer wieder an den zurückgelassenen Dingen bereichern, beschränkt sich Miles darauf, sie zu fotografieren. Der Zufall oder das Schicksal will es, dass Miles eines Tages in einem Park in Miami der siebzehnjährigen Pilar begegnet, die wie er gerade in F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ liest. Sie lieben sich, ziehen verbotenerweise zusammen, und um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, kehrt Miles nach New York zurück, wo er bei seinem Jugendfreund Bing Nathan Unterschlupf findet. Bing betreibt nicht nur eine „Klinik für kaputte Dinge“, sondern besetzt mit zwei jungen Frauen ein verlassenes Haus im Brooklyner Viertel Sunset Park. Ellen Brice möchte eigentlich Malerin sein, schlägt sich aber stattdessen erfolglos als Immobilienmaklerin durch, die einer verflossenen Liebe nachtrauert, während Alice Bergstrom ihre Doktorarbeit verzweifelt zu beenden versucht und im Büro des PEN arbeitet. Miles komplettiert diese desillusionierte Wohngemeinschaft, in der nur wenige Regeln zu befolgen sind, wie Bing ihm erklärt.
„Jeder Bewohner hat eine Aufgabe zu erfüllen, aber von der Verantwortung für diese Aufgabe abgesehen, kann jeder kommen und gehen, wie es ihm beliebt. Er ist Hausmeister, Ellen ist Putzfrau, Alice kauft ein und kocht auch meistens. Vielleicht wolle Miles sich den Job mit Alice teilen und sich beim Einkaufen und Kochen mit ihr abwechseln. Miles hat keine Einwände. Er koche gern, sagt er, er habe im Laufe der Jahre ein Händchen dafür entwickelt, das wäre also kein Problem. Bing erklärt, Frühstück und Abendessen nähmen sie meistens gemeinsam ein, da sie alle knapp bei Kasse seien und so wenig wie möglich auszugeben versuchten. Dass sie ihre Mittel zusammenlegen, hat ihnen bisher schon gut geholfen, und jetzt mit Miles als neuem Mitbewohner werden die Kosten pro Nase noch weiter sinken.“ (S. 131) 
Miles nimmt nach Jahren, in denen er kein Wort von sich hören ließ, wieder Kontakt zu seinen Eltern auf. Morris Heller unterhält einen einst renommierten Kleinverlag, der nun aber kurz vor dem Bankrott steht – ebenso wie seine zweite Ehe mit der Schauspielerin Mary-Lee Swann. Die familiäre Wiedervereinigung verläuft schwierig. Während Vater und Sohn die unglücklichen Schicksale berühmter Baseball-Spieler Revue passieren lassen, ist es nur eine Frage der Zeit, die das Haus in Sunset Park von ihren Besetzern geräumt werden muss.
Es ist alles andere als ein hoffnungsvolles Bild, das Auster in seinem Roman zeichnet. Im Mittelpunkt seines episodenhaft an den einzelnen Figuren aufgehängten Dramas stehen Personen, die abgesehen von der Generation, die durch Miles Hellers Eltern personifiziert werden, nie Fuß gefasst haben in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Durch die Wirtschaftskrise hat die Mittelschicht nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Zukunft verloren. Die vier Bewohner von Sunset Park haben kaum Aussicht auf einen gut bezahlten Job und müssen sich auf die elementarsten Bedürfnisse beschränken.  
Auster wechselt häufig die Erzählperspektive, lässt nicht nur die vier jungen Erwachsenen zu Wort kommen, die eine aus der Not geborene Wohngemeinschaft bilden, sondern auch Morris Heller, der vor den Trümmern seines mühselig aufgebauten Verlags und seiner Ehe steht. Immer wieder wird den Figuren ein Spiegel vorgehalten, sei es durch „Der große Gatsby“, durch den Film „Die besten Jahre unseres Lebens“, den Alice in ihrer Doktorarbeit thematisiert, oder die traurigen Schicksale berühmter Sportler, über die sich Miles und Morris meistens unterhalten.
„Sunset Park“ präsentiert ein glänzend geschriebenes und tiefsinnig beobachtbares Psychogramm einer verlorenen Generation, die ohne Heimat und Hoffnung erscheint und nicht die Möglichkeiten besitzt, ihre Träume und Leidenschaften auszuleben. Dass der Roman ohne Happy End auskommen muss, ist da nur konsequent.

Stewart O’Nan – „Die Chance“

Donnerstag, 24. Juli 2014

(Rowohlt, 224 S., HC)
Die letzten Tage ihrer Ehe wollen Art und Marion Fowler so verbringen, wie sie sie begonnen haben, als sie vor fast dreißig Jahren ihre Flitterwochen in Niagara Falls verbrachten. Während sie ihrer Tochter Emma diesen Trip als zweite Hochzeitsreise verkaufen, treten die Noch-Eheleute die Reise mit unterschiedlichen Erwartungen an. Art hofft fernab der alltäglichen Routine eine wiederbelebende Rückkehr zu den guten Zeiten und so auf eine neue Chance für ihre Ehe, Marion will das Ganze nur mit Würde überstehen.
Allerdings stehen sie nach dem Verlust ihrer Jobs kurz vor der Privatinsolvenz und wollen mit ihren letzten Barreserven im Casino versuchen zu retten, was zu retten ist, nachdem sie über ein Jahr vergeblich versucht haben, ihr Haus zu verkaufen. Außerdem wurde ihre Ehe durch Affären von beiden Seiten belastet. Trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen gönnen sie sich zu dem günstigen Preis von 249 Dollar inklusive Busfahrt, Mahlzeiten und einen Gutschein über 50 Euro für einen der Spieltische und für einen Aufpreis von 75 Dollar pro Nacht eine der Hochzeitssuiten im Obergeschoss mit Blick auf den Wasserfall. Beide sind bemüht, es dem anderen irgendwie recht zu machen und etwas zu erleben. Dazu gehört nicht nur ein Konzert der Rockband Heart, bei dem sich die beiden mit allerlei Rauschmitteln versorgen, sondern natürlich auch der allabendliche Besuch im Casino, wo Art und Marion mit der Martingale-Methode hoffen, beim Roulette ihre Schulden tilgen zu können.
„Seiner Gewissheit, die sich anscheinend nur auf Annahmen stützte, traute sie nicht. Er konnte voll Zuversicht behaupten, dass es statistisch gesehen unwahrscheinlich war, fünfmal hintereinander zu verlieren, aber was wusste er schon über das Glücksspiel? Ehepaare sollten sich theoretisch bis zum Tod lieben und ehren, doch auch das klappte nicht immer. Flugzeuge stürzten ab, Banken gingen pleite, ganze Länder zerfielen.“ (S. 210). 
Stewart O’Nan hat sich all seinen Werken als großer amerikanischer Erzähler erwiesen, der ein feines Gespür für die Befindlichkeiten seiner sympathischen Mittelschichtsfiguren besitzt. In seinem neuen Werk begleitet er ein nicht mehr ganz so frisches Ehepaar auf eine schwierige Reise. Unschlüssig, wie sie mit ihren Schulden umgehen, wie sie ihren Kindern die bevorstehende Trennung und den Verlust des Hauses, in dem sie aufgewachsen sind, erklären sollen, haben Art und Marion jeweils ihre eigenen Methoden, mit der Situation umzugehen und dabei immer wieder in vertraute Verhaltensmuster zurückfallen, die dem Partner aber nicht wirklich mehr etwas ausmachen. O’Nans Kunstfertigkeit besteht darin, diese von so unglückseligen Voraussetzungen geprägte Reise mit ebenso viel Ernsthaftigkeit wie Humor zu erzählen, was sich bereits in den Kapitelüberschriften niederschlägt, die mit verschiedenen Wahrscheinlichkeitserwartungen bezeichnet sind (z.B. Wahrscheinlichkeit, dass ein Ehepaar seinen 25. Hochzeitstag erreicht: 1:6). Dieses Spiel mit den Wahrscheinlichkeiten lässt sich immer wieder auf sein Ehepaar runterbrechen, aber eben so, dass sie entgegen der prognostizierten schlechten Quote meist einen guten Schnitt machen. Das macht Hoffnung auf ihre Beziehung, und wie Art und Marion aufeinander Rücksicht nehmen und sich dabei immer wieder Gutes tun, beschreibt O’Nan mit einer herzerwärmenden Leichtigkeit, die großen Lesespaß garantiert.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Die Chance"

Ryan David Jahn – „Die zweite Haut“

Sonntag, 20. Juli 2014

(Heyne, 319 S., Tb.)
Der 34-jährige Büroangestellte Simon Johnson fristet ein ziemlich ödes Dasein in Los Angeles. Er weiß so wenig mit seinem Leben anzufangen, dass er sonntags sogar lieber ins Lohnabrechnungsbüro fahren würde, um nicht überlegen zu müssen, wie er seine Zeit verbringen kann. Doch eines Tages dringt ein Einbrecher in seine Wohnung ein, in der es nichts zu holen gibt außer seiner Plattensammlung, und trachtet Simon sogar nach dem Leben. Nach einem heftigen Kampf ringt Simon den Fremden nieder und schlägt so lange mit einer Taschenlampe auf den Eindringling ein, bis dieser tot zusammenbricht.
Als er endlich dazu kommt, den Toten genauer zu betrachten, erschrickt Simon, dass er seinem Ebenbild ins Gesicht blickt. Zunächst lagert er die Leiche mit Eis in der Badewanne und versucht, den Umständen auf den Grund zu gehen. Die Papiere weisen den Toten als Jeremy Shackleford aus, und nach einigen Überlegungen beschließt Simon, nicht nur Jeremys Identität anzunehmen, sondern auch sein Leben zu leben. Wie sich nämlich herausstellt, lebte der Tote mit einer schönen Künstlerin namens Samantha in einer komfortablen Wohnung zusammen und arbeitete als Mathematikdozent an einer Kunstschule. Doch die Übernahme des anderen Lebens verläuft nicht ohne Zwischenfälle. Offensichtlich unterhielt Jeremy an der Schule eine Affäre mit der 18-jährigen Studentin Kate Wilhelm und besuchte mit Dr. Zurasky denselben Psychiater wie er selbst. Und schließlich wird Jeremy/Simon von einem Privatdetektiv beschattet. Je mehr Simon zu ergründen versucht, warum Jeremy ihn umbringen wollte, desto mehr gerät er in ein Netz aus Täuschungen, seltsamen Erinnerungen und unerklärlichen Déjà vus, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen.
„Simon Johnson hatte ein ruhiges Leben geführt – aber als Jeremy Shackleford in sein Apartment eingebrochen war, hatte sich alles verändert. Simon hatte ihn versehentlich getötet, aber dennoch hatte es ihn verändert, oder? Die Kälte, mit der er reagierte, entsprach der Kälte, die sein ganzes Leben prägte – aber jetzt war dieses heiße Verlangen nach mehr entbrannt und glühte in ihm wie heiße Kohlen. Und er war zu einem Monster geworden – er war Jeremy Shackleford geworden, oder? Oder er wurde langsam zu Jeremy Shackleford – der Verwandlungsprozess hatte eingesetzt. All diese Dinge, die so tief unter der Oberfläche seines Lebens verborgen gelegen hatten, dass sie größtenteils nur formlose Schatten waren – all diese tentakelbewehrten Kreaturen schossen hervor, all diese Bestien aus seinem Innenleben brachen sich Bahn an die Oberfläche, und sie waren hässlich und schrecklich.“ (S. 286) 
Bereits mit seinen ersten beiden bei Heyne Hardcore veröffentlichten Romanen „Ein Akt der Gewalt“ und „Der Cop“ erwies sich der amerikanische Drehbuch- und Romanautor Ryan David Jahn als Meister des psychologischen Thrillers, der tief in die Abgründe der Seele seiner Figuren zu blicken versteht.
Sein in den USA bereits 2010 unter dem Titel „Low Life“ veröffentlichtes Werk „Die zweite Haut“ erweist sich zunächst als klassischer Krimi, in dem ein Einbruchsopfer zu ergründen versucht, warum eine Art Doppelgänger nach seinem Leben trachten wollte. Doch seit diesem Überfall streut Jahn immer wieder geschickt Hinweise ein, die dem Geschehen eine mysteriöse Note verleihen. In der zweiten Hälfte des Romans weiß nicht mal mehr der Leser, ob Simon/Jeremy an einer starken Paranoia leidet oder ob die geschilderten Ereignisse tatsächlich übernatürlichen Ursprungs sind.
All dies beschreibt Jahn in einer kühlen wie pointierten Sprache, die die Spannung bis zur Zielgeraden aufrechterhält.
Leseprobe Ryan David Jahn - "Die zweite Haut"

Benjamin Lebert – „Im Winter dein Herz“

Sonntag, 13. Juli 2014

(Hoffmann und Campe, 160 S., HC)
In der therapeutischen Einrichtung Waldesruh gehört der Winterschlaf vom 02. Januar bis zum 5. März ebenso zum Programm wie in allen Teilen der Republik. Schließlich verringert der Winterschlaf den Energie- und Rohstoffverbrauch, belastet die Umwelt weniger, reduziert die Probleme der Überbevölkerung, da man während des Winterschlafs zwar sterben, aber nicht vögeln kann. Doch Robert, Kudowski und Annina nehmen an der Schlafmedikation nicht teil und machen sich mit einem schwarzen Suzuki Samurai, der Ritchie Blackmore genannt wird, auf den unbestimmten Weg in den Süden.
Der Frauenheld Robert witzelt damit herum, im regen Kontakt mit diversen Hollywood-Schönheiten zu stehen, während zu den Höhepunkten in Kudowskis Leben der Besuch der Polizeischule zählt. Eine Winter-App auf Kudowskis iPhone führt die Crew zu noch geöffneten Raststätten und Tankstellen, während der Fahrt erinnern sich die Reisenden an „Momente der Geborgenheit“. Robert empfindet solche Momente immer dann, wenn er sich am Meer oder an einem anderen Gewässer befindet, Annina erinnert sich gern daran, wie ihr Onkel sie mit ins Bergwerk genommen hat, wo er nach dem Rechten schaute und die Umkleideräume säuberte. Indem sie sich Geschichten aus ihrem Leben erzählen, kommen sich die drei so unterschiedlichen Unbekannten allmählich näher.
„Sie blickten auf die Fahrbahn, die, von ihren Füßen ausgehend, abfallend und aufsteigend und sich weich schlängelnd dem Horizont entgegeneilte. Nicht weit entfernt sahen sie den schwarzen Fleck, der Ritchie Blackmore war. Plötzlich kam es Robert so vor, als strichen weiche, schneeige Finger über sein Herz – ihn überkam eine große Freude. Und er empfand den anderen beiden gegenüber Dankbarkeit. Dafür, dass sie gemeinsam diese Reise angetreten hatten. Er hätte Annina in diesem Moment gern für einen Moment lang in einer Geste der Dankbarkeit sacht die Hand auf die Schulter gelegt. Und dasselbe sogar bei Kudowski getan.“ (S. 42f.) 
In einem Ambiente, das einen leichten Science-Fiction-Touch verströmt, lässt der junge Hamburger Autor Benjamin Lebert („Crazy“, „Flug der Pelikane“) drei gesellschaftliche Außenseiter gemeinsam einen unvergesslichen Road-Trip erleben. Dabei folgt Lebert weniger dem konventionellen Road-Movie-Szenario, sondern lässt seinen drei Figuren die Fahrt dazu nutzen, durch Erinnerungen ihr Leben zu reflektieren und die besonderen Momente darin herauszukristallisieren.
Dadurch leidet zwar der Erzählfluss in dieser ohnehin sehr kurzen Geschichte, aber dafür werden die jeweiligen Befindlichkeiten der drei Außenseiter umso deutlicher herausgearbeitet. Indem sie sich einander anvertrauen, werden sie schließlich zu Freunden, die durch die winterliche Reise auf wundersame Weise verwandelt werden. Lebert gelingt es, diese Transformation mit oft sehr poetischen Worten zu beschreiben und so den Leser auf magische Weise in dieses außergewöhnliche Szenario einzubinden.
Lesen Sie im Buch: Benjamin Lebert - Im Winter dein Herz

Toby Barlow – „Baba Jaga“

Sonntag, 6. Juli 2014

(Atlantik, 543 S., HC)
Der liebenswürdige Amerikaner Will Van Wyck arbeitet seit Jahren für eine Pariser Werbefirma, die in den 50er Jahren als Briefkastenfirma für die CIA fungiert. In seinen monatlichen Berichten fasst er für seinen Vorgesetzten Brandon Erkenntnisse über die Firmen zusammen, die der 31-Jährige ausspioniert, harte Fakten, die Rohstoffpreise, geschätzte Produktionszyklen und Einblicke in die Expansion eines Mischkonzerns dokumentieren. Doch als bei einem Auftrag die gesammelten Informationen in die falschen Hände gelangen, scheint Wills Karriere nicht nur in der Werbebranche den Bach hinunterzugehen.
Ablenkung verschafft ihm die hübsche Zoja, die sich zusammen mit der russischen Hexe Elga seit Jahrhunderten darauf spezialisiert hat, wohlhabende Männer für sich einzunehmen und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Nachdem sie ihren letzten Liebhaber etwas ungeschickt ins Jenseits geschickt und damit den Zorn ihrer Herrin auf sich gezogen hat, verwandelt sie den engagierten Polizisten Charles Vidot in einen Floh, als er den beiden Hexen auf die Schliche zu kommen schien, und taucht unter. Zoja, die seit Jahrhunderten nicht um einen Tag gealtert ist, verliebt sich in Will, vertraut aber zunächst auf die bewährten Zauber, um ihn an sich zu binden. Derweil versucht Vidot, als Floh über die Runden zu kommen.
„Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Er spürte die leise Berührung des Winds an seinem Körper und hörte das ferne Wiehern eines Pferdes. Als er zu sich kam, stellte er zu seinem Schrecken fest, dass sein winziger Körper im Begriff war, von Wills Kopf zu fallen, da die Haarsträhne, an der er nur locker hing, jetzt wild im Fahrtwind flatterte, der durch ein offenes Autofenster drang. Vidot zog mit aller Kraft und schaffte es, das Tau aus braunem Haar hinaufzuklettern und die Sicherheit der Kopfhaut zu erreichen. Als er sich wieder gesammelt hatte, registrierte er zu seiner Verärgerung, dass er noch immer in die Enge dieses Flohkörpers gefangen war, doch seine kurze Rückkehr ins Menschsein hatte seine Hoffnungen erheblich bestärkt, da er nun wusste, dass er im Wesentlichen, der Seele und dem Geist nach, nach wie vor ein Mann war. Alles Übrige war nur ein Taschenspielertrick.“ (S. 437) 
Da Will auf so leidenschaftliche und romantische Weise mit Zoja verbunden ist, hofft Vidot, dass der gegen ihn erwirkte Zauber wieder rückgängig gemacht wird und er in die Arme seiner Frau Adele zurückkehren kann, die sich derweil anderweitig vergnügt.
Überhaupt geht es in „Baba Jaga“ sehr turbulent zu. CIA und Hexenzauberei, romantische Liebe und purer Sex, Werbestrategien und verdeckte Polizeiermittlungen, Verwandlungen und Verwünschungen – all dies vermengt der in Detroit und New York lebende Toby Barlow mit großer Fabulierkunst zu einer fantasievollen, Magie-geschwängerten Tour de Force.
Lesen Sie im Buch: Tony Barlow - Baba Jaga