Paolo Coelho – „Untreue“

Donnerstag, 23. Oktober 2014

(Diogenes, 315 S., HC)
Die 31-jährige Linda ist eine bekannte Journalistin einer angesehenen Tageszeitung in Genf, die glücklich verheiratet mit dem mehr als wohlhabenden Manager eines renommierten Investmentfonds ist, mit dem sie zwei Söhne hat, und trotzdem meint die ebenso begehrte wie beneidete Frau, dass jeder vor ihr liegende Tag ein Desaster wird. Das wird ihr besonders nach einem Interview mit einem Schriftsteller bewusst, dem es nicht darum geht, glücklich zu sein, sondern sein Leben voller Leidenschaft zu gestalten. Mit diesem Statement im Kopf beginnt Linda ihr Leben in Frage zu stellen. Hin- und hergerissen zwischen der Angst, ihr Leben bis zum Ende der Tage in völliger Gleichförmigkeit zu verbringen, und der Angst, dass sich von einem Augenblick zum anderen alles verändern könnte, quält sich Linda mit verschiedenen weiteren damit zusammenhängen Fragen, die sich um die Liebe und ihre Abwesenheit drehen und um die Sorge, dass sie ihre besten Jahre mit Routine vergeudet.
Als sie den ein Jahr jüngeren Politiker Jacob König interviewt, für den sie schon als Jugendliche geschwärmt hat, beginnt sie eine leidenschaftliche Affäre mit ihm, die auch ihr Eheleben zu bereichern scheint. Doch je mehr sich Linda auf den ebenfalls verheirateten Mann einlässt, desto mehr hinterfragt sie sich selbst und ihr Verhalten.
„Kann man lernen, den richtigen Mann zu lieben? Selbstverständlich. Dafür muss es einem allerdings gelingen, den falschen Mann zu vergessen, der, ohne um Erlaubnis zu bitten, in unser Leben getreten ist, weil er gerade vorbeikam, und nachher sagt, die Tür habe doch offen gestanden. Was wollte ich von Jacob? Ich wusste doch von Anfang an, dass unsere Beziehung zum Scheitern verurteilt war, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie auf so demütigende Weise enden könnte. Vielleicht wollte ich nur, was ich bekommen habe: Abenteuer, Lust und neue Lebensfreude. Oder hatte ich etwa mehr gewollt?“ (S.254) 
Wie bei dem brasilianischen Bestseller-Autor üblich, wird „Untreue“ nicht durch die Handlung dominiert. Stattdessen dient die Ausgangssituation einer erfolgreichen, jungen, attraktiven und wohlhabenden Frau dazu, den Leser einmal mehr dazu zu animieren, sich über wesentliche Aspekte seines eigenen Lebens Gedanken zu machen. Statt seine Leser zu emotionaler Anteilnahme an Lindas Schicksal zu animieren, lässt Coelho sein Publikum vor allem an Lindas Gedanken und Gefühlen teilhaben. Allerdings wirken diese inneren Monologe nicht immer schlüssig und stellen auch Lindas Verhalten immer wieder in Frage. Stattdessen wird der Leser den Eindruck nicht los, dass Coelho sich selbst mit seinen wohlwollenden, spirituell angehauchten Weisheiten in den Vordergrund rückt und dabei leider vergisst, eine interessante Geschichte zu erzählen.
Wenn der eine oder andere Leser zum Nachdenken über das wahre Glück und wie es zu erreichen und zu bewahren ist angeregt wird, hat Coelho sein Ziel sicher erreicht. Doch die Geschichte an sich ist nicht glaubwürdig und packend genug geschrieben, um auch Leser fesseln zu können, die nicht an einer spirituellen Entwicklung interessiert sind.
Leseprobe Paolo Coelho - "Untreue"

Joe R. Lansdale – „Dunkle Gewässer“

Donnerstag, 16. Oktober 2014

(Heyne, 320 S., Tb.)
Sue Ellens Daddy hat es aufgegeben, Fische mit dem Telefon oder mit Dynamit zu fangen, nachdem er dabei einige Finger verloren hatte. Stattdessen vergiftet er sie mit einem Jutesack voller grüner Walnüsse. Als Sue Ellen eines Tages ihren Vater und Onkel Gene zum Angeln begleitet, wird sie Zeuge, wie mit dem Jutesack auch die Leiche ihrer Freundin May Lynn Baxter auftaucht. Nach ihrer Beerdigung am nächsten Tag macht sich der Constable nicht die Mühe, nach dem Mörder des Mädchens zu suchen, aber Sue Ellen und ihre Freunde Terry und Jinx sind der Meinung, dass die Zeit ihres jungen Lebens hübsche May Lynn etwas Besseres verdient habe, als in einem Armengrab zu verrotten. Da das Mädchen immer davon geträumt hatte, ein Filmstar in Hollywood zu werden, beschließen die Freunde, May Lynns Leiche auszugraben und zu verbrennen und ihre Asche nach Hollywood zu bringen.
In May Lynns Sachen finden sie sogar den Hinweis auf die Beute aus einem Banküberfall, mit der sie sich zusammen mit Sue Ellens psychisch labiler Mutter auf ein Floß begeben, um damit den Fluss hinab nach Süden zu reisen. Doch auf ihre Fährte begeben sich nicht nur der korrupte Constable, sondern auch ein sagenumwobener Auftragskiller, der dafür bekannt ist, Spielchen mit seinen Opfern zu spielen … Sogar die alte Frau, bei der die Reisenden unterwegs Unterschlupf und vor allem Essen zu finden hoffen, hat von Skunk gehört.
„‘Er ist wie die Hitze, wie Wind, Regen und die Erde‘, sagte die alte Frau. ‚Ihm bedeuten Tage nichts. Zeit ist ihm gleichgültig. Er tut, was er tut, weil er etwas dafür bekommt. Schuhe, was zu essen, einen Hut. Wenigstens sind das die Gründe, wenn man die Sache oberflächlich betrachtet, aber sobald man ein wenig an dieser Oberfläche kratzt, dann stellt man fest, dass er es macht, weil es ihm gefällt. Er hat Geschmack am Töten gefunden. Wenn er sich etwas vorgenommen hat, dann macht er das auch, selbst wenn es eine halbe Ewigkeit dauert. Weder Tod noch Teufel können ihn davon abhalten. Und jetzt habt ihr diesen eiskalten Mörder an meine Tür geführt.‘“ (S. 263) 
Der texanische Autor Joe R. Lansdale ist vor allem durch seine Krimi-Serie um den weißen, heterosexuellen Kriegsdienstverweigerer Hap Collins und den schwarzen, homosexuellen Vietnam-Veteran Leonard Pine bekannt geworden, er fühlt sich aber im Science-Fiction-, Western- oder Fantasy-Genre heimisch. Mit „Dunkle Gewässer“ legt Lansdale nun einen Horror-Thriller vor, der es wirklich in sich hat. Sue Ellen, die jugendliche Ich-Erzählerin der Geschichte, ist mit einem temperamentvollen Vater und einer Mutter geschlagen, die ihr Leben im Bett verbringt und sich mit ihrer sonderbaren Medizin stets im Dämmerzustand befindet. Unter diesen Umständen hat sich das Mädchen zu einer selbstständigen und humorvollen Teenagerin entwickelt, die mit ihrem mutmaßlichen schwulen Freund Terry und der schwarzen Jinx zu einer abenteuerlichen Odyssee aufmacht, zu der sich sogar Sue Ellens Mutter aufrafft und dabei neuen Lebensmut schöpft.
Lansdale begleitet seine unerschrockene Crew mit viel Sympathie für seine Figuren und mit einer lebendigen Sprache, die immer wieder humorvoll die irrwitzigsten Vergleiche heraufbeschwört. Dieser Sprachwitz bildet dabei einen interessanten Kontrast zu den wenig erbaulichen Zwischenfällen, mit denen die Reisenden konfrontiert werden, die schließlich in der unausweichlichen Konfrontation mit dem gefürchteten Skunk kulminieren.
„Dunkle Gewässer“ bietet erfrischend leichtflüssig geschriebene Grusel- und Spannungs-Unterhaltung auf höchstem Niveau, verbindet brillanten Wortwitz mit überzeugend gezeichneten Figuren in einem dramaturgisch perfekt ausbalancierten Plot.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Dunkle Gewässer"

Richard Laymon – „Der Geist“

Samstag, 11. Oktober 2014

(Heyne, 512 S., Tb.)
Während der Semesterabschlussfeier, die die junge Literatur-Dozentin Dr. Corie Dalton für ihre Studenten bei sich zu Hause veranstaltet, entdeckt Lana unter einem Stapel von Gesellschaftsspielen ein Ouija-Brett, das sie entgegen des Rats ihrer Gastgeberin mit ihren Kommilitonen ausprobiert. Tatsächlich gelingt es den Studenten, Kontakt zu einem Geist namens Butler aufzunehmen, der die Spieler erst auf einen 100-Dollar-Schein zwischen den Sofakissen aufmerksam macht und ihnen schließlich einen Schatz am Calamity Peak, einer schwer zugänglichen Bergregion in Kalifornien, in Aussicht stellt.
Als Corie in der Nacht Besuch von Chad, dem Bruder ihres verstorbenen Mannes, bekommt, der sich vor fünf Jahren in die Berge zurückgezogen hatte, machen sich Keith, Lana, Doris, Glen, Howard und Angela auf den Weg – mit dem Ouija-Brett, das ihnen den Weg zum Schatz weisen soll. Während Corie in der Nacht endlich erfährt, warum Chad damals so plötzlich aus ihrem Leben verschwunden ist, packen die Studenten ihre Sachen, wobei Howard Angela erst einmal aus den Fängen ihres Peinigers Skerrit befreien muss. Der Vorfall bringt die beiden einander ebenso näher, wie Corie und Chad die Vergangenheit ruhen lassen, um gemeinsam einen Neubeginn zu wagen. In Sorge um ihre Studenten macht sie sich mit ihrem neuen Lover auf den Weg, die jungen Leute von ihrem Vorhaben abzubringen. Tatsächlich durchkreuzt ein muskelbepackter Irrer die Pläne der jungen Schatzsucher, doch warten noch weitaus schlimmere Gefahren in der Wildnis auf sie.
Währenddessen erfährt Howard, warum Angela ihm immer so merkwürdig vorkam, als sie ihm ihre Geschichte erzählt.
„Er hatte Mitleid mit ihr. Und mit sich selbst. Er wollte, dass alles wieder so wäre, wie es war, bevor sie ihm ihre schreckliche, unglaubliche Geschichte erzählt hatte. Doch als er sie danach umarmt hatte, hatte er sich geekelt. Als wäre sie unrein, verdorben. Schmutzig. Als stänke sie nach all den anderen, nach ihrem Schweiß und ihrem Samen. Irgendwie hatte sie seine Empfindungen gespürt. Ich will nicht so sein, sagte er sich. Außerdem ist es dumm. Sie ist immer noch Angela. Sie hat sich nicht verändert, weil sie die Geschichte erzählt hat. Und vorher schien sie nicht schmutzig zu sein.“ (S. 276 f.) 
Richard Laymons Horror-Thriller zeichnen sich nicht gerade durch eine besonders raffinierte Sprache oder komplexe Handlungen aus, dafür gelingt es ihm spielend, seine Leser schon mit den ersten Sätzen voll ins Geschehen zu ziehen und seine Figuren äußerst lebendig zu zeichnen. In dieser Hinsicht macht „Der Geist“ keine Ausnahme. Allerdings war es noch nie Laymons Stärke, übersinnliche Elemente besonders überzeugend in seinen Geschichten darzustellen. So verliert „Darkness, Tell Us“, so der 1991 veröffentlichte Originaltitel, immer dann an Eindringlichkeit, wenn das Ouija-Brett ins Spiel kommt, und gewinnt an Dynamik, wenn das Grauen ganz reale Züge annimmt. Und wie bei Laymon üblich darf es in „Der Geist“ auch an expliziten Sexszenen nicht fehlen.
„Der Geist“ zählt sicher nicht zu den stärksten Werken des 2001 verstorbenen Amerikaners, aber Laymon-Fans dürfen sich auf einen bewährten Mix aus Sex, Spannung und Gewalt freuen, dem man so einige Ungereimtheiten gern verzeiht, wenn es die Handlung entsprechend vorantreibt.
Leseprobe Richard Laymon - "Der Geist"

J. R. Moehringer – „Tender Bar“

Samstag, 4. Oktober 2014

(S. Fischer, 459 S., HC)
Seit Steve 1970 die Bar im Herzen der idyllischen Vorstadt Manhasset, siebenundzwanzig Kilometer südöstlich von Manhatten liegend, kaufte und sie nach dem englischen Schriftsteller Charles Dickens in „Dickens“ umbenannte, gibt er seinen Gästen nicht nur den Schutz und den Glanz, den sie wie jeder Amerikaner suchen, sondern lässt sie an diesem egalitären Ort vor allem ihre Einsamkeit vergessen. Es soll einen Gegenpol zu der Welt draußen darstellen, ein Wohnzimmer jener Bilderbuchfamilie, die es nicht gibt. Der siebenjährige John Joseph Moehringer, Jr. wurde nach seinem erfolgreich als Radio-DJ arbeitenden Vater benannt, den seine Mutter verlassen hatte, als er gerade sieben Monate alt war, und der Verlust schmerzt den Jungen so sehr, dass er eine tiefe Verbundenheit zu den Männern entwickelt, die sich regelmäßig im „Dickens“ einfinden. Hier empfängt JR, wie er sich nennt, um nicht mit dem Namen seines Vaters verbunden zu sein, die Geborgenheit und die Ratschläge, die Jungen eigentlich von ihren Vätern bekommen sollten.
JR lernt, woher Smelly, Sooty, Joey D, No-Drip, Bob the Cop und Cager ihre Spitznamen bekommen haben, folgt ihren Diskussionen um Baseballstars und Frauengeschichten. Mit seiner alleinerziehenden Mutter versucht JR immer wieder, aus der Tristesse auszubrechen, die das Leben unter dem Dach seiner Großeltern mit all den Cousinen bedeutet, aber da seine Mutter nie genug verdient, um eine eigene Wohnung auf Dauer zu finanzieren, kehren sie immer wieder zurück. Als JR älter wird, bekommt er ein Stipendium für Yale, doch fühlt er sich im elitären Zirkel all der wohlhabenden Kommilitonen aus gutem Hause wie ein Underdog. Er lernt mit Sidney seine große erste Liebe kennen, die ihn immer wieder wegen anderer Männer sitzenlässt, aber im „Publicans“, wie die Bar nun heißt, findet der nun volljährige JR immer wieder den Mut und die Zuversicht, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen.
„Ich mauserte mich von einem verschwommenen Wesen zu einer wirklichen Person. Onkel Charlie fuhr nicht mehr erschrocken in die Höhe, wenn er mich neben sich stehen sah, und die anderen Männer nahmen mich bewusster wahr, redeten mit mir, brachten mir Dinge bei. Sie brachten mir den richtigen Griff für einen Curveball bei, den richtigen Schwung für ein Neuner-Eisen, die richtige Drehung beim Footballwurf, die Tricks beim Seven-Card Szud-Poker. Sie brachten mir bei, wie man mit den Schultern zuckt, wie man die Stirn in Falten legt, wie man seinen Mann steht. Sie brachten mir Haltung bei und versicherten mir, das Auftreten eines Mannes sei seine Philosophie. Sie brachten mir bei, wie man das Wort ‚fuck‘ benutzt, schenkten mir das Wort wie ein Taschenmesser oder ein gutes Kleidungsstück, wie etwas, das jeder Junge haben sollte.“ (S. 117). 
Der 1964 in New York geborene J. R. Moehringer studierte tatsächlich in Yale und wurde Reporter bei der Los Angeles Times, gewann 2000 sogar den Pulitzer-Preis und veröffentlichte 2005 mit „Tender Bar“ seinen international gefeierten Debüt-Roman. Mit lakonischem, stets selbstironischen Humor und tiefsinnig bewegendem Ton beschreibt Moehringer, wie er den frühen Verlust seines Vaters, den er immer nur als „Die Stimme“ bezeichnet, kompensiert, indem er auf die Stärke seiner Mutter ebenso bauen kann wie auf die weisen Ratschläge all der Männer im „Publicans“.
Wir erfahren, wie der junge JR durch seine „Worte“ den Respekt der Männer erwirbt, wie er durch einen Nebenjob skurrile Buchhändler kennenlernt, die ihn für Yale vorbereiten, wie seine Initialen mit Punkten versehen werden und warum Frank Sinatra eine so große Rolle in seinem Leben spielt. In all diesen biografischen Sequenzen lernen wir nicht nur, wie J. R. Moehringer zu dem Mann geworden ist, der uns schließlich mit diesem wundervollen Roman beglückt, sondern werden auch echten Männern vorgestellt, die auf ihre jeweils einzigartige Weise einen besonderen Einfluss auf das Leben des jungen Mannes genommen haben.
Mit diesem Entwicklungsprozess sind so einige schmerzhafte, aber auch erleuchtende Erkenntnisse verbunden, die „Tender Bar“ bei allem Humor und manchmal tragischen Episoden eine fundamentale Tiefe verleihen, die das Lesen auch zu einem philosophischen Vergnügen macht. Leseprobe J. R. Moehringer - "Tender Bar"

Nick Cutter – „Das Camp“

Sonntag, 28. September 2014

(Heyne, 464 S., Tb.)
Falstaff Island ist eine kleine unbewohnte Insel fünfzehn Kilometer vor der Nordspitze des kanadischen Festlands, die nur als Quartier für gelegentliche Exkursionen dient – wie für die Pfadfindertruppe von Gruppenleiter Tim Riggs. Kaum wurde der 42-Jährige mit den Jungs Kent, Shelley, Newton, Max und Ephraim von einem Boot mit Proviant für drei Tage auf der Insel abgesetzt, bekommt die Truppe Besuch von einem Schiffbrüchigen, wie es aussieht, einem völlig ausgemergelten Mann, der von einem unsäglichen Hunger gequält wird.
Doch die unerschöpfliche Nahrungszufuhr richtet wenig aus. Stattdessen zerfällt der Körper des Mannes immer mehr, und dem als Arzt praktizierenden Gruppenleiter wird schnell bewusst, dass der Mann unter einer tödlichen Infektion leidet.
 „Der Fremde sah nicht mehr ganz wie ein Mensch aus, sondern eher wie etwas, das ein zurückgebliebenes Kind mit einem Buntstift malen würde. Sein Körper bestand nur noch aus Strichen. Seine Arme waren Kritzeleien. Seine Finger kalligrafische Spinnen. Die Haut legte sich furchtbar straff um seinen Brustkorb und spannte sich um jede Rippe, sodass man die einzelnen Muskelfasern sehen konnte. Sein Brustbein war nur noch ein Knoten und sein Becken ein schauerliches, biegsames Gabelbein. Seine Gesichtshaut hatte die Patina von altem Kupfer und klebte so fest an seinem Schädel, dass Max die klaffenden Knochenringe seiner Augenhöhle sehen konnte. Seine Ohren standen wie die Henkel eines Krugs ab und waren so dünn, dass sie sich wie verkohltes Papier nach innen kräuselten.“ (S. 115) 
Riggs schickt die Jungs auf einen Orientierungsmarsch, um sich allein mit dem Kranken zu beschäftigen, wird aber schließlich selbst von dem befallen, das sich unter der Haut und in den Eingeweiden des Gestrandeten schlängelnd bewegt. Nun scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis auch Riggs Schützlinge in Kontakt mit der tödlichen Gefahr kommen …
Mit „The Camp“ hat der kanadische Schriftsteller Craig Davidson (der u.a. für die Romanvorlage des Films „Rost und Knochen“ verantwortlich zeichnete) unter dem Pseudonym Nick Cutter einen hoffentlich nicht einmaligen Ausflug ins Horror-Genre unternommen. Dass Cutter „The Camp“ mit einem Zitat aus William Goldings Klassiker „Herr der Fliegen“ einleitet, ist mehr als nur naheliegend, schließlich wirkt das Setting zunächst allzu vertraut: Fünf Jungen auf der Schwelle zum Erwachsensein werden auf einer einsamen Insel mit einer tödlichen Gefahr konfrontiert, die auch das Verhalten untereinander beeinflusst.
Cutter hat – wie er in seiner Danksagung zugibt – den Aufbau der Story aus Stephen Kings „Carrie“ übernommen, und auch wenn er eine komplett andere Story erzählt, weist „Das Camp“ wesentliche Charakteristika des King of Horror auf, beispielsweise eine eindrucksvolle, glaubwürdige Figurenzeichnung, eine farbenprächtige Sprache und einen packenden Spannungsaufbau, der immer nur durch Auszüge aus Beweismittellisten, Zeitungsartikeln, Gutachten, wissenschaftlichen Vorträgen und eidesstattlichen Aussagen unterbrochen werden, die auf den schrecklichen Ausgang der Story hinweisen.
Natürlich kommt hier auch der berühmte wahnsinnige Wissenschaftler ins Spiel, aber dem Autor gelingt es, dieses vertraute Mittel nicht allzu abgeschmackt zu verwenden, sondern sinnvoll in die Thematik von dem Sinn und Unsinn von wissenschaftlichem Ehrgeiz einzufügen.
„The Camp“ ist ein Horror-Thriller, der sprichwörtlich unter die Haut geht. Dabei überlassen Cutters detaillierte Schilderungen allerdings kaum etwas der Phantasie des Lesers. Aber indem er den Fokus der Geschichte ganz auf das Geschehen auf Falstaff Island reduziert, entwickelt die Story einen unheimlich fesselnden Sog, der keine Gefangenen macht.
Leseprobe Nick Cutter - "Das Camp"

Olen Steinhauer – „Die Spinne“

Sonntag, 21. September 2014

(Heyne, 494 S., Pb.)
Seit der Xin Zhu die sogenannte „Tourismus“-Abteilung der CIA für den Mord an seiner Tochter verantwortlich gemacht hat, löschte er diese in einer spektakulären Racheaktion mit den akkurat ausgeführten Morden an dreiunddreißig Agenten nahezu komplett aus. Zu den wenigen Überlebenden der Abteilung zählten neben dem Leiter Alan Drummond und der Agentin Leticia Jones auch Milo Weaver, der das Massaker an seiner Dienststelle zum Anlass nahm, seinen Job an den Nagel zu hängen.
Doch sein Freund Alan hat es bis heute nicht verwunden, dass er die Morde an seinen Agenten nicht verhindern konnte, und bittet Milo um Unterstützung bei der Vernichtung des Chinesen, der eine Abteilung des chinesischen Geheimdienstes leitet. Weaver lässt sich zunächst nicht ködern, doch dann verschwindet Drummond spurlos aus einem Londoner Hotel. Offensichtlich verfolgt er einen anderen Plan als Senator Nathan Irwin und die NCS-Beamtin Dorothy Collingwood, mit denen er zuvor eine Operation gegen Xin Zhu besprochen hatte.
Als Weavers Frau und Tochter gekidnappt werden, muss er sich wider Willen auch an der Suche nach Drummond beteiligen.
„Er wusste – oder vermutete -, dass sich Alans Plan um Rache drehte, während die Gruppe um Collingwood einen anderen Zweck verfolgte der vielleicht in den Abgründen der Außenpolitik verborgen lag. Was Alan auch vorhatte, es war auf jeden Fall so problematisch, dass Collingwood eine weltweite Suchaktion nach ihm angeleiert hatte. An diesem Punkt kam es auch darauf an, sich von seinen Vorurteilen zu verabschieden. Egal, wie durchgeknallt Alan war, Milo tendierte natürlich zu seiner Seite, denn auf der anderen Seite stand Irwin. Milo versuchte zwar, einen Bogen um Begriffe wie gut und böse zu machen, aber ihm war klar, dass er die beiden Lager automatisch in diese Schubladen einsortierte.“ (S. 276) 
Es dauert mehr als 100 Seiten, bis Milo Weaver, der Protagonist aus Steinhauers ersten beiden Thrillern „Der Tourist“ und „Last Exit“, die Bühne betritt. Bis dahin werden vor allem die Bemühungen des chinesischen Geheimdienstes beschrieben, die Gründe des zu spät bemerkten Aufenthalts von Leticia Jones in Shanghai aufzuklären. Doch sobald Milo Weaver in die Operation eingebunden wird, kommt Tempo und Spannung in den Plot, wie man es sonst nur aus dem Umfeld von James Bond und Jason Bourne kennt.
Steinhauer gelingt es dabei allerdings, die Story nicht unnötig komplex aufzubauschen, sondern diese sehr persönlich zu färben. Erst im letzten Viertel schlägt er vielleicht ein paar Haken zu viel und verliert seinen Helden etwas aus dem Blick. Interessant sind die vertrackten Pläne sowohl des amerikanischen als auch des chinesischen Geheimdienstes aber allemal.
Leseprobe Olen Steinhauer - "Die Spinne"

John Niven – „Coma“

Dienstag, 2. September 2014

(Heyne, 397 S., Pb.)
Unterschiedlicher können zwei Brüder kaum sein wie Gary und Lee Irvine. Sie sind beide nie aus dem beschaulichen Ardgirvan an der schottischen Westküste herausgekommen, doch da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Gary schlug sich in der Verwaltung von Hendersons Gabelstaplerwerk durch und unterminierte konsequent die höher gesteckten Erwartungen seiner Frau Pauline, die sich damals nur auf Gary einließ, weil er der einzige in der Stadt mit einem Job und Auto gewesen war.

Garys große Leidenschaft gilt aber dem Golfsport, die er von seinem vor Jahren verstorbenen Vater geerbt hat, der im Gegensatz zu seinem Sohn aber ein guter Spieler war. Wenn sich Gary auf das Grün wagt, endet sein Auftritt meist in peinlichen Fiaskos. Seinem Bruder Lee ergeht es ganz ähnlich. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und ist sich nicht zu schade, das Darth-Vader-Sparschein seines Sohnes zu plündern, um sich das nächste Pint in der Kneipe leisten zu können. Als er einen Drogendeal vermasselt, sieht es um seine Zukunft noch schwärzer aus. Das Leben der beiden Brüder ändert sich schlagartig, als Gary von einem fehlerhaften Golfball direkt an der rechten Schläfe so schwer getroffen wird, dass er ins Koma fällt, nachdem er gerade den besten Schlag seines Lebens absolviert hat. Als Gary aus dem Koma erwacht, leidet er unter einer außergewöhnlichen Art des Tourette-Syndroms.
„Robertson hatte Cathy und Pauline erklärt, dass all das unfreiwillig geschah, dass es sich dabei um eine spastische Reaktion handelte, die sich unwesentlich von einem Schluckauf unterschied, und dass Gary häufig gar nicht wahrnahm, was er da tat. Dennoch fiel ihnen auf, dass er den Kraftausdrücken manchmal eine hastige Entschuldigung oder einen durchaus bewussten Fluch aus Frustration über seinen Zustand folgen ließ. Ein solcher Satz hörte sich dann folgendermaßen an: ‚Hi, Mum, ich war bloß – O MANN! Du geile Sau, ficken – `tschuldigung! – blöde Kuh, lutsch meinen – SCHEISSE! – lutsch meinen Schwanz. SCHEISSE! SORRY! Grrr!‘“ (S. 154). 
Während Gary und seine Liebsten mit der neuen Situation zurechtzukommen versuchen, plant Garys Frau Pauline, mit dem reichen Teppich-Händler Findlay Masterson ein neues Leben anzufangen. Doch dazu muss erst einmal Findlays Frau aus dem Weg geräumt werden, da eine Scheidung nicht in Frage kommt. Derweil startet Gary allerdings auf dem Golfplatz voll durch und qualifiziert sich aus dem Nichts für die Open in St. Andrews, wo er sogar auf sein Idol Calvin Linklater trifft. Durch Garys unverhoffter Teilnahme und seiner Chance auf ein komfortables Preisgeld verändert sich gleich für etliche Freunde, Bekannte und Verwandte die jeweilige Lebenssituation.
Man muss wirklich kein Golf-Freak sein, um John Nivens „Coma“ lieben zu können. Zwar bedient sich der schottische Kultautor natürlich auch des dazugehörigen Fachjargons, doch lebt der Roman vor allem durch die außergewöhnliche Metamorphose, die Gary Irvine im Verlauf der Geschichte durchmacht. Allein die Sequenz, in der Niven beschreibt, wie Gary mit dem Aufkommen des Tourette-Syndroms auch unter ständigen Erektionen leidet, ist einfach herrlich.
Dazu wird „Coma“ von einer ganzen Reihe herrlich schräger Figuren bevölkert, die die Handlung in jeder Hinsicht bereichern. So wird aus „Coma“ nicht nur eine herrliche Golfer-Satire, sondern auch eine irrwitzige Gangster-Posse und Gesellschafts-Komödie, die durch Nivens grandiosen Wortwitz und wunderbare Dialoge besticht.
Leseprobe John Niven - "Coma"