Lee Child - (Jack Reacher: 15) "Wespennest"

Sonntag, 19. Juli 2015

(Blanvalet, 446 S., HC)
Auf seinem Weg nach Virginia wird der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher von einem Anhalter vor einem einsam gelegenen, aber futuristisch aussehenden Motel in Nebraska abgesetzt. An der Bar des Apollo Inn bekommt er mit, wie der Barkeeper von einer Mrs. Duncan angerufen wird, die über Nasenbluten klagt, das nicht aufhören will. Doch der Arzt, der neben Reacher an der Theke sitzt und dem der Anruf gilt, ist zu betrunken, um seinen Pflichten nachzukommen. Als Reacher den Arzt zum Haus der Duncans fährt, bemerkt er, dass die Frau offensichtlich nicht zum ersten Mal von ihrem Mann Seth verprügelt worden ist.
Reacher schnappt sich den Subaru des Doktors und stattet Seth einen Besuch im einzigen Steakhaus der Stadt einen Besuch ab, der mit der gebrochenen Nase des Ehemanns endet. Doch Seth, sein Vater Jacob und dessen Brüder Jonas und Jasper lassen es nicht dabei bewenden. Schließlich haben sie mit ihrem Transportunternehmen nicht nur das ganze County in ihrer Hand, sondern warten auf eine dringende Lieferung, die wiederum an ihren Geschäftspartner Mr. Rossi in Las Vegas weitervermittelt werden muss.
Aber Mr. Rossi ist nicht das Ende der Nahrungskette, und so geraten die Duncans enorm unter Druck, Reacher auszuschalten und die delikate Lieferung zu sichern. Reacher muss feststellen, dass er nicht länger in der Gegend erwünscht ist, dass jeder hier vor den Duncans Angst hat. Als er zu recherchieren beginnt, woher diese Angst rührt, stößt er auf den Fall eines vor 25 Jahren verschwundenen Mädchens, den weder die State Police noch das FBI lösen konnte. Während Reacher herauszufinden versucht, woran die Ermittlungen gescheitert sind, machen die Duncans sowohl mit den Italienern als auch den Iranern zunächst gemeinsame Sache, um den riesigen Fremden auszuschalten, der ihre Geschäfte sabotiert. Aber eigentlich nutzt jede Partei die Möglichkeit, die gegenwärtigen Geschäftspartner auszuschalten, um noch mehr vom Kuchen einzubehalten.
„Es gab keinen riesigen Fremden, der hier Amok lief. Keiner hatte ihn gesehen, und niemand konnte ihn beschreiben, weil er nicht existierte. Er war erfunden. Er war imaginär. Er war ein Köder. Er war eine List. Die ganze angebliche Verzögerung war Bockmist. Sie war von A bis Z erfunden. Sie hatte nur dazu gedient, um alle nach Nebraska zu locken, damit sie ausgeschaltet, liquidiert, umgelegt werden konnten. Die Duncans beseitigten ein Kettenglied nach dem anderen und wollten die ganze Kette eliminieren, um direkt mit den Saudis ganz oben verhandeln und den eigenen Gewinn vervielfachen zu können.“ (S. 330) 
Allerdings müssen sowohl die Duncans als auch die Italiener und Iraner sukzessive feststellen, dass Reacher durchaus eine reale Bedrohung darstellt, der seine ganze Cleverness und Erfahrung seiner Militärzeit in die Waagschale wirft, um die verängstigten Bewohner des Countys wieder ihr eigenes Leben führen zu lassen und einen kalten Fall zu lösen.
Nach „61 Stunden“ ist „Wespennest“ nicht nur der 15. Roman in Lee Childs gefeierter Jack-Reacher-Reihe, sondern gleichzeitig der zweite Band der sogenannten Susan-Turner-Tetralogie. Susan Turner ist das Ziel in Virginia, zu dem sich Reacher als Anhalter auf den Weg macht, und unterwegs hat er vertrackte Abenteuer zu bestehen, in die nur Typen wie Reacher gelangen und einigermaßen heil wieder rauskommen können.
Wie gewohnt erfährt der Leser nicht viel über Reachers Privatleben oder Gefühle. Reacher macht sich ohne Gepäck einfach auf den Weg und packt die Probleme, die sich ihm in den Weg stellen, mit gnadenloser Effizienz an. Wie er die brenzligsten Situationen nüchtern analysiert und seine Vorgehensweise darauf abstimmt, beschreibt der in England geborene Lee Child entsprechend schnörkellos, in kurzen, prägnanten Sätzen, nur die harten Fakten betrachtend, aus denen sich Reachers Handlungsspielraum wie von selbst definiert. Geschickt enthüllt Child im Laufe der Geschichte immer weitere Teile des ominösen Unternehmens, das die Duncans da betreiben und in dem auch die Lösung für den Fall des verschwundenen Mädchens liegt.
Meisterhaft verbindet der Autor dabei filmreife Action mit geschickter Ermittlungsarbeit, so dass der Leser es gar nicht abwarten kann, den nächsten Jack-Reacher-Roman in den Händen zu halten.
Leseprobe Lee Child - "Wespennest"

Clive Barker – „Das scharlachrote Evangelium“

Sonntag, 12. Juli 2015

(Festa, 460 S., Tb.)
Nachdem eine Handvoll von Magiern mit dem N’guize-Ritual ihren Anführer Joseph Ragowski von den Toten wiedererweckt hat, muss dieser erfahren, dass ein Dämon den einst beachtlichen Kreis ihresgleichen auf die sechs Anwesenden reduziert hat. Kaum wird Ragowski über die tragische Entwicklung in Kenntnis gesetzt, taucht auch schon der besagte Dämon – Pinhead – auf, die letzten Bestandteile des Magischen Orders auszumerzen, der über Jahrhunderte hinweg im Schatten der Zivilisation agiert hatte. Doch damit ist sein Werk längst nicht beendet. Der Anführer der Zenobiten hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Lichtbringer Luzifer selbst herauszufordern und sich damit selbst auf den Thron der Hölle zu setzen.
Allerdings hat er es dabei mit Harry D’Amour zu tun, dem ehemaligen Polizisten, der sich nun in New York als Detektiv durchschlägt. Als seine gute Freundin Norma Paine, die einen engen Draht zu den Toten unterhält, mit dem Tod des Anwalts Carston Goode konfrontiert wird, ist es an Harry, dessen geheimes Haus in New Orleans aufzusuchen, von dem Goodes Frau keine Kenntnis haben darf. Goodes Haus entpuppt sich nicht nur als Ort der Magie und abartiger sexueller Praktiken, sondern er stößt auch auf Lemarchands geheimnisvollen Würfel, durch den der Dämon Felixson Eintritt in D’Amours Welt erhält. Der Detektiv entkommt der Auseinandersetzung mit Pinheads Gefolgsmann nur mit knapper Not, doch zum Ausruhen hat der Detektiv, der mit allerlei Schutzzaubern tätowiert ist, keine Zeit.
Pinhead, der wegen seiner geheimen Beschäftigung mit menschlicher Magie durch den Unverzehrten aus dem Orden verbannt wurde, hat sich Norma geschnappt und verlangt von D’Amour, die Dinge zu bezeugen, die Pinhead in Gang zu bringen versucht. Zusammen mit seinen Freunden Dale, Caz und Lana folgt D’Amour dem Zenobitenpriester in die Hölle, wo Luzifer und Pinhead eine epische Schlacht entfachen.
„Der Höllenpriester sah über die linke Schulter und flüsterte etwas in die Dunkelheit, die ihn umgab. Sie schien sich noch mehr zu verdichten, wie ein eifriger Komplize, der begierig jeden Befehl aufnahm. Harry war der stumme Beobachter der Geschehnisse, sein Kopf schwirrte von unbeantworteten Fragen. War diese seltsame Gestalt – die immer tiefer in ihren Selbstmordstuhl sackte, je mehr Klingen aus ihrem Körper gezogen wurden – wirklich der Gegenspieler, das leibhaftige Böse, der Gefallene, Satan? Er sah einfach zu bedauernswert aus, zu menschlich, wie er da auf seinem Todesthron saß. Die Vorstellung, dass dieses Geschöpf einst Gottes Liebling gewesen sein sollte, schien lächerlich.“ (S. 330) 
1995 hat der in Liverpool geborene und seit Jahren in Los Angeles lebende Autor, Illustrator, Maler und Filmemacher Clive Barker mit „Lord of Illusions“ seine aus den „Büchern des Blutes“ stammende Kurzgeschichte „Die letzte Illusion“ verfilmt und damit seine bis dato dritte und letzte Regiearbeit vorgelegt, nachdem der Film bei der Kritik und auch beim Publikum nicht allzu überschwänglich aufgenommen worden war. Barkers Versuch, mit Harry D’Amour eine Film-noir-Figur im Horror-Genre zu etablieren, wirkte wenig logisch und allzu holperig in der Inszenierung. Dabei hatte Barker mit „Hellraiser“, seiner ersten eigenen Adaption einer seiner Kurzgeschichten – „The Hellbound Heart“ – , einen modernen Klassiker des Horrorkinos geschaffen und mit den Zenobiten unvergessene Ikonen des Genres kreiert, die in unzähligen Sequels weiterhin auf der Leinwand ihr dämonisches Treiben zelebrierten.
Mit „Das scharlachrote Evangelium“ lässt Barker nun seine zwei wohl bekanntesten Figuren aufeinandertreffen und kreiert dabei ein Szenario, das ein wenig an Stephen Kings epische Schlacht in „The Stand – Das letzte Gefecht“ erinnert. Barker nimmt sich zunächst Zeit, die Geschichte von Harry D’Amour und seiner blinden Freundin Norma zu erzählen. Parallel dazu treibt Pinhead seine dämonische Vernichtungsarbeit, indem er zunächst die letzten verbliebenen menschlichen Magier tötet und ihren Leichen die Geheimnisse entnimmt, die ihn selbst noch mächtiger werden lassen, bevor er in der imponierenden Kathedrale der Hölle Luzifer selbst gegenübertritt.
Wie üblich bedeint sich Barker dabei der christlichen Mythologie und beweist eine enorme Vorstellungskraft, wenn er die Landschaft der Hölle in bildgewaltigen Szenarien beschreibt. Es ist wohl niemandem außer Clive Barker bislang gelungen, die Hölle in ebenso faszinierenden wie erschreckenden Bilder zu zeichnen und diese mit Dämonen zu bevölkern, deren Treiben jegliche menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Während das Hollywood-Franchise „Hellraiser“ längst zu einer Karikatur des ursprünglichen Konzepts verkommen ist, lässt „Das scharlachrote Evangelium“ darauf hoffen, dass die Zenobiten zumindest in Barkers literarischen Ambitionen weiterhin eine so beeindruckende Rolle spielen.
Leseprobe Clive Barker - "Das scharlachrote Evangelium"

Jim Thompson – „Südlich vom Himmel“

Dienstag, 7. Juli 2015

(Heyne, 297 S., Tb.)

Der junge Tommy Burwell arbeitet in den 20er Jahren in der westlichen Prärie von Texas an einer Pipeline, die bis nach Port Arthur am Golf von Mexiko reichen soll. Mit von der Partie sind ein Haufen von Knackis, Saufbrüdern und Landstreichern mit zerfetzten Kleidern am Leid und leeren Mägen, ebenso sein Kumpel Four Trey. Statt sich entspannt wie gewohnt um die Arbeitszeiterfassung zu kümmern, sind die beiden Männer diesmal für das Sprengen mit Dynamit eingeteilt, woran Tommy unschöne Erinnerungen hat.
Allein die gut ausgestattete Carol, die dem Camp nachreist, sorgt für angenehme Ablenkung vom harten Arbeitsalltag, und schon schmiedet das Liebespaar Pläne für die Zukunft. Allerdings ist mit den Jungs im Camp nicht zu spaßen, vor allem nicht mit Bud Lassen, der als Deputy Sheriff sichtlich Spaß daran hat, den Leuten das Leben schwerzumachen und dabei vor allem Tommy auf dem Kieker hat. Als Lassens zerteilte Leiche an einer Baggerschaufel gefunden wird, wird Tommy sogleich als Mörder verdächtigt und eingesperrt. Doch das ist der Anfang eines perfiden Plans, der von einer Gauner-Bande erdacht worden ist, um an die Lohngelder zu kommen, die alle zwei Wochen an die Arbeiter ausgezahlt werden.
„Was die Malocher anging …
Sie stiegen von den Ladeflächen, und alles an ihnen schrie vor Müdigkeit und Hunger; von diesem Tag und von all den bitteren Tagen zuvor. All die Leere dieser Tage und jener, die noch vor ihnen lagen. Das Schlimmste daran war, dass es ihnen nichts auszumachen schien. Sie hatten einen Tag geschafft. Den Tag zu schaffen, ganz gleich wie, war die Summe ihres Lebens. Und so erledigt, wie sie waren, rissen sie Witze und lachten. Warum auch nicht? Sie lachten über die Dinge, über die sie nicht hätten lachen sollen. Über ihre allgemeine Wertlosigkeit, über den Schmutz an Kleidung und Körper – alles klebte vor Schlamm aus Staub und Schweiß.“ (S. 92) 
„Südlich vom Himmel“, 1967 und damit zehn Jahre vor Thompsons Tod veröffentlicht, zählt zu den Spätwerken eines Autors, der bereits mit fünfzehn Jahren seine erste Kriminalgeschichte verkaufen konnte, aber seinen Lebensunterhalt als Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter und Alkoholschmuggler verdienen musste, bevor er Drehbücher für Filmemacher wie Stanley Kubrick verfassen durfte. 
Als zentraler Vertreter des Noir-Genres wird er nicht nur von Stephen King verehrt, sondern wird sukzessive auch in der Heyne-Hardcore-Reihe wieder dem deutschen Publikum zugänglich gemacht. „Südlich vom Himmel“ ist zwar auch ein Krimi, stellt sich aber vor allem als gut beobachtete Milieustudie dar, die kaum einer so authentisch präsentieren kann wie Thompson, der sich lange Zeit selbst mit Knochenjobs über Wasser halten musste. In seiner gewohnt schnörkellosen, direkten Art bringt er das einfache wie harte Leben von Wanderarbeitern auf den Punkt und beschreibt schonungslos, wie Träume zu sprichwörtlichem Staub zermahlen werden. 

Lee Child – (Jack Reacher: 17) „Der Anhalter“

Samstag, 4. Juli 2015

(Blanvalet, 446 S., HC)
Mit seinen ein Meter fünfundneunzig Körpergröße, der ohnehin kräftigen Statur und nun noch einer frisch gebrochenen Nase ist Jack Reacher nicht gerade in der besten Ausgangslage, um als Anhalter mitgenommen zu werden. Als er auf dem Weg nach Osten bis Virginia nach anderthalb Stunden Wartezeit endlich mitgenommen wird, ist der ehemalige und vielfach dekorierte Militärpolizist erst einmal froh, aber als er hinter den beiden Männern neben der Frau hinten im Wagen Platz nimmt, analysiert er sofort die Situation: Aus der einheitlichen Kleidung schließt Reacher, dass hier Kollegen unterwegs sind.
Alan King, Don McQueen und Karen Delfuenso sind im Vertrieb einer Software-Firma tätig und gerade von Kansas nach Chicago unterwegs, erfährt Reacher, doch nach einigen Meilen kommt ihm die Situation merkwürdig vor. Die Frau neben ihm ist auffällig ruhig, die Angaben der Männer nicht ganz schlüssig. Schließlich gibt die Frau Reacher durch einen Blinzel-Code zu verstehen, dass sie eine Geisel ist, dass die Männer mit ihrem Auto unterwegs sind und dass sie selbst eine Tochter hat. Er weiß nicht, dass die Männer in der Nähe von Kansas an einem Mord beteiligt gewesen sind, an dem neben dem County Sheriff Victor Goodman auch die FBI-Agentin Julia Sorenson ermittelte. Bevor Reacher die Frau befreien kann, gelingt es den Männern, mit ihr allein die Flucht fortzusetzen. Nachdem sie mit Reacher zusammen die Straßensperren passiert hatten, war er nicht mehr nützlich für sie. Nun setzt Reacher mit Sorenson alles daran, die Geisel zu befreien. Doch dann wird auch noch die zehnjährige Tochter der Geisel entführt.
„Sie war ein Mädchen vom Land. Zehn Jahre alt. Bestimmt kein Wunderkind. Sie würde jedem Erwachsenen mit einer halbwegs überzeugenden Story geglaubt haben. Jegliche Autorität würde sie überzeugt haben. Sie würde jede Art Versprechen bereitwillig hingenommen haben. Komm mit, Kleine. Wir haben deine Mama gefunden. Wir bringen dich zu ihr.
Aber wer?
Wer hatte überhaupt gewusst, dass Delfuenso verschwunden war? Natürlich sein ganzes Department, dazu die Nachbarn, und vermutlich einige Leute, mit denen sie seither telefoniert hatten. Und die beiden Kerle. Aber weshalb würden sie erst die Mutter ermorden und sich dann das Kind holen?“ (S. 238) 
Lee Child weiß, wie man packende Thriller schreibt. Nachdem der in England geborene Autor beim Fernsehen so gefeierte Thrillerserien wie „Heißer Verdacht“ und „Für alle Fitz“ betreut hatte, zog er in die USA und landete gleich mit seinem ersten Jack-Reacher-Roman „Größenwahn“ einen internationalen, preisgekrönten Bestseller. Seither zählen Lee Childs Jack-Reacher-Thriller zum Besten, was das Genre zu bieten hat, und mit Tom Cruise als „Jack Reacher“ (basierend auf dem 9. Band „Sniper“) hat die charismatische Figur mittlerweile auch den Weg auf die Leinwand gefunden. „Der Anhalter“ stellt bereits den 17. Roman um den ehemaligen Militärpolizisten dar, der nach dreizehn Jahren bei der Army mittlerweile fast ebenso lang auf eigenen Beinen steht und sich ohne familiäre Bindungen, einem Zuhause und Arbeitgeber eher ziellos durchs Leben treiben lässt. Indem Jack Reacher als Anhalter durch die USA reist, wird diese Lebensweise schon zu Beginn auf den Punkt gebracht. Auch wenn er etwas abgerissen erscheint, sind die Lektionen, die er beim Militär gelernt hat, in Fleisch und Blut übergegangen.
Aus einer zunächst unverfänglich erscheinenden Situation entwickelt „Der Anhalter“ einen raffinierten Plot, in dem Reachers nach wie vor geschulten Instinkte nicht nur sein eigenes Überleben sichern, sondern auch der Personen, die ihm am Herzen liegen. „Der Anhalter“ ist clever konstruiert, schnörkellos geschrieben, mit sympathischen Protagonisten gespickt, über die der Leser gern mehr erfahren würde, und schließlich so temporeich auf der Zielgeraden, dass es einem den Atem raubt. Mehr davon!
Leseprobe Lee Child - "Der Anhalter"

Don Winslow – (Art Keller: 2) „Das Kartell“

Sonntag, 28. Juni 2015

(Droemer, 831 S., Pb.)
Der US-amerikanische Drogenfahnder Art Keller hat sich ganz dem Kampf gegen die mexikanischen Kartelle verschrieben. Nachdem er sich in das Herz der dortigen Drogenmafia eingeschleust hatte und reihenweise Händlerringe auffliegen ließ, wurde aus dem Jäger Keller auf einmal selbst der Gejagte und sein ehemaliger Freund Adán Barrera zu seinem erbittertsten Feind. Mit seinen eigenmächtigen Aktionen zog sich Keller zwar auch den Zorn Washingtons zu, aber am Ende lag die weltweit mächtigste Drogenorganisation El Federación am Boden, ihr Anführer Barrera landete im Gefängnis, Keller zog sich in ein Kloster zurück.
Doch als Barrera einen neuen Deal aushandelt und fliehen kann, muss auch Keller seine Oase des Friedens verlassen und erneut den Kampf gegen seinen Erzfeind aufnehmen. Denn Barrera setzt wieder alles daran, das Gleichgewicht zwischen den Kartellen zu unterminieren und aus der neuen Alianza de sangre wieder die alte Federación zu etablieren. Dazu muss Barrera auch seinen Platzhalter Osiel Contreras ausschalten, der sich selbst als neuen patrón betrachtet. Was aus amerikanischer Sicht die Jagd auf Contreras, der direkt nach Bin Laden ganz oben auf der Fahndungsliste steht, schwierig macht, ist die Tatsache, dass dieser die mexikanischen Polizeibehörden in der Tasche hat. Gerardo Vera und Luis Aguilar haben mit ihren AFI- und SIEDO-Truppen zunächst das Tijuana-Kartell zerschlagen, nun machen sie zusammen mit Keller Jagd auf Barrera. Doch in diesem Krieg ist nie wirklich klar, wer auf welcher Seite steht. In dem komplexen Krieg zwischen den Kartellen sterben nicht nur die Kämpfenden, sondern auch Frauen, Kinder, Polizisten, schließlich auch Journalisten.
Als der anonyme Internet-Blog Esta Vida die Grausamkeiten des Drogenkriegs dokumentiert, gerät auch Pablo ins Visier der Drogenmafia.
„Früher hat er lange und tief geschlafen, sich wohlig hin und her gewälzt, seine Träume ausgekostet. Jetzt hasst und fürchtet er den Schlaf. Denn mit dem Schlaf kommen die Alpträume. Das ist schlecht für einen Mann, der Tausende von Morden gesehen hat. Und die Tausend ist keine rhetorische Ziffer, wie er nachts einmal nachgerechnet hat, nein, es waren wirklich so viele Morde. Nicht die Morde direkt, natürlich, obwohl er manchmal nur Minuten später am Tatort stand, sondern die Folgen. Die Toten, die Sterbenden, das Grauen. Die Verstümmelten, die Enthaupteten, die Gehäuteten.“ (S. 755) 
Zehn Jahre nach seinem Meisterwerk „Tage der Toten“, mit dem der amerikanische Bestseller-Autor Don Winslow („Zeit des Zorns“, „Missing – New York“) auf fiktive Weise die realen Hintergründe des ebenso komplexen wie brutalen mexikanischen Drogenkrieges verarbeitete, legt Winslow nun mit „Das Kartell“ eine Fortsetzung nach, die in jeder Hinsicht ein epochales Thriller-Epos darstellt.
Dabei lässt er mit den Adán Barrera und Art Keller nicht nur die beiden charismatischen Protagonisten aus „Tage der Toten“ wieder aufeinandertreffen, sondern führt einige weitere interessante Figuren ein, die mit ihren Lebensgeschichten jeweils genug Stoff für einen eigenen Roman bieten würden. Das betrifft nicht nur die einzelnen Anführer der Kartelle oder die Polizeichefs, Winslow zeichnet auch die Frauenfiguren und die Journalisten so vielschichtig und authentisch, dass der Leser sich mitten in diesem äußerst blutigen Krieg zu befinden scheint.
Dabei vermischt Winslow auf gekonnte Weise die Fakten mit einer spannenden Handlung, die von unberechenbaren Figuren vorangetrieben wird.
Es ist zwar hilfreich und auch unbedingt zu empfehlen, „Tage der Toten“ gelesen zu haben, aber „Das Kartell“ bildet ein ganz eigenständiges Werk, in dem es nicht nur um die Wahrung und Ausweitung von Machtverhältnissen geht, um gesicherte Transportwege für Drogen- und Waffenlieferungen bis nach Europa, sondern auch um Korruption und Rache. Selbst Art Keller wandelt hier auf einem schmalen moralischen Grat.
Vielleicht ist „Das Kartell“ der beste Thriller des Jahres, auf jeden Fall wirkt dieses atmosphärisch dicht geschriebene, pulsierend spannende Werk lange nach.
Leseprobe Don Winslow - "Das Kartell"

Donald Ray Pollock – „Das Handwerk des Teufels“

Freitag, 19. Juni 2015

(Heyne, 303 S., Tb.)
Kaum haben die beiden Prediger Roy Laferty und dessen Cousin Theodore Daniels aus Topperville einmal den Gottesdienst in der kleinen Gemeinde Coal Creek geleitet, heiratet Roy wenig später die unscheinbare Helen und zieht mit ihr und dem an den Rollstuhl gefesselten Theodore nach Topperville. Roy glaubt nach einem Spinnenbiss, Tote zum Leben erwecken zu können, doch als er nach dem Mord an seiner Frau feststellen muss, dass sie nicht wieder lebendig wird, verscharren die Prediger ihre Leiche im Wald und lassen nichts mehr von sich hören.
1958 stirbt Willard Russells Frau Charlotte, nachdem Willard und sein Sohn Arvin in Knockemstiff an einem Gebetsbaum vergeblich immer neue Opfertiere angenagelt hatten und Willard sogar den Anwalt Henry Dunlap erschlug, um seine Frau und das Haus halten zu können, das dem Anwalt gehörte.
Als sein Vater sich die Kehle durchschneidet, wächst Arvin bei seiner Großmutter auf und kümmert sich um Lenora, Helens und Roys Tochter. Als sie vom ortsansässigen Prediger verführt wird und ein Kind erwartet, bringt sie sich aus Scham um und lässt Arvin das Gesetz selbst in die Hand nehmen. Derweil sind Carl und Sandy Henderson seit dem Sommer 1965 unterwegs, Tramper aufzugabeln und zu ermorden, indem Carl sich als Fotograf ausgibt und den Anhaltern in abgelegenen Gefilden anbietet, sich mit seiner Frau zu vergnügen, während er ein paar Fotos schießt. Sandys Bruder ist Lee Bodecker, der als Sheriff in Meade nicht nur die jüngsten Todesfälle zu untersuchen hat, sondern auch seine Schwester vor dem Tunichtgut Carl zu bewahren und die verschwundenen Prediger aufzufinden versucht.
„Es ärgerte den Sheriff maßlos, dass diese beiden verdammten Perversen in seinem County vielleicht einen Mord begangen hatten, für den er sie nicht belangen konnte; aus diesem Grunde wiederholte er immer wieder dieselbe alte Geschichte, dass aller Wahrscheinlichkeit nach derselbe Freak, der die Familie in Millersburg niedergemetzelt hatte, auch Roy und Theodore in Stücke gehackt oder ihre Leichen in den Greenbrier River geworfen habe. Er erzählte die Geschichte so oft, dass er sie manchmal schon selbst glaubte.“ (S. 124) 
Seiner Heimatstadt Knockemstiff, Ohio, hat der amerikanische Schriftsteller Donald Ray Pollock bereits in seinem gleichnamigen, 2008 veröffentlichten Debüt Tribut gezollt. Mit dem 2011 erschienenen Nachfolger „Das Handwerk des Teufels“, der 2012 zunächst bei der Verlagsbuchhandlung Liebeskind und zwei Jahre später als Taschenbuch bei Heyne Hardcore erschienen ist, hat er die sehr episodenhafte Erzählweise seines Erstlings aufgelockert und zu einem homogeneren Schreibstil gefunden, bei dem Pollock dichter an den Figuren und ihren abgründigen Schicksalen bleibt.
Von den ersten Seiten an geht es um das sprichwörtliche „Handwerk des Teufels“, um Korruption, religiösen Fanatismus, verbotene Leidenschaften und die verlogene Hoffnung auf Erlösung – sei es durch Gott, den Alkohol oder auch brutalen Mord. Dabei spinnt der Autor ein dichtes Netz, die die menschlichen Abgründe, auf die sich seine Protagonisten zubewegen, ohne Ausweg erscheinen lassen, und bedient sich einer wunderbar eindringlichen wie schnörkellosen Sprache, die den Leser unerbittlich am Untergang von Pollocks unheilvollen Figuren teilhaben lässt.
Leseprobe Donald Ray Pollock - "Das Handwerk des Teufels"

Don Winslow – „Satori“

Samstag, 13. Juni 2015

(Heyne, 596 S., Tb.)
Der junge CIA-Agent Nikolai Hel wird nach drei Jahren Einzelhaft, die er für den Mord an General Kishikawa in den tristen Mauern des Sugamo-Gefängnisses absitzen musste, 1951 in einem Vorort von Tokio auf freien Fuß gesetzt, muss im Gegenzug aber in einer geheimen Mission den sowjetischen Oberbevollmächtigten für Rotchina, Juri Woroschenin, umbringen. Da sich die USA mit China im Krieg befinden, soll Hel als französischer Waffenhändler getarnt einen Keil zwischen Peking und Moskau treiben, um einen undurchdringlichen kommunistischen Block zu vermeiden.
Die schöne Französin Solange bereitet Hel, der in Japan aufgewachsen ist und dort in einer Vielzahl von Kampfkünsten unterrichtet worden ist, auf die heikle Mission vor, beginnt aber auch eine leidenschaftliche Affäre mit ihrem Schützling, der den Auftrag nutzen will, um auch eine ganz persönliche Mission zu erledigen, nämlich Rache an den Männern zu nehmen, die ihm nicht nur die Freiheit nahmen, sondern auch folterten. Derweil spielen sich auch die CIA-Männer Haverford, Singleton und Diamond gegeneinander aus. Hel, auch ein Meister des Strategie-Spiels Go, muss sich immer wieder auf die Spielzüge konzentrieren, um seine Optionen abzuwägen und seine Mission erfolgreich zu Ende bringen zu können.
„Er wechselte die Paradigmen und stellte sich das Szenario als Go-Brett vor, setzte seine schwarzen Steine und spielte. Er begegnete den zu erwartenden Herausforderungen, aber ansonsten fiel ihm nichts weiter auf. Falls Woroschenin meine wahre Identität kennt und sich daran erinnert, wie er mit der Gräfin Alexandra Iwanowna umgesprungen ist, dann ist es gut möglich, dass ich in eine Falle tappe, aber das weiß ich schon und bin darauf vorbereitet.
Da ist noch etwas anderes.
Er wechselte wieder das Gedankenmodell und beschloss, mit den weißen Steinen gegen seine eigenen schwarzen anzutreten.
Es war eine Offenbarung.“ (S. 247) 
Dass im Heyne-Verlag ein Werk von Don Winslow, der eigentlich bei Suhrkamp und Knaur beheimatet ist, erscheint, mag zunächst überraschen, aber das Nachwort des Autors klärt die Zusammenhänge auf: 2011 erschien im Heyne-Verlag nämlich die Neuauflage des Klassikers „Shibumi“ des 2005 verstorbenen Schriftstellers Rodney William Whitaker, den er 1979 unter seinem Pseudonym Trevanian („Im Auftrag des Drachen“) veröffentlicht hat. Auf den Vorschlag seines Agenten verfasste Don Winslow nun mit „Satori“ die Vorgeschichte zu Trevanians internationalen Thriller-Erfolg.
Dabei gelingt es dem Bestseller-Autor („Tage der Toten“, „Zeit des Zorns“) meisterhaft, seine Leser in die asiatische Kultur der 1950er Jahre einzuführen und die internationalen Spionage-Aktivitäten der damaligen Zeit in einen ebenso exotisch gefärbten wie spannenden Plot zu packen, der zum Ende hin immer wieder interessante Wendungen nimmt.
Leseprobe Don Winslow - "Satori"